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Aristarch von Samos: Total genial!  —  Auszüge aus Aristarchs "Von den Größen und Entfernungen der Sonne und des Mondes"

Wir beschließen unsere "Griechischen Ausgrabungen" mit dem antiken Astronomen und Meister der physikalischen Hypothese Aristarch(os), der um 310 v.Chr. auf der Insel Samos geboren wurde und bis 230 v.Chr. gelebt hat. Einen Teil seines Lebens verbrachte er im nordafrikanischen Alexandria, wo er bei Straton von Lampsakos studierte, dem Erzieher des späteren Königs Ptolemaios II. Philadelphos. Als er 30 Jahre alt war, beobachtete und beschrieb Aristarch die Sommersonnenwende des betreffenden Jahres derart genau, daß B.L. van der Waerden sogar das genaue Datum angeben konnte: 26. Juni 280 v.Chr., 19 Uhr.1

Aristarch sah die Sonne als Mittelpunkt des Planetensystems an, dafür ist er heute noch berühmt, denn Johannes Kepler nennt ihn in der Einleitung zur Astronomia Nova als seinen Vorgänger: "Denn während Copernicus mit dem uralten Aristarchos, denen auch ich beipflichte, die Ursache, die bewirkt, daß Planeten stationär und rückläufig erscheinen, der Bewegung der Erde, unseres Wohnsitzes, zuschreiben, sucht Tycho Brahe diese Ursache in der Sonne..."2 Auch Copernicus bezieht sich im Manuskript des Vorworts zu seinem berühmten Hauptwerk auf Aristarch. Einige haben dies später bestritten, weil dieses Vorwort in der gedruckten Ausgabe unterschlagen und durch eine entstellende Vorrede des Nürnberger Geistlichen Osiander ersetzt wurde.3

Leider sind Aristarchs Schriften über die heliozentrische Hypothese verlorengegangen, aber Archimedes berichtet in seiner Schrift an den König Gelon: "Du weißt, daß die meisten Astronomen die Welt als eine Kugel bezeichnen, deren Mittelpunkt im Zentrum der Erde liegt und deren Radius der Größe des Sonnenabstandes entspricht. Aristarch von Samos dagegen hat in seinen Schriften die Lehre aufgestellt, daß das Weltall viel größer ist, als eben behauptet wurde. Er geht von der Annahme aus, daß die Sonne und die Fixsterne unbeweglich bleiben, die Erde sich aber auf einer Kreisbahn um die Sonne bewegt, die sich im Mittelpunkt befindet. Die Fixsternsphäre, die denselben Mittelpunkt umwölbt, ist so groß, daß die Erdbahn zur Fixsternsphäre dasselbe Verhältnis hat wie der Mittelpunkt der Kugel zu deren Oberfläche."4

Abb 1: Seite aus der ältesten erhaltenen griechischen Abschrift (9. Jh.) der Abhandlung des Aristarch "Von den Größen und Entfernungen der Sonne und des Mondes". Neben dem Grundtext weist es einen Randtext auf, das sog. "Leon-Scholium". (Quelle: B. Noack, Aristarch von Samos: Überlieferungsgeschichte)
Der römische Geschichtsschreiber Plutarch erwähnt, daß ein gewisser "Kleanthes die Griechen gegen Aristarch von Samos zur Anklage wegen Unglaubens aufforderte, weil dieser den Mittelpunkt der Welt (d.h. die Erde) in Bewegung versetzte, um - wie er behauptet - die Himmelserscheinungen in Einklang zu bringen (ta phainomena sozein). Er lehrte nämlich, die Fixsternsphäre stehe fest, die Erde aber kreise in einem geeigneten Kreise (um die Sonne) und drehe sich gleichzeitig um ihre eigene Achse."5

Da Aristarchs Weltbild der Lehre des Aristoteles widersprach, blieb er damit ziemlich allein. Nur Seleukos aus Babylon versuchte 100 Jahre später Aristarchs heliozentrische These zu beweisen. Das Hauptargument der Aristoteliker lautete: Wenn die Erde sich bewegte, müßte sich doch eine Verschiebung der Fixsterne beobachten lassen (Parallaxe). Aristarch erklärte die scheinbar nicht vorhandene Parallaxe mit der unermeßlich großen Entfernung der Fixsterne. Erst 1838 konnte F.W. Bessel eine winzige Verschiebung zwischen den Fixsternen feststellen - mit Meßgeräten, die es zu Aristarchs Zeit noch nicht gab.

