S C H I L L E R

L E B T

F R I E D R I C H   S C H I L L E R
Äsopische Fabeln II  —  Lessings Blick auf Fabeln

Schiffer und Meer

Ein Schiffer, irgendwo auf den Strand geworfen, schlief vor Ermüdung ein. Nach einer Weile stand er auf, schaute auf die See und machte ihr Vorwürfe: Sie locke die Menschen durch ihr schönes Antlitz, aber sobald sie sie in Empfang genommen, werde sie wild und bringe sie um. Die See aber, in Gestalt eines Weibes, sprach zu ihm: "Mensch, schilt nicht mich, sondern die Winde; denn von Natur bin ich ebenso wie das Land, die Winde aber stürzen sich auf mich und wühlen mich in wilden Wogen auf."

So sollen wir, geschieht Unrecht, nicht die Täter anklagen, wenn diese anderen untertänig sind, sondern ihren Oberen.

Pferd und Hirsch

Als die Bürger von Himera den Phalaris zum absoluten Führer erwählt hatten und im Begriff waren, ihm eine Leibgarde beizugeben, erzählte ihnen Stesichoros unter anderem die folgende Fabel: Ein Pferd hatte eine Wiese für sich allein; da kam ein Hirsch und fraß die Weide ab. Das Pferd wollte den Hirsch strafen und fragte den Menschen, ob er mit ihm zusammen den Hirsch züchtigen könnte. Der sprach: "Wenn du einen Zaum annimmst und mich mit meinen Geschossen aufsteigen läßt." Als das Pferd einwilligte und der Mensch es bestieg, mußte das Pferd, statt sich am Hirsch zu rächen, dem Menschen zu Diensten sein.

"So seht auch ihr drum zu", sprach Stesichoros, "daß es euch, während ihr euch an euren Feinden rächen wollt, nicht ebenso ergeht wie dem Pferde. Den Zaum habt ihr schon an, da ihr euch einen Generalissimus erwählt habt; wenn ihr ihm noch eine Leibgarde gebt und damit in den Sattel steigen läßt, werdet ihr zu Knechten des Phalaris."

Löwe und Eber

Zur Sommerzeit, da die Hitze einen Durst leiden läßt, kamen ein Löwe und ein Eber (gleichzeitig) zu einem kleinen Quell, um daraus zu trinken. Sie stritten darum, wer zuerst trinken sollte, und darüber kam es zwischen ihnen zum Kampf auf Leben und Tod. Als sie voneinander abließen, um sich zu verschnaufen, sahen sie plötzlich, wie Aasgeier dasaßen und warteten, welcher von ihnen wohl fiele, um ihn dann zu fressen. Da gaben sie ihren Zwist auf und sprachen: "Besser, daß wir Freunde werden als Futter für Geier und Raben."

So ist es schön, Streit und Zwist beizulegen, wenn sie schließlich Gefahr für alle mit sich bringen.

Der Kranke und sein Arzt

Ein Arzt fragte seinen Patienten, wie es ihm ginge. Der erwiderte: "Ich leide an übermäßigem Schweiß." - "Das ist ein gutes Zeichen", sagte der Arzt. Wiederum fragte er den Kranken nach seinem Ergehen. "Ich habe heftigen Schüttelfrost", sagte der. "Auch das ist ein gutes Zeichen", sprach der Arzt. Als er den Kranken zum dritten Mal befragte, sagte er, jetzt habe ihn die Wassersucht befallen. Auch dies bezeichnete der Arzt wiederum als ein gutes Zeichen.

Als nun ein Freund den Kranken fragte, wie es ihm ginge, sagte der: "Mein Lieber, an lauter guten Symptomen verrecke ich."

Die Fabel lehrt, daß uns die Leute am meisten zuwider sind, die uns immer etwas Angenehmes sagen wollen.


Alle Fabel werden zitiert nach Fabeln der Antike, herausgegeben und übersetzt von Harry C. Schnur und überarbeitet von Erich Keller, Düsseldorf/Zürich 1997.

Zur Übersicht der Ausgrabungen