S C H I L L E R

L E B T

F R I E D R I C H   S C H I L L E R
Aischylos: Die Orestie  — 
Auszüge: Agamemnons Schuld
, Athenas Rede an das Volk

Bei dem alljährlichen Theaterfest in Athen, den Großen Dionysien, wurden an drei Tagen hintereinander jeweils drei Tragödien und abends noch ein Satyrspiel aufgeführt, die alle von jeweils einem Dichter extra für diesen Wettstreit geschrieben und inszeniert wurden. Aischylos erfand nicht nur die Tragödie, er war auch der erste, der die drei Stücke zu einer großen inhaltlichen Einheit, der sogenannten Inhaltstrilogie, nimmt man das Satyrspiel hinzu, sogar zu einer Tetralogie zusammenschloß. Diese gewaltige Bauform gestattete dem Dichter, über einzelne Geschehnisse hinauszugreifen und deren große Zusammenhänge, die erst den ganzen Sinn der Ereignisse erschließen lassen, darzustellen. Leider ist uns nur eine einzige Trilogie erhalten geblieben - die Orestie.

Die Orestie

Goethe nannte die Orestie das "Kunstwerk aller Kunstwerke". Sie besteht aus den drei Tragödien Agamemnon, Grabesspenderinnen (Choephoren) und Eumeniden; das Satyrspiel Proteus ist verloren. Die Orestie wurde 458 v.Chr. aufgeführt, und Aischylos gewann den ersten Preis. Die Bühne bot einen neuen Anblick: Aischylos übernahm vom jungen Sophokles den dritten Schauspieler und die feste Szenenwand, auf die man die verschiedenen Handlungsorte malen konnte.

Im Königspalast von Argos harrt man auf Nachricht, wie der Kampf um Troia ausgegangen sei. Schon im ersten Chorlied der argivischen Greise klingt das Leitmotiv dieser Trilogie an - die Frage nach Schuld und Sühne. Ein schwerer Fluch lastet auf dem Königshaus, dessen Herrscher seit Tantalos durch immer neue Greueltaten immer größere Schuld anhäuften. Agamemnon lädt zusätzliche Schuld auf sein Geschlecht, indem er unter dem Druck der anderen Heerführer seine Tochter Iphigenie der Göttin Artemis opfert, um günstigen Wind zum Auslaufen der Flotte nach Troia zu erwirken. Agamemnon hatte sich gegen diese Untat aufgebäumt, aber schließlich, so erzählt uns der Chor, beugt er sich dem äußeren Zwang und richtet den Sinn auf das Verbrechen. Ehre und Ruhm sind ihm wichtiger als Vaterliebe und Gerechtigkeit.


    Als er vom Zwang unterjocht sich beugte, -
    Die Brust ihm aufbrandend ungeheuren
    Entschlusses - gottlos, heillos - da
    Ergriff es ihn, alles nun zu wagen.
    So frevelkühn macht ein erstes, arges
    Verirren, sinneverstört, Jammers Urquell!
    Er trug's nun, die Hand zu legen
    An das eigne Kind, - zu frommen
    Weibrächender Meerfahrt, -
    Opfer der Schiffsweihe!
    (Agamemnon V. 218 - 226)

So schmiedet er selbst ein weiteres Glied der Kette von Schuld und Sühne: Iphigenie ist geopfert, die Flotte kann gegen Troia fahren, aber Klytaimestras Haß und Rachegelüste wurden geweckt und erwarten den Heimkehrenden. Der Geschlechterfluch, der auf dem Haus der Atriden lastet, ist kein Urteil der Götter, er muß durch immer neue Schuld genährt werden, denn keine noch so große schicksalhafte Not nimmt dem Menschen die persönliche Verantwortung für sein Handeln. Hält er an der unseligen Tradition fest, wird er selber untergehen.

Agamemnon kehrt heim, nicht wie ein Sieger, wie ein Geschlagener steht er vor seiner eigenen Tat: "Für ein Weib der Untergang des ganzen Volkes". Klytaimestra, Agamemnons Gattin und Mutter Iphigenies, heißt ihn mit geheuchelter Freude willkommen und lockt ihn ins Haus, wo sie ihn und Kassandra erschlagen wird. Kassandra, Priamos' Tochter, ist als Sklavin Agamemnon gefolgt. In einem phantastischen Zwiegespräch mit dem Chor enthüllt sie die fluchbeladene Geschichte der Atriden, angefangen mit Atreus, der die Kinder seines Bruders schlachtete und sie ihm zum Mal vorsetzte. Sie kündet Agamemnons Ermordung durch Klytaimestra und ihren Buhlen Aigisthos an, dann wird sie selbst fallen durch dasselbe Beil.

