S C H I L L E R J A H R

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F R I E D R I C H   S C H I L L E R

Die Schillerfeste 2002:
Von Berlin bis Houston, und in Wiesbaden
trafen sich "Kassandra und Iphigenie"

An vielen Orten der Welt feiern Mitglieder des Schiller-Instituts jedes Jahr im November den Geburtstag des großen Dichters. Dies geschieht in ganz unterschiedlicher Form. Es folgen drei Beispiele.

Berlin: "... eine Grenze hat Tyrannenmacht"

Zur Feier in Berlin am 19.November zu Friedrich Schillers Geburtstag waren mehr als 60 begeisterte Teilnehmer gekommen - Studenten, Mitglieder und viele, die sich spontan entschlossen hatten, weil sie an den zahlreichen Informationsständen auf das Schiller-Institut gestoßen waren.

Helga Zepp-LaRouche, die Vorsitzende des Schiller-Instituts, führte die Zuhörer zunächst auf die große Bühne der Weltpolitik, um dann den Bogen zur historischen Parallele der Zeit zu schlagen, in der Schiller und seine Weimarer Freude lebten. "Soll Gott angesichts des Materialismus, der in der Welt herrscht, eine neue Arche Noah schicken, wie Tagore es einst forderte?" fragte sie. Schillers Antwort sei in seinen Ästhetischen Briefen nachzulesen, die er in der Erkenntnis schrieb, daß eine Veränderung in der Politik nur durch die Veredelung des Einzelnen zum "welthistorischen und erhabenen Individuum" möglich sei. Die Weimarer Klassik könne als Antwort auf die Politik Robespierres, Napoleons etc. verstanden werden. Frau Zepp-LaRouche erläuterte den Begriff des Klassischen, stellte die Prinzipien einer klassischen Komposition vor, und begründete, warum Schiller diese Prinzipien in seinem Werk am rigorosesten erfüllt hat.

In der anschließenden Diskussion ging es darum, was man angesichts der gegenwärtigen Krise tun könne, und wie im Verständnis von Schillers Begriff des "Erhabenen" und der "schönen Seele" zu intervenieren sei. Frau Zepp-LaRouche zitierte Beispiele aus Schillers Stücken Johanna von Orleans, Maria Stuart und Wilhelm Tell. Eine kleine Kostprobe des "Rütli-Schwurs" wurde von einer Gruppe deutsch-amerikanischer Studenten vorgetragen.

Die Diskussionen, die bis weit nach Mitternacht dauerten, wurden später auf einer Fahrt nach Weimar zur originalen Wirkungsstätte Schillers und Humboldts weitergeführt und durch ein Rezitationskonzert in den historischen Theaterräumen der Herzogin von Sachsen/Weimar/Eisenach, Anna Amalia, abgerundet.

Mainz-Wiesbaden: Die Antike - brandaktuell

"Kassandra traf Iphigenie" bei den Schillerfesten in Mainz und Wiesbaden. Im Mittelpunkt standen dabei die Fragen, wie der Mensch in den Lauf der Geschichte eingreifen kann und welche Rolle die Kunst dabei spielt. Vier Dichterpflänzchen sitzen etwas ratlos um den Tisch: "Um uns her nichts als Kriegsgeschrei. Wie soll man da seelenruhig Schillers Geburtstag feiern?" Da fällt ihnen Kassandra ein, "die Warnerin, auf die niemand hört", und Schillers wunderbares Gedicht. Und schon steht Kassandra leibhaftig auf der Bühne und spricht den Mittelteil des Gedichts als Monolog.

Es ist die Rede vom Trojanischen Krieg, wobei die Troerin Kassandra und die Griechin Iphigenie die gegnerischen Lager Gegner verkörpern und sich doch als Leidensgenossinnen, ja Freundinnen begegnen. Kassandra hatte den Untergang Trojas vorausgesagt, doch keiner hatte ihr geglaubt. Iphigenie war von ihrem eigenen Vater Agamemmnon der Göttin Artemis geopfert worden, um deren Gunst für die griechische Militärexpedition nach Troja zu erlangen.