Da Aristarchs Weltbild der Lehre des Aristoteles widersprach, blieb er damit ziemlich allein. Nur Seleukos aus Babylon versuchte 100 Jahre später Aristarchs heliozentrische These zu beweisen. Das Hauptargument der Aristoteliker lautete: Wenn die Erde sich bewegte, müßte sich doch eine Verschiebung der Fixsterne beobachten lassen (Parallaxe). Aristarch erklärte die scheinbar nicht vorhandene Parallaxe mit der unermeßlich großen Entfernung der Fixsterne. Erst 1838 konnte F.W. Bessel eine winzige Verschiebung zwischen den Fixsternen feststellen - mit Meßgeräten, die es zu Aristarchs Zeit noch nicht gab.

Das Dreieck Erde-Mond-Sonne

Erhalten ist eine andere Schrift Aristarchs Von den Größen und Entfernungen der Sonne und des Mondes, die um 260 v.Chr. entstand. Hier geht es nicht um die heliozentrische Hypothese, sondern um "Himmelsgeometrie": Aristarch verfährt nämlich so, wie Platon es im berühmten "Höhlengleichnis" anregt: Was man mit den Sinnen wahrnimmt, sind nicht die Dinge selbst; trotzdem kann man anhand der Beziehungen zwischen den "Schatten" der Dinge Rückschlüsse ziehen, wie sie wirklich sind. Sonne und Mond erscheinen dem Auge etwa gleich groß; sie haben etwa das gleiche Winkelmaß, was Aristarch darauf zurückführt, daß der Mond zwar kleiner, aber dem beobachtenden Auge näher ist. Bei einer Mondfinsternis hatte er aus der Zeit, in welcher der Mond durch den Erdschatten verdunkelt ist, und der Bahngeschwindigkeit des Mondes geschlossen, daß der Erdschatten doppelt so breit wie der Mond sei (5. Hypothese).

Aristarchs Hypothesen sind uns heute klar verständlich: 1. Der Mond wird von der Sonne beleuchtet. 2. Er umkreist die Erde. 3. Bei Halbmond liegt die Trennlinie zwischen beleuchteter und unbeleuchteter Mondhälfte genau in Sichtrichtung EM, die Sonnenstrahlen treffen im rechten Winkel (90°) dazu auf die Mondkugel. 4. Das Winkelmaß zwischen Sonne und Halbmond hatte Aristarch als 3° weniger als 90°, also 87°, gemessen. (In Wirklichkeit liegt es weit näher an 90°.)

Woher kennen wir Aristarchs Schrift?

Die Abhandlung Von den Größen und Entfernungen der Sonne und des Mondes ist uns erhalten geblieben, weil sie 300 n.Chr. in eine Sammlung von zehn griechischen Schriften über Geometrie, Optik und Astronomie aufgenommen wurde. Diese Fassung war die Vorlage für die älteste erhaltene Abschrift aus dem 9. Jh. (siehe Abb. 1). Eine ganze Reihe weiterer griechischer Abschriften sind ebenfalls erhalten. Bereits im 9. Jh. wurde Aristarchs Abhandlung von dem Arzt Qusta ibn Luqa al-Ba'labakki (= aus Baalbek/Heliopolis), der Christ gewesen sein soll, ins Arabische übersetzt. Die erste greifbare lateinische Übersetzung stammt von dem Renaissance-Humanisten Giorgio Valla und erschien 1498 im Druck. Auf griechisch wurde die Schrift erst 1688 gedruckt.6

Gabriele Liebig


Anmerkungen

1. B.L. van der Waerden, "Aristarchos's Observation of the Summer Solstice", in: Isis 77 (1986), S. 103f.

2. Johannes Kepler, Astronomia Nova - Neue, ursächlich begründete Astronomie , Übers. Max Caspar, hrsg. und eingel. von Fritz Krafft, marixverlag, Wiesbaden 2005.

