S C H I L L E R

L E B T

F R I E D R I C H   S C H I L L E R
Archytas von Tarent

Der Pythagoräer Archytas war ein sehr einflußreicher und bedeutender Mann. Er lebte von ungefähr 430 bis 350 v. Chr., war also ein Zeitgenosse Platons.

Was uns an schriftlichen Quellen überliefert wurde, ist denkbar dürftig. Von den vielen Schriften, die man ursprünglich den Pythagoreern zuordnete, entpuppten sich die meisten als Fälschungen, und angeblich waren davon mehr von Archytas im Umlauf als von Pythagoras selber. An echten Schriften, die man ihm heute zuspricht, blieben nicht mehr als vier kleine Fragmente.

Wieso kann man nun trotzdem behaupten, daß Archytas von Tarent ein bedeutender Mann war?

Drei herausragende Tatsachen sind es vor allem, die diesen Ruf bestätigen, von denen schon jede für sich genommen bedeutend ist, die aber, mit der damaligen Zeit in Zusammenhang gesetzt und in ihrer Bedeutung verstanden, ein erstaunliches Bild ergeben.

Erstens ist bekannt, daß Archytas die von Hippokrates von Chios gestellte Aufgabe löste, eine grundsätzliche Methode zur Verdopplung des Würfels zu finden.

Zweitens war er über eine lange Zeit freundschaftlich mit Platon verbunden und an dessen "Operation Syrakus" beteiligt.

Drittens war er Feldherr in drei Kriegen und siebenmal Stratege seiner Vaterstadt Tarent. Letzteres ist schon deswegen ganz außergewöhnlich, weil die Regierungszeit zur damaligen Zeit auf ein Jahr beschränkt war. Archytas muß also auch ein außerordentlich beliebter Herrscher gewesen sein, wenn die Bürger gleich sechsmal eine Ausnahme von der Regel machten. Und von einem muß man ausgehen: Auch als Wissenschaftler wird er sein Leben nicht im Elfenbeinturm zugebracht haben.

Als Staatsmann und Philosoph, als Mathematiker, Erfinder und General kämpfte er darum, der Gesellschaft eine glücklichere Zukunft zu geben, was nach dem Niedergang Athens und dem Peloponnesischen Krieg keinesfalls gewährleistet war. Man kann sich unschwer vorstellen, daß diese Probleme zur Sprache kamen, als Platon zehn Jahre nach der Ermordung des Sokrates nach Süditalien reiste und dort im Jahr 389/88 v.Chr. erstmals mit Archytas zusammentraf.

Aus dem gemeinsamen Bemühen, diesem Niedergang etwas entgegen zu setzen, entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft, die schließlich zwanzig Jahre später in dem gemeinsamen "Projekt Syrakus" mündete. Im Rahmen eines "Erziehungsprojekts" wollte man einen "Philosophenkönig" heranbilden; kurz: Man suchte einen jungen Herrscher, der sein Leben nicht der Anhäufung materiellen Reichtums und politischer Macht widmete, sondern dessen Leidenschaft der wahren Wissenschaft galt. Alle Hoffnungen richteten sich auf den jungen Dionysios II., der nach dem Tod seines Vaters in Syrakus an die Macht kam und nach dem Urteil seines Schwagers Dion dermaßen geeignet schien, daß Dion selber, Archytas und andere Freunde Platon drängten, persönlich seine Erziehung zu übernehmen. Als dieses Vorhaben an der Oberflächlichkeit und dem Machthunger des Dionysios scheiterte und Platon um sein Leben fürchten mußte, machte Archytas seinen Einfluß geltend, um ihn zu befreien.

Platon beschreibt diese Ereignisse in seinem Siebten Brief und betont dort auch, welche große Bedeutung die reine Wissenschaft hat, die nicht nach der Nützlichkeit fragt, sondern die, einmal gekostet, antreibt, mit Leib und Seele nach der Wahrheit zu forschen, während die, die nur nach der Nützlichkeit fragen, sich bald mit Scheinwissen begnügen, den schnellen Vorteil suchen und dann zu dem Schluß kommen, daß das alles für sie zu schwer sei.

Die Würfelverdopplung und ihre Wirkung

Archytas hat mit seiner Konstruktion, wie sie von Eudemus überliefert ist, eine grundsätzliche Lösung für die beliebige Vergrößerung und Verkleinerung von Würfeln geschaffen, die die Wissenschaftler und Ingenieure seiner Zeit und weit darüber hinaus erheblich beeinflußte.

Diese Entdeckung setzte auch eine technische Revolution in Gang, die in ihrer Wirkung nur mit der Entdeckung des isoperimetrischen Prinzips des Nikolaus von Kues auf die Renaissance zu vergleichen ist, welche uns die großen Erfindungen Leonardo da Vincis bescherte.

Unter allen Erfindungen des 4. vorchristlichen Jahrhunderts will ich hier eine herausheben, weil sie engstens mit der Verdopplung des Würfels verbunden ist: nämlich die Entdeckung des Katapults, oder genauer gesagt, einer besonderen Art von Katapulten, den Torsionswaffen.

Nun kann einerseits nicht behauptet werden, daß Archytas diese Waffe erfunden hat. Andererseits erscheint es unwahrscheinlich, daß er nicht auf irgendeine Weise daran beteiligt war. Denn erstens fällt die Erfindung genau in seine Lebenszeit, zweitens war er als erfolgreicher General mehrerer Schlachten mit den Dingen vertraut, und drittens war er eben der Meister im Vergrößern und Verkleinern von Volumina.

