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L E B T

F R I E D R I C H   S C H I L L E R
Äsop - einfach fabelhaft?  —  Äsopische Fabeln

Immer wieder stößt man auf geschichtliche Persönlichkeiten, die in aller Munde sind, über die man trotz ihrer enormen Wirkung sehr wenig weiß - und dieses wenige ist meist noch eine bunte Mischung aus Dichtung und Wahrheit. Der Grieche Äsop ist eine dieser Persönlichkeiten, und es kommt einem die auf Homer gemünzte Stilblüte in den Sinn: "Ob Homer gelebt hat, wissen wir nicht, aber daß er blind war, ist uns bekannt."

Von Äsop selbst ist keine einzige Zeile überliefert, aber er wird von zahlreichen Autoren erwähnt. Herodot berichtet im zweiten Buch seiner Geschichten und Geschichte über ihn, Aristophanes bezieht sich in seinen Komödien auf Fabeln, die Äsop zugeschrieben werden. Auch Platon erwähnt ihn im Phaidon: Sokrates habe versucht, im Gefängnis Äsops Fabeln in eine metrische Form zu bringen. Auch Plutarch kommt auf ihn zu sprechen.

Äsops Fabeln sind Gleichnisse, und die darin angesprochenen menschlichen Schwächen sind nie außergewöhnlich: Neid, Dummheit, Geiz, Eitelkeit usw. Stoffe und Figuren stammen aus dem Horizont der normalen Bevölkerung. Die Handlungsträger sind Tiere, Pflanzen, Götter oder bekannte Menschen der Zeit. Äsops Fabeln werten, urteilen und demaskieren zwar, vernichten oder verdammen aber nicht.

Stolpersteine der Überlieferung

1928 wurde in der New Yorker Pierpont Morgan Library ein sensationeller Fund gemacht: der Codex Cryptoferratensis, der bis 1789 in Grottaferrata bei Frascati (etwa 20 km südlich von Rom gelegen) aufbewahrt worden war und seitdem als verschollen galt. Dieser wiedergefundene Codex enthielt die bisher vollständigste und zuverlässigste Fassung des Werkes Leben und Fabeln Äsops, des sogenannten "Äsopromans", sowie die Fabeln, die auch in der Collectio Augustana enthalten sind. Diese "Augustana-Sammlung" entstand vermutlich in der römischen Kaiserzeit des 2. oder 3. Jh. n. Chr.

Nach Darstellung des Äsopromans wurde Äsop als Sohn unfreier Eltern in Phrygien geboren. Phrygien liegt im mittleren Teil Kleinasiens. Hier herrschten im 8. Jh. v. Chr. König Midas und später die Perser. Alexander der Große löste hier im Winter 334/333 v. Chr. auf seine Art den gordischen Knoten. Äsop war nach dieser Überlieferung zunächst stumm, erhielt als Dank für eine fromme Tat von der Göttin Isis die Sprechfähigkeit und von den Musen besondere Wortgewandtheit und Schlagfertigkeit. Er kam als Sklave auf Samos in den Dienst des Philosophen Xanthos, dem er viele Streiche spielte. Weil er seinen Herrn dreimal aus großer Gefahr rettete, schenkte dieser ihm die Freiheit. Andere erzählen, er habe die Bürger von Samos vor der Eroberung durch den Lyderkönig Kroisos gerettet, den er durch das Erzählen einer Fabel vom Angriff auf die Insel abhielt.

Später wurde Äsop Wesir des Königs Lykorgos von Babylon, den er mit kniffligen Rätseln erfreute. Andere berichten, er sei am Hofe des Kroisos mit Solon zusammengetroffen, und die Athener hätten später eine Äsopstatue gestiftet. Als Wanderer sei er in ganz Griechenland (mutmaßlich als Vertrauter des Kroisos in geheimer Mission) unterwegs gewesen und schließlich in Delphi gelandet, wo er mit seinen Geschichten Ärgernis erregte. Die Priester des Apollo-Heiligtums schoben ihm eine goldene Schale unter, "entlarvten" ihn als Tempeldieb und verurteilten ihn zum Tode durch den Sturz von einem hohen Felsen - soweit der Äsoproman.