Der Chor durchlebt die verschiedensten Gemütszustände: Entsetzen und Abscheu über die von Kassandra geschilderten Greueltaten der Atriden, Mitleid mit der schwer geprüften Kassandra und Unverständnis gegenüber ihren Voraussagen neuer Blutschuld. So ungeheuer scheint dem Chor das angekündigte Verbrechen, daß er wie gelähmt dasteht, bis die Tat vollbracht ist, statt einzugreifen und den Doppelmord zu verhindern. Als der Chor ihr diese Untat vorhält, dämmert es Klytaimestra, daß sie soeben die furchtbare Kette von Verbrechen, die das Atridenhaus umschließt, um ein neues Glied erweiterte. Auch die neue Greueltat ist der verhängnisvollen Verkettung von Schicksal und Willen zuzuschreiben. Der Dämon, der die menschliche Leidenschaft entfacht, führte ihr die Hand dabei.

Im zweiten Stück, den Choephoren, kehrt Agamemnons Sohn Orest aus der Fremde heim. Rein ist sein Herz, aber er wird durch Apollons Gebot, den Vater zu rächen, in den Bann des Atridenfluches geschlagen. Der bewegende Gesang am Grabe Agamemnons zwischen Orest und seiner Schwester Elektra, die von ihrer Mutter zur Magd erniedrigt wurde,


         ... mich schob man beiseite
    Entehrt, verfemt, wie vogelfrei!
    Fernab vom Herde, ausgesperrt wie ein böser Hund ...
    (Choephoren V. 445 - 447)

wecken Rachegefühle in Orest. Apollons Auftrag, die Mutter zu ermorden, wird sein eigener Vorsatz, für den er selbst einstehen will: "Büßen soll sie jetzt ... Ist das vollbracht, gern dann will ich sterben."

Der Sohn sühnt den Doppelmord der Mutter mit einem Doppelmord an der Mutter und deren Liebhaber, der Geschlechterfluch scheint sich ewig zu erneuern. Während der Mörder noch hilflos seine Tat rechtfertigt, steigen die grauenhaften Rachegöttinnen, die Erinyen, auf; von Wahnsinn gepeitscht stürmt er davon.

Am Anfang des dritten Stückes, den Eumeniden, hat Orest in Apollons Heiligtum in Delphi Zuflucht gefunden, umlagert von den Erinyen. Apollon rät ihm, nach Athen zu gehen, wo Athena seine Tat richten wird. Die damals gängige Auffassung, daß Menschenblut durch Tierblut abgewaschen werde, genügt Aischylos nicht mehr, er sucht eine vernunftgemäße Lösung des Konflikts. Athena will den Streit zwischen den Parteien nicht durch göttlichen Spruch entscheiden; die Menschen sollen selbst Gericht über sich sitzen. Sie gründet auf dem Areopag, der Stätte, an der magische Reinigungsriten durchgeführt wurden, einen Blutgerichtshof, an dem weise Männer dieser Stadt nach ihrer Satzung Recht sprechen sollen: Das Heil des Menschen ist ihm selbst aufgegeben, nicht den Göttern.

Beim Prozeß stoßen die unterschiedlichen Rechtsauffassungen der alten und der neuen Ordnung gegeneinander. Die Erinyen gehören zu den alten, erdgebundenen Göttern, sie vertreten das Matriarchat und wachen über das Band zwischen Mutter und Kind; sie wollen den Muttermord gesühnt sehen. Apollon repräsentiert die neue Generation der Olympischen Götter und ihre rationale, an den Naturgesetzen orientierte Ordnung; er befahl den Muttermord als Sühne für den Gatten- und Königsmord Klytaimestras. Die Haltung beider Seiten läuft auf die Fortsetzung der Blutrache hinaus, die seit Generationen im Geschlecht der Atriden wütet. Orest ist das Musterbeispiel für den unschuldig Schuldigen: Er ist Sohn und Erbe des Vaters und zugleich auch der Abkömmling der Mutter, er kann keiner Seite gerecht werden. Das Schlachtfeld, auf dem sich die Götter bekriegen, verlegt der Dichter in das Herz des Menschen Orest.