Gewissermaßen als "Gäste" treten in dem von Gabriele Liebig komponierten Programm verschiedene historische Personen sowie Charaktere aus antiken Tragödien auf. Solon ist darunter und Nikias, der gegen seinen Willen zum Feldherrn der griechischen Militärexpedition gegen Sizilien ernannt worden war, die 413 v.Chr. in einem Fiasko endete. Euripides' Klytaimnestra aus Iphigenie in Aulis macht deutlich, daß sie den ganzen Feldzug nach Troja für verwerflich hält.

Kassandra und Iphigenie sprechen über menschliche Unzulänglichkeiten und wie man die Menschen dazu bringen kann, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Dabei ziehen sie auch den Prometheus des Aischylos zu Rate. Sie kommen mit Euripides und Goethe u.a. zu dem Schluß, daß an vielen angeblichen Bosheiten der Götter eigentlich die Menschen schuld sind, die ihnen solche Untaten andichten. Damit die Menschen dies endlich einsähen und fähig würden, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, "müssen wir die ganze Kultur ändern", resümiert Kassandra am Ende des ersten Teils.

Im zweiten Teil steht die Idee der Tragödie im Mittelpunkt. Gerade die antiken Tragödiendichter wollten die Kultur Griechenlands verändern und mit einer menschlicheren Kultur einer humaneren Politik den Weg ebnen. Ganz explizit wird das bei Euripides, der in seinen Stücken den Weg Athens zur imperialen Macht geißelte. In seinen Tragödien brachte er die Grausamkeiten, die die Griechen anderen Völkern antaten, schonungslos auf die Bühne und ließ seine griechischen Zuschauer mit der gepeinigten Andromache und der alten, am Boden zerstörten Hekabe weinen. Hier ging es nicht mehr um Freund oder Feind, hier ging es nur noch um den Menschen.

Das Publikum, das in Mainz wie in Wiesbaden wieder zahlreich erschienen war, zog schnell die Parallele zur aktuellen Lage. Belustigt bis verblüfft hörten sie, wie Iphigenie die Neumannsche Spieltheorie am Beispiel ihrer eigenen Geschichte, wie Goethe sie uns in seiner Iphigenie auf Tauris erzählt, bloßstellt. Daß die Antike so brandaktuell ist - wenn der griechische Geschichtsschreiber Thukydides die Auseinandersetzung zwischen dem Vertreter des Inselstaates Melos und dem Vertreter Athens, das Melos zum tributpflichtigen Vasallen machen will, beschreibt, glaubt man geradezu einem Schlagabtausch auf den Wandelgängen der UNO in New York beizuwohnen - das sorgte für einige Aufregung im Publikum und provozierte viele zu dem Vorsatz, sich wieder einmal in die antiken Werke zu vertiefen.

Houston: Freude an Schillers Ideen

Bei den diesjährigen Schiller-Geburtstagsfeiern im texanischen Houston am 17.November stand die lebendige Auseinandersetzung mit den Ideen Schillers im Vordergrund. Bei seiner Eröffnungsrede vor den etwa 50 Gästen ging Harley Schlanger am Beispiel von Schillers Drama Don Carlos vor allem darauf ein, wie man die eigenen geistigen und moralischen Qualitäten durch die Auseinandersetzung mit Schillers Freiheitsbegriff und sein Konzept der Universalgeschichte erweitern könne. Die Ausführungen wurden durch die Darstellung wichtiger Szenen aus dem Drama selbst illustriert. Viele Zuschauer, die dieses Werk noch nicht kannten, waren vor allem von der Szene schockiert, in der der Großinquisitor die Ermordung von Prinz Carlos durch den eigenen Vater, König Philip, gutheißt.

Nach dieser "dramatischen" Eröffnung labte man sich bei Speis' und Trank, um dann so gestärkt den Darbietungen des Chores zu lauschen, der Werke Mozarts, Bachs und einige Spirituals zu Gehör brachte. Zum Abschluß des Programms trug der Rezitationskreis Gedichte und Prosastücke vor. Neben einer Rede Lincolns, einem Sonnet Shakespeares und Gedichten von Keats und Shelley wurde auch Schillers Gedicht Die Teilung der Erde vorgetragen. Viele Gäste waren von der ganzen Atmosphäre begeistert. Eine Einwanderin aus Mexiko, die mit ihren beiden Kindern gekommen war, sagte: "Ich bin so froh, daß ich euch getroffen habe. Bis ich hierher kam, hatte ich praktisch keinen Zugang zu Kultur mehr."