S C H I L L E R

L E B T

F R I E D R I C H   S C H I L L E R
Alkman
Dichter und Komponist, zweite Hälfte des 7. vorchristlichen Jahrhunderts.

Die gewaltigen, zehntausende Verse umfassenden Werke Homers und Hesiods, von denen wir in den letzten Ausgaben Beispiele gebracht haben, sind Beginn und zugleich unübertroffener Höhepunkt epischer griechischer und europäischer Dichtung.

Im darauffolgenden 7. Jh. v. Chr. hat sich die griechische Musik und Dichtung in anderen Gattungen weiter entfaltet: im Lied- und Chorgesang. Die ältesten Zeugnisse, die wir vom griechischen Chorgesang haben, kommen aus Sparta. In der langen Friedenszeit nach dem ersten Messenischen Krieg (735-715 v.Chr.) war Sparta noch nicht der sprichwörtlich karge, rücksichtslos und einseitig auf militärische Disziplin ausgerichtete Zwangsstaat, als der er der Nachwelt aufgrund der Berichte viel späterer griechischer Schriftsteller (Xenophon, Aristoteles, Plutarch) im Gedächtnis geblieben ist. Die Umformung der archaischen, weltoffenen und musisch interessierten spartanischen Bürgerschaft in eine abgeschottete, kulturlose Militärdiktatur, die Schiller in seiner Vorlesung über Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon (1790) als verwerfliches Beispiel verfehlter Staatskunst vor Augen hatte, setzte mit dem zweiten Messenischen Krieg (um 620 v.Chr.) ein, der Sparta zunächst an den Rand des Untergangs und am Ende in die Stellung einer siegreichen, aber stets gefährdeten griechischen Großmacht brachte.

In der ersten Hälfte des 7. Jh. v. Chr. sind zahlreiche Dichter und Musiker von der ionischen Küste, aus Lesbos und Kreta, nach Sparta gezogen und dort als angesehene Bürger seßhaft geworden. Einer der ersten bekannten Künstler, der sich in Sparta niederließ, war der Komponist Terpander, der als Erfinder der siebensaitigen Kithara und Begründer der griechischen Tonkunst in die Musikgeschichte eingegangen ist. Terpander hat den kunstvollen Chorgesang in dorischer Tonart und dorischer Sprache etabliert. Das dorische Griechisch blieb nach ihm für alle Zeiten die geltende Sprachnorm des griechischen Chorgesangs, selbst in den attischen Tragödien. Terpander und Thaletas aus Kreta waren es wohl auch, die das in Sparta bestehende staatliche Schulwesen und öffentliche Musikleben durch die Einführung neuer Instrumente und prunkvoller Kompositionstechniken zur Blüte brachten.

Alkman folgte ihnen nach. Er war als Textdichter und Komponist für die Herstellung neuer Chorlieder zuständig, die in den Schulen, bei Wettbewerben, bei Volksfesten und religiösen Feiern gesungen und getanzt wurden. Daneben hat er auch Kunstlieder für Einzelstimmen geschaffen. Die von alexandrinischen Philologen im 3. Jh. v. Chr. zusammengestellte Sammlung seiner Werke umfaßte sechs Bücher. Die beiden ersten Bücher enthielten Gesänge für Mädchenchöre, für deren kunstvolle und anmutige Einrichtung er besonders berühmt war. Alkman starb als alter Mann hochangesehen in Sparta und erhielt dort ein Ehrengrab in der Nähe des Helena-Heiligtums. Sein Ruhm reichte über Sparta hinaus. Die alexandrinischen Philologen des 3. Jh. v. Chr. nahmen ihn als den ersten und ältesten Lieddichter in ihren Kanon der neun klassischen Lyriker auf (neben Stesichoros, Ibykos, Simonides, Bakchylides, Pindar, Alkaios, Sappho und Anakreon).