Der Areopag spricht Orest mit der Stimme Athenas frei, der Geschlechterfluch ist aufgehoben. Doch die Erinyen sehen sich durch das Urteil gedemütigt und drohen, Unheil über das Land zu bringen. Athena will sie jedoch in der Stadt ansiedeln:


    ... Ach die Menschen!
    Manchmal auch dient zu ihrem Heil die Furcht,
    Und ein Herzenshüter muß
    Bleiben stets; Zucht in Tränen lernen frommt.
    Wer, in dessen Seele nicht
    Weilt und wirket rechte Furcht,
    Sei's ein Mensch, ein Volk, ein Staat,
    Scheut aus eignem Trieb das Recht?
    (Eumeniden V. 516 - 522)

Sie stiftet einen neuen Kult, der die Erinyen als Eumeniden, als Segensbringerinnen, verehrt. Nunmehr wachen die einstigen Rachegöttinnen über das Wohlergehen der Gemeinschaft.

Aischylos' Auffassung, daß das Recht mehr als ein System fester Regeln sei, über das die Götter wachten, war für die Griechen neu. Er stellte den Athenern seine dynamische Rechtsauffassung als eine Kraft vor, die sich immer wieder neuen Ordnungen anpassen muß und deshalb auch dem Menschen ausweglos erscheinende Konflikte lösen kann. Das zeigt sich im Falle Orests, der zwischen den gegensätzlichen Anforderungen, die die Erinyen und Apollon an ihn stellen, ohne daß sie ihn von seiner sittlichen Verantwortung entbinden, zermalmt wird. Die Rachegöttinnen, deren veraltete Rechtsauffassung verworfen wird, werden aber in die neue, höhere Ordnung integriert.

Gerechtigkeit, so zeigt Aischylos, kann weder von Macht und Herrschaft sowie der Tradition in der Rechts- und Religionsauffassung noch von den aktuellen Forderungen und Nöten der Bürger abgeleitet werden. Gerechtigkeit bedeutet vielmehr, aus dem Althergebrachten und den neu entstandenen Konflikten eine neue Verfassung zu finden. Der Dichter läßt diese neue Rechtsordnung von der Bühne herab durch Athena dem Volk Athens verkünden:


    "Hört meine Satzung, Männer, Volk von Attika."
    (V. 681)

Heute wird den griechischen Tragikern oft der Vorwurf gemacht, der Mensch sei für sie nur Spielball der Götter. Das zeigt jedoch nur, wie flüchtig wir lesen, wie oberflächlich wir denken, wie leichtfertig wir urteilen. Nirgendwo finden wir bei Aischylos oder seinen großen Nachfolgern ein geschlossenes Weltbild, wonach der tragische Untergang des Helden unabwendbar und damit sein Ringen letztendlich sinnlos wäre. Vielmehr glaubt Aischylos an eine große gerechte Ordnung der Welt, die durch das Tun und Leiden des Menschen immer wieder neu verwirklicht wird. Das Leiden des schuldigen Menschen soll uns diese Ordnung erkennen und respektieren lassen, "weil durch Leid wir lernen".

Die Tragödien, die bei den Großen Dionysien gespielt wurden, waren kein Kunstgenuß für eine Elite, das gesamte Volk Athens saß im Theater und verfolgte gespannt die Auseinandersetzungen über philosophische und politische Grundfragen. Der Dichter wurde zum Lehrer des Volkes, das Theater zur Schule von Athen. Aischylos war zusammen mit seinem jüngeren Zeitgenossen Sophokles ihr genialster und geistig vornehmster Lehrer.