Äsops Fabeln erhielten sich in Prosaform lange nur durch mündliche Überlieferung. Erst Demetrios von Phaleron um 300 v. Chr. soll eine Sammlung vorgenommen haben, die aber im 10. Jh. verloren ging. Die verschiedenen überlieferten Sammlungen Äsopischer Fabeln gehen vor allem auf die Sammlungen dreier Personen zurück:

Phädrus, ein unter Augustus Freigelassener und später für Tiberius tätig, war aber der erste, der in fünf Büchern Äsopische (und eigene) Fabeln veröffentlichte. Mit einigen Geschichten war er wohl dem einflußreichen Sejan (unter Tiberius Kommandant der Prätorianergarde und nach 27 n. Chr. Stellvertreter des Tiberius in Rom, als sich dieser nach Capri zurückgezogen hatte) zu nahe getreten. Sejan strengte ein Verfahren gegen ihn an, das Phädrus als "calamitas" (schwere Unannehmlichkeit) bezeichnet. Im Vorwort zum dritten Buch schreibt er: "Wo jener (Äsop) einen Pfad hatte, baute ich eine Straße und habe mehr Stoffe erdacht als jener hinterlassen hatte, obwohl manches, das ich erwählte, mich ins Unglück gestürzt hat."

Der zweite war Valerius Babrius (Ende 1./Anfang 2. Jh. n. Chr.), der zwei Bücher mit 200 Fabeln verfaßte, von denen 143 erhalten sind. Der dritte Sammler und Schreiber war Avianus, der wahrscheinlich Ende des 4. Jh. n. Chr. gelebt hat. Von ihm sind 42 Fabeln in lateinische Distichen überliefert. Als Quelle nennt er Phädrus und Babrius. Eine weitere Sammlung war das Fabelbuch ("Äsopus Latinus" oder "Romulus-Corpus") eines Autors, der sich fälschlich als Äsop ausgab. Diese 58 Fabeln sind Prosafassungen der Fabeln des Phädrus. Mit einer Ausnahme spielen in allen Fabeln dieses Pseudo-Äsop Tiere oder ein unbelebtes Wesen die zentrale Rolle. Und da sich die meisten Fabelsammlungen des Mittelalters und der Neuzeit an dieser Sammlung orientierten, verfestigte sich der Eindruck, in Fabeln seien vor allem Tiere die Protagonisten.

Die Erfindung des Buchdrucks förderte die Verbreitung der Fabeln, die es vorher nur in Handschriften gab. Unzählige Ausgaben der Äsop-Fabeln erschienen im Mittelalter, aber unerreicht blieb Heinrich Steinhöwels 1476 in Ulm erschienener Äsop, der wegen seiner 190 zauberhaften Holzschnitt-Illustrationen als "eines der schönsten deutschen Bücher aller Zeiten" gilt und einer der größten Bucherfolge der frühen Neuzeit wurde. Dieser "Ulmer Äsop" enthält alle damals bekannten Äsop-Fabeln.

Mahner und weiser Narr

Der historische Äsop muß eine Art Till Eulenspiegel oder weiser Narr gewesen sein. Als Narr kann man den Herrschenden wie den Menschen insgesamt leichter den Spiegel vorhalten; man hat sozusagen Narrenfreiheit. Als ein solcher Mahner sah sich übrigens auch Sokrates, der in der Verteidigungsrede warnt: "Wenn ihr mich hinrichtet, werdet ihr nicht leicht einen andern solchen finden, der ordentlich, sollte es auch lächerlich gesagt scheinen, von dem Gotte der Stadt beigegeben ist, wie einem großen und edlen Rosse, das aber eben seiner Größe wegen sich zur Trägheit neigt und der Anreizung durch den Sporn bedarf, wie mich der Gott dem Staate als einen solchen zugelegt zu haben scheint, der ich auch euch einzeln anzuregen, zu überreden und zu verweisen den ganzen Tag nicht aufhöre, überall euch anliegend. Ein anderer solcher nun wird euch nicht leicht wieder werden, ihr Männer... So viel jedoch bitte ich von ihnen: An meinen Söhnen, wenn sie erwachsen sind, nehmt eure Rache, ihr Männer, und quält sie ebenso, wie ich euch gequält habe, wenn euch dünkt, daß sie sich um Reichtum oder um sonst irgend etwas eher bemühen als um die Tugend: und wenn sie sich dünken, etwas zu sein, aber nichts sind, so verweiset es ihnen wie ich euch, daß sie nicht sorgen, wofür sie sollten, und sich einbilden, etwas zu sein, da sie doch nichts wert sind. Und wenn ihr das tut, werde ich Gerechtes von euch erfahren haben, ich selbst und meine Söhne."