In nachhellenistischer Zeit ist sein Werk verlorengegangen. In der Neuzeit waren nur noch wenige Verse in etwa 150 Fragmenten, meist Zitate in Schriften hellenistischer Schriftsteller, bekannt. Das änderte sich im Jahr 1855, als in einem ägyptischen Grab in Saqqara unter anderen Schriften ein größeres Papyrusfragment mit 66 lesbaren Versen eines alkmanischen Partheneions, eines Liedes für ein oder zwei Mädchenchöre, gefunden wurde. Der Papyrus befindet sich heute im Musée du Louvre. In seinem Großen Partheneion zeigt sich Alkman, wie schon in den bisher bekannten Fragmenten, als liebenswürdiger Chorführer, der seinen jungen Sängerinnen ausgiebig Gelegenheit gibt, nicht nur die Göttin (Artemis Orthia) zu feiern, der sie in nächtlicher Feier ein Festgewand überbringen, sondern auch ihn, ihre Lehrerinnen und sich selbst zu preisen und darzustellen. Das liebevolle Eingehen auf die Gefühlswelt der jungen Chorsänger und Chorsängerinnen und der Wohlklang seiner rhythmisch anspruchsvollen Melodien hat ihm in Sparta den Beinamen "der Liebliche" (glykos) eingetragen.

Ein schon länger bekanntes Zeugnis für die Zartheit alkmanischer Poesie und das feine Einfühlungsvermögen des Dichters ist das hier abgedruckte Nachtlied (das an Goethes Nachtlied "Über allen Gipfeln ist Ruh" erinnert). Dieses Liedfragment ist als Zitat im Homerlexikon des alexandrinischen Gelehrten Apollonios Sophistes überliefert. Es erschien in gedruckter Form erstmals in einer Apollonios-Edition des französischen Altphilologen Jean-Baptiste Gaspard d'Ansse Villoisson, der 1783 als Gast des Herzogs am Hof in Weimar weilte. Goethe, der für alles Homerische stets das regste Interesse hatte und mühelos griechische Verse lesen konnte, mag dieses Lied Alkmans gekannt haben. Vielleicht sind Stimmung und Ton des Liedes in seinem poetischen Gedächtnis haften geblieben, doch die Sprachbilder und der im Alkman-Fragment fehlende Schluß sind ganz von ihm selbst.

Michael Wagner

Anruf an die Muse

Muse, o Muse, helltönend und liederreich
Singende, stimme nun rasch
Ein Lied an, niegehört, dem Chor der Mädchen.

(Übersetzung: Z. Franyo)

Nachtlied

In tiefem Schlummer liegt die Welt,
Liegt Berg und Tal und Flur und Feld
Und alles, was auf Erden lebt.
Der Bienen Volk, des Waldes Heer
Und was da haust im dunklen Meer
Und was da hoch in Lüften schwebt,
Liegt alles nun in tiefer Ruh.

(Übersetzung: K. Preisendanz)

Jahreszeiten

Drei Jahreszeiten gab der Himmel:
Den Sommer, Winter und die Ernte.
Als vierte käme noch der Frühling:
Der bringt wohl Blüt und Blumen, aber
Zum Essen nicht genug.

(Übersetzung: K. Preisendanz)

Gedeckter Tisch

Vor sieben Stühlen stehen sieben Tische,
Mit Mohngebäck beladen und mit Kuchen
Aus Lein und Sesam und mit großen Schüsseln
Voll Honigbroten für die Kinder ...

(Übersetzung: Z. Franyo)

Das Alter

Nicht mehr, ihr Mädchen, die ihr so erregend und süß euer Lied singt;
Wollen die Füße mich tragen, o daß ich ein Eisvogel wäre,
Der überm Schaum der sich wälzenden See auf den Schwingen des Weibchen
Furchtlosen Herzens sich wiegt, der geheiligte, meerdunkle Vogel.

(Übersetzung: M. Hausmann)

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