Rosa Tennenbaum



Agamemnons Schuld

Aus Aischylos, Agamemnon V. 205-217, 223-224 und 228-246

Der Chor argivischer Greise schildert die jüngste Bluttat im Haus der Atriden: Die griechische Flotte will gegen Troia ausfahren, doch es herrscht seit Wochen vollkommene Windstille. Das werde sich nur ändern, so deutet der Seher Kalchas die Zeichen, wenn Agamemnon, der Heerführer der Griechen, seine Tochter Iphigenie der Göttin Artemis opfere. Mit einer Rebellion des Heeres konfrontiert, ringt Agamemnon mit sich:

    Da also sprach dieses Wort der Ältere:
    "Es lastet schwer, wag' ich, nicht zu folgen, -
    Schwer, daß mein Kind
    Dem Tod ich weihn, meines Hauses Kleinod,
    Am Altar diese Hand besudeln soll,
    Die Vaterhand, durch der Tochter Opferblut!
    Wo ist da Unheil nicht!
    Soll ich, ein Flüchtling, heimziehn,
    Bündnis und Macht verscherzend?
    Wenn sie das windstille Sühn-
    Opfer, das jungfräuliche Blut
    Grollend mit Macht fordern, -
    Recht ist's! So bringt es Heil uns!"

    ... Er trug's nun, die Hand zu legen
    An das eigene Kind, ...

    Ihr Bitten nicht, nicht ihr Vaterrufen,
    Nicht ihre jungfräuliche süße Jugend
    Erbarmte des Feldherrn wilden Mut.
    Der Vater sprach sein Gebet, gebot dann
    Dem Opferknecht, einer Ziege gleich sie
    Zu heben auf den Altar, tuchumfaltet
    Sie vorbeugend - festen Mutes -
    Und den schönen Mund zu hüten,
    Daß nicht er zum Fluchschrei
    Wider das Haus sich öffne; -

    Mit harter Faust, knebeltief zugeschnürt!
    Und als hinabfloß des Kleides Safran,
    Da warf den Pfeil ihres Blicks sie
    Auf jeden ihrer Opferer flehend, -
    Gleich einem Bild schön und stumm, als wollte sie
    Anreden, die oft sie sonst
    Begrüßt im mahlreichen Saal des Vaters,
    Wenn mädchenhaft frommen Munds Preis und Heil feierlich
    Beim Spendenguß einst sie sang,
    Im Paian1 den lieben Vater ehrend.


    (1) Paian ist ein Lob- und Bittgesang.



Athenas Rede an das Volk

Aus Aischylos, Eumeniden V. 681-685 und 690-710

Apollon, Orest und die Erinyen klagen sich gegenseitig wegen des Mordes an Klytaimestra an, doch Athena will nicht Kraft ihres göttlichen Amtes entscheiden; sie weist den Fall zurück an die Menschen. Sie gründet eine neue Institution, einen Blutgerichtshof, der über solche Fälle entscheiden soll:

    Athena:
    Hört meine Satzung, Männer, Volk von Attika,
    Der ersten Klage Richter um vergossen Blut!
    Es soll des Aigeus Bürgern dieses Tribunal
    Für alle Zukunft fürder bleiben und bestehn;
    Denn dieser Felsenhügel ...
          - es wird geknüpft
    An ihn des Volkes Ehrfurcht und die Schwester Furcht;
    Dem Frevel wehren beide nächtens und am Tag,
    Wenn nicht die Bürger selber neuern mein Gesetz
    Mit schlechtem Zuguß. Doch so du den klaren Quell
    Mit Schlamm verunreinst, labt er nicht dich Durst'gen mehr.
    Nicht unregiert und nicht gewaltbeherrscht zu sein,
    Das sei dem Volk, fürsorgend rat' ich's, hoch und wert!
    Und nicht verbannt, was Angst macht, aus der Stadt!
    Denn welcher Mensch bleibt, wenn er nichts mehr scheut, gerecht?
    Wenn solcher Ehrfurcht frommen Sinn ihr redlich hegt,
    Ein rechtes Bollwerk für dies Land, ein Heil des Staats,
    So wie's der Menschen keiner hat, der Skythe nicht
    Noch auch des Pelops nahe Landschaft, habt dann ihr
    In diesem Rate, unbestechlich, ehrenhaft,
    Dem Frevel zornig, wie ich ihn bestellet hab'
    Zur immer wachen Hut im Land, wenn alles schläft.
    Nach dieser Weisung, die für alle Zeit hinaus
    Gegeben meinem Volke sei, erhebet euch,
    Nehmt euren Stimmstein und entscheidet diesen Streit,
    Des Schwurs in Ehrfurcht denkend! Alles wißt ihr nun.


Übersetzung: Johann Gustav Droysen
Quelle: Dichtung der Antike, Bd. 3, Aischylos' Tragödien, Standard-Verlag, Hamburg 1957

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