Aber es gibt noch weitere Aspekte, die ich nur kurz streifen will. Die griechischen Begriffe, mit denen im Epimythion, dem Nachwort, das den Sinn der Fabel noch einmal für alle zusammenfaßt, die Fabel bezeichnet wird, lauten ganz verschieden "logos", "mythos" oder "ainos". Alle diese Begriffe haben etwas mit Erzählen zu tun, reichen aber auch weit darüber hinaus. Gerade der Begriff "Logos", der neben Rede, Sinn, Bedeutung, auch den "tieferen Sinn" und den "wahren Satz" bezeichnet, verweist darauf, daß die Fabel, zu der ganz wesentlich auch das Element des Witzes gehört, auf Wahrheit hinzielt.

Ein anderer Aspekt betrifft die Mündlichkeit der damaligen kulturellen Überlieferung. Daß Aristophanes ohne große Erklärungen inhaltliche Anspielungen auf Äsop machen konnte, die auch verstanden wurden, zeigt die tiefe Verankerung in der Bevölkerung. Es gab praktisch vorhandene Motive und Charakterisierungen (Wolf, Löwe = herrschaftlich, böse oder Lamm = unschuldig, hilflos), aus denen man sich bediente. In anderer Hinsicht als das Epos waren die Fabeln Teil einer Volkskultur, die auch die Diskussion über grundlegende Werte und Einstellungen beinhaltete.

Tillmann Müchler

Äsopische Fabeln

Des Esels Schatten

Der Politiker Demosthenes versuchte einmal, zur athenischen Volksversammlung zu sprechen. Man wollte ihn aber nicht zu Wort kommen lassen; da sagte er, er wolle ihnen nur kurz etwas sagen. Man schwieg still, da sprach er: "Ein junger Mann mietete einmal im Sommer einen Esel für die Strecke Athen-Megara, wobei der Eseltreiber mitging. Als nun am Mittag die Sonne sehr heiß war, wollten sich beide in den Schatten des Esels setzen, aber jeder verwehrte es dem anderen: Der Vermieter sagte, er habe den Esel, aber nicht dessen Schatten vermietet, der Mieter aber behauptete, ihm stehe alles zu." Nach diesen Worten trat Demosthenes ab. Die Athener waren gespannt und baten ihn, doch zu sagen, wie die Geschichte ausgegangen sei; da sprach er: "Von eines Esels Schatten wollt ihr hören, aber nicht von ernsten Angelegenheiten?"

Der Astrologe

Ein Astrologe hatte die Angewohnheit, jeden Abend hinauszugehen und die Sterne zu betrachten. Als er nun einmal bis in die Vorstadt kam und sich dabei nur auf den Himmel konzentrierte, fiel er unversehens in einen Brunnen. Da jammerte und schrie er nun, und als jemand vorbeikam und sein Stöhnen vernahm, lief der zu ihm hin und hörte, was vorgefallen war. Darauf sagte er: "Ach je, du versuchst, was im Himmel ist, zu sehen, was aber auf der Erde ist, das siehst du nicht?"

Diese Geschichte könnte auf die Menschen passen, die mit ihrem Ruhm prahlen und dabei nicht einmal die allgemeinen menschlichen Dinge zustande bringen.

Der Alte und der Tod

Ein alter Mann schlug einmal Holz und trug es einen langen Weg zurück. Ganz entkräftet legte er seine Last ab und wünschte sich den Tod herbei. Als der Tod erschien und fragte, aus welchem Grund er ihn herbeigerufen habe, sagte der Alte: "Damit du mir meine Last auf den Rücken legst!"

Die Fabel zeigt, daß jeder Mensch sein Leben liebt, auch wenn er unglücklich ist.

Der Bauer und seine Kinder

Ein Bauer lag im Sterben und wollte seinen Söhnen noch Kenntnis in der Landwirtschaft beibringen. Er rief sie also zusammen und sprach: "Meine Kinder, in einem meiner Weinberge liegt ein Schatz!" Die nun nahmen nach seinem Tod Schaufeln und Hacken und gruben ihren ganzen Weinberg um. Den Schatz fanden sie nicht, der Weinstock gab ihnen dafür aber vielfachen Ertrag zurück.

Die Geschichte zeigt, daß die Mühe ein Schatz für die Menschen ist.