3. Beate Noack, Aristarch von Samos - Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte..., Dr. Ludwig Reichert Verlag, Wiesbaden 1992, S. 16f.

4. Zit. nach www.antikenaturwissenschaft.de/HTML/alexandria.html.

5. Siehe Anm. 3.

6. Beate Noack, Aristarch von Samos, S. 21-58 passim.

7. Der Winkel MES ist in Abb. 2 und 3 aus Gründen der Deutlichkeit kleiner als 87 Grad dargestellt.


Aus Aristarchs "Von den Größen und Entfernungen der Sonne und des Mondes"

[Hypothesen]

1. Daß der Mond sein Licht von der Sonne erhält.

2. Daß die Erde im Verhältnis eines Mittelpunktes zu der Kugel steht, in der sich der Mond bewegt.

3. Daß, wenn der Mond uns halbiert erscheint, der Großkreis, der die dunkle und die helle Seite des Mondes unterteilt, in Richtung unseres Auges liegt.

4. Daß, wenn uns der Mond halbiert erscheint, der Abstand von der Sonne dann um ein Dreißigstel eines Quadranten kleiner ist als ein Quadrant.

5. Daß die Schattenbreite (der Erde) (die) von zwei Monden ist.

6. Daß sich der Mond über ein Fünfzehntel eines Tierkreiszeichens erstreckt.

Wir sind nun in der Lage... zu beweisen:

1. Die Entfernung der Sonne von der Erde ist größer als 18mal, aber geringer als 20mal die Entfernung des Mondes [...]

Aussage 1: Zwei gleiche Kugeln werden von ein und demselben Zylinder umschlossen, zwei ungleiche Kugeln von ein und demselben Kegel, der seine Spitze in Richtung der kleineren Kugel hat; und die Gerade durch die Mittelpunkte der Kugeln läuft rechtwinklig zu jedem der Kreise, in dem die Oberfläche des Zylinders oder des Kegels die Kugeln berührt.

[Bei allen außer der Aussage 7 sind hier die geometrischen Beweise weggelassen]

Aussage 2: Wenn eine Kugel von einer anderen beleuchtet wird, die größer ist als sie selbst, wird der beleuchtete Teil der ersteren Kugel größer als eine Halbkugel sein (Abb. 3). [...]

Aussage 3: Der Kreis im Monde, der die dunkle von der hellen Seite trennt, ist am kleinsten, wenn der Kegel, der sowohl die Sonne als auch den Mond umfaßt, seine Spitze in unserem Auge hat. [...]

Aussage 4: Der Kreis, der die dunkle und die helle Seite des Mondes trennt, unterscheidet sich nicht wahrnehmbar von einem Großkreis des Mondes. [...]

Aussage 5: Wenn der Mond uns halbiert erscheint, dann liegt der Großkreis parallel zu dem Kreis, der die dunkle und die helle Seite des Mondes voneinander trennt, in der Richtung unseres Auges; d.h., der zum Teilungskreis parallele Großkreis und unser Auge sind in einer Ebene. [...]

Aussage 6: Der Mond bewegt sich (in einer Himmelsbahn), niedriger als (die der) Sonne, und ist, wenn er halbiert ist, weniger als einen Quadranten von der Sonne entfernt. [...]

Aussage 7: Die Entfernung der Sonne von der Erde ist größer als 18mal, aber kleiner als 20mal die Entfernung des Mondes von der Erde (Abb. 4).

A sei der Mittelpunkt der Sonne, B der Mittelpunkt der Erde. A und B werden verbunden und AB erzeugt bzw. verlängert. C sei der Mittelpunkt des Mondes, wenn er halbiert ist; eine Ebene werde durch AB und C gelegt, und der Schnitt, den sie in der Kugel macht, auf der sich der Mittelpunkt der Sonne bewegt, sei der Großkreis ADE.*

AC, CB werden verbunden und BC werde auf D verlängert. Dann, weil der Punkt C im Mittelpunkt des Mondes ist, wenn dieser halbiert ist, ist der Winkel ACB ein rechter.