Was hat die Verdopplung des Würfels mit der Torsionswaffe zu tun?

Abbildung 1
Abbildung 2
Abbildung 3

Dionysios I. von Syrakus, der etwa zur gleichen Zeit wie Archytas geboren wurde, versammelte an seinem Hof Experten aus dem gesamten Mittelmeerraum, in der Absicht, neue Waffensysteme zu entwickeln. Das erste Ergebnis dieses Projekts waren die sogenannten "Gastraphetes", eine Art mechanische Armbrust (Abb. 1). Im Unterschied zu den herkömmlichen Bogengeschützen war bei diesem der Bogen aus verschiedenen Materialien (Leder, Holz und Horn) zusammengedreht, was die Schußkraft stark erhöhte. Es ist überliefert, daß bei der Belagerung von Motya im Jahre 398 diese Waffen zum Einsatz kamen. Alle Versuche aber, diese mechanische Armbrust in größeren Dimensionen zu bauen, waren nicht besonders erfolgreich.

Dann wurde ein völlig anderer Ansatz entwickelt. Über den Zeitpunkt herrscht zwar Unklarheit, nicht aber über die Genialität dieser Erfindung. Man ersetzte den Bogen durch Torsionsfedern. Auch wenn die Idee schon in der ersten Hälfte des 4. Jh. entwickelt wurde, kostete es offensichtlich noch eine größere Anstrengung, die optimale Proportion dieser Torsionszylinder und ihr Verhältnis zum Geschoß herauszufinden. Und da man ständig das Volumen dieser Zylinder bestimmen mußte, nannte man die damit befaßten Ingenieure die "Kubikwurzel-Löser".

Was war das Problem?

Dieser neue Katapulttyp, das Euthytonon, wies auf jeder Seite einen "Torsionszylinder" auf, an dessen Ende sich eine bronzene Spannbüchse befand. Quer zu ihrer Öffnung befanden sich jeweils eiserne Stege, über die dicht an dicht elastische Seile (aus Pferdehaar oder Sehnen) gewickelt wurden. Mit Hilfe der Spannbüchsen wurden diese Seile bis zu der gewünschten Spannung verdreht. Darin eingeklemmte hölzerne Arme erlaubten eine weitere Drehung um etwa 30 Grad, so daß ein geladenes Kraftbündel entstand (Abb. 2 und 3).

Die Feuerkraft dieser Katapulte erreichte völlig neue Dimensionen, und die Aufgabe der Katapult-Ingenieure bestand darin, die Proportion des Torsionszylinders so zu wählen, daß das Geschoß die gewünschte Reichweite erzielte. Man definierte das militärische Ziel, bestimmte das Geschoß (z.B. Stein oder Pfeil und deren Größe) und errechnete dann den notwendigen Durchmesser des Strangbündels. Ganz grob gesagt, entsprach der Durchmesser des Strangbündels der Kubikwurzel des Geschoßgewichts. Hinzu kam aber noch die Proportion des Torsionszylinders als solchem. War er zu dick und zu kurz, verklemmten sich die Seile oder rissen; war er zu lang, konnte die gespeicherte Energie nur unzureichend genutzt werden. Überhaupt wurden alle Proportionen für den Bau des Katapults nach dem einmal gewählten Durchmesser des Torsionszylinders angegeben.

Ferner spielte natürlich die Beschaffenheit der Seile eine wichtige Rolle und auch ihre gleichmäßige Spannung, damit das Geschoß nicht ins Trudeln geriet oder einen unerwünschten Drall bekam. An Methoden zur Kalibrierung wurde bis in die Zeiten des Archimedes gearbeitet.

Nach Dionysios I. war es Philipp II. von Mazedonien, an dessen Hof (übrigens noch zu Lebzeiten des Archytas) die besten Katapultbauer zusammengezogen wurden. Die Feldzüge seines Sohnes Alexander des Großen waren nicht zuletzt wegen des Einsatzes dieser Katapulte so erfolgreich.

Archimedes, der zusammen mit Eratosthenes in Alexandria arbeitete, führte diese Maschinenbau-Tradition zwar auf einen vorläufigen Höhepunkt und wurde deswegen auch immer gerühmt. Aber gerade Archimedes wußte am allerbesten, daß nicht die Erwägung ihrer Nützlichkeit diese Leistungen hervorgebracht hatte, sondern die Begeisterung für die Wissenschaft selbst.

Nachdem Archimedes von Alexandria nach Syrakus zurückgekehrt war und feststellen mußte, daß die dortigen Ingenieure, die die Katapulte bauen sollten, nicht einmal mehr wußten, was eine Kubikwurzel ist, soll er ausgerufen haben: "Die Lösung des Delischen Rätsels, der Schlußstein der Architektur, das Geheimnis der Dimension, dieses Spielzeug der Götter! Und jetzt wissen sie nicht einmal mehr, was eine Kubikwurzel ist!"

Die große Wissenschaftstradition, zu der Archytas von Tarent so viel beigetragen hat, hatte ihre Blütezeit schon hinter sich. Später, lange nach der Ermordung des Archimedes durch die Römer, konnten auch die besten Kriegsmaschinen den Untergang des Römischen Reiches nicht mehr aufhalten - nicht weil es an solchen Waffen mangelte, sondern weil die Begeisterung für wissenschaftliche Ideen schon lange vorher versiegt war.

Andrea Andromidas


Zur Übersicht der Ausgrabungen