Der alternde Löwe und die Füchsin

Ein Löwe war alt geworden. Und da er sich sein Fressen nicht mehr aus eigener Kraft verschaffen konnte, beschloß er, er müsse es mit List tun. Er kam nun in eine Höhle, lagerte dort und spielte krank. Und so packte er die Tiere, die ihn besuchen kamen, und fraß sie. Er hatte schon viele Tiere verschlungen, da kam eine Füchsin, die seine List durchschaute, zu ihm. Sie blieb in einiger Entfernung von der Höhle stehen und fragte, wie es ihm gehe. Er antwortete: "Schlecht." Und als er nach dem Grund fragte, warum sie nicht hereinkomme, sagte sie: "Ich würde schon hereinkommen, wenn ich nicht die Spuren von vielen sähe, die hineingegangen sind, von keinen aber, die herausgekommen sind."

Ebenso vermeiden kluge Menschen Gefahren, indem sie auf gewisse Zeichen achten und sich vorsehen.

Der Wolf und das Lamm

Ein Wolf sah, wie ein Lamm aus einem Fluß trank, und wollte es unter einem guten Vorwand auffressen. Deshalb stellte er sich flußaufwärts hin und warf ihm vor, es mache das Wasser schlammig und lasse ihn nicht trinken. Das Lamm antwortete, es trinke nur mit gespitzten Lippen und es sei überhaupt nicht möglich, von unten her das Wasser oben aufzuwühlen. Da der Wolf mit diesem Vorwand also nicht durchkam, sagte er: "Aber im letzten Jahr hast du schlecht über meinen Vater geredet." Als das Lamm antwortete, es sei noch nicht einmal ein Jahr alt, sagte der Wolf: "Wenn du auch immer Entschuldigungen hast, soll ich dich deshalb nicht auffressen?"

Die Fabel zeigt, daß bei denen, die fest vorhaben, Unrecht zu tun, auch eine triftige Entschuldigung nichts gilt.

Die Frösche wollten einen König

Als noch Demokratie florierte in Athen,
entartete die Freiheit, und die alte Zucht
ward abgeschafft und wich der frechen Anarchie.
Parteiung und Verschwörung griff um sich, bis daß
Tyrann Pisistratus die Burg der Stadt besetzt'.
Ob trauriger Verknechtung weinte ganz Athen;
zwar grausam war der Herrscher nicht, doch fällt es schwer,
muß ungewohnte Last man tragen. Also murrten sie.
Aesop hat ihnen diese Fabel drauf erzählt.
Die Frösche, als sie frei noch schweiften durch den Sumpf,
erbaten einen König sich vom hohen Zeus,
daß er mit Nachdruck wieder herstell' die Moral.
Es lächelte der Götter Vater und verlieh
ein kleines Holzscheit ihnen, das hinab er warf.
Das laute Klatschen füllt das feige Volk mit Furcht.
So lag's im Schlamm versunken lange Zeit,
bis heimlich aus dem Sumpf ein Frosch sein Haupt erhob,
durchschaute, wie es mit dem König stand, und rief
zuhauf die andern alle. Von der Angst befreit
schwamm alles um die Wette, hüpfte höhnisch auf
den Balken und beschimpfte ihn auf alle Art.
Drauf schickten wiederum Gesandte sie zu Zeus
um einen König, denn der erste taugte nichts.
Da schickt' er ihnen eine Wasserschlange, die
mit scharfem Zahn sie einen nach dem anderen fraß.
zu langsam waren sie, den Tod zu fliehn, und Angst
verschlug die Stimme ihnen. Heimlich baten sie Merkur,
Zeus anzuflehn, zu steuern ihrer Not.
Der sprach: "Da ihr das Gute, das ihr hattet, nicht
gewollt, ertragt dies Übel." - "Ihr auch, Bürger, schloß
Äsop, das Übel duldet, daß nicht Schlimmres kommt."


(Diese Äsop zugeschriebene Fabel stammt aus dem ersten Buch der Fabelsammlung des Phädrus, die aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert stammt.)


Alle Übersetzungen außer der ersten und der letzten Fabel stammen aus Äsop: Fabeln (Griechisch/Deutsch), übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Thomas Voskuhl, RUB 18297, Stuttgart 2005. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Die erste und die letzte Fabel werden nach Fabeln der Antike, herausgegeben und übersetzt von Harry C. Schnur und überarbeitet von Erich Keller, Düsseldorf/Zürich 1997, zitiert.

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