BE werde von B im rechten Winkel zu BA gezogen; dann ist der Umfang ED ein Dreißigstel des Umfangs EDA; denn, der Hypothese zufolge, ist die Entfernung des Mondes, wenn dieser uns halbiert erscheint, um ein Dreißigstel eines Quadranten kleiner als ein Quadrant [Hypothese 4]. Daher ist der Winkel EBC ebenfalls ein Dreißigstel eines rechten Winkels.

Das Parallelogramm werde vervollständigt und BF sei verbunden. Dann ist der Winkel FBE die Hälfte eines rechten Winkels. Der Winkel FBE werde durch die Gerade BG halbiert; daher ist der Winkel GBE ein Viertel eines rechten Winkels.

Aber der Winkel DBE ist auch ein Dreißigstel eines rechten Winkels; daher ist das Verhältnis des Winkels GBE zum Winkel DBE dasselbe wie 15 zu 2; denn, wenn ein rechter Winkel als in 60 gleiche Teile unterteilt betrachtet wird, umfaßt der Winkel GBE 15 solcher Teile und der Winkel DBE 2.

Da GE zu EH ein größeres Verhältnis hat als der Winkel GBE zu DBE, steht GE zu EH in einem größeren Verhältnis als 15 zu 2.

Sodann, weil BE gleich EF ist, und der Winkel in E ein rechter, ist das Quadrat über FB das Doppelte des Quadrats über BE. Aber, weil sich das Quadrat über FB zum Quadrat über BE verhält wie das Quadrat über FG zum Quadrat über GE, ist daher das Quadrat über FG das Doppelte des Quadrats über GE.

Nun ist 49 weniger als das Doppelte von 25, so daß das Quadrat über FG zu dem Quadrat über GE in einem größeren Verhältnis steht, als 49 zu 25; daher steht auch FG zu GE in einem größeren Verhältnis als 7 zu 5. Daher steht, componendo, FE zu EG in einem größeren Verhältnis als 12 zu 5, d.h. als 36 zu 15.

Doch es ist auch bewiesen worden, daß GE zu EH ein größeres Verhältnis hat als 15 zu 2, daher hat, ex aequali, FE zu EH ein Verhältnis größer als 36 zu 2, d.h. von 18 zu 1; daher ist FE größer als 18mal EH.

Und FE ist gleich BE; daher ist BE auch größer als 18mal EH; daher ist BH viel größer als 18mal HE. Da sich aber BH zu HE so verhält wie AC zu BC, wegen der Ähnlichkeit der Dreiecke, ist AB folglich auch größer als 18mal BC. Und AB ist der Abstand von der Sonne zur Erde, während CB der Abstand vom Mond zur Erde ist; daher ist der Abstand von der Sonne zur Erde größer als 18mal der Abstand des Mondes von der Erde.

Wiederum behaupte ich, daß er auch kleiner ist als 20mal diese Entfernung. Denn wenn man DK parallel zu EB durch D zieht und den Kreis DKB um das Dreieck DKB beschreibt, dann ist DB sein Durchmesser, weil der Winkel in K ein rechter ist.

Fügen wir BL, die Seite eines Sechsecks in den Kreis ein. Dann, da der Winkel DBE ein Dreißigstel eines rechten Winkels ist, ist auch der Winkel BDK ein Dreißigstel eines rechten Winkels; daher ist der Umfang BK ein Sechzigstel des Gesamtkreises.

Aber BL ist ebenfalls ein Sechstel des ganzen Kreises. Daher ist der Umfang BL zehnmal der Umfang BK. Und der Umfang BL steht zum Umfang BK in einem Verhältnis, das größer als das ist, das die Gerade BL zu der Geraden BK hat. Daher ist die Gerade BL weniger als zehnmal die Gerade BK. Und BD ist das Doppelte von BL; daher ist BD geringer als 20mal BK.

Doch da BD sich zu BK wie AB zu BC verhält, ist AB folglich auch geringer als 20mal BC. Und AB ist die Entfernung der Sonne von der Erde, während BC die Entfernung des Mondes von der Erde ist; daher ist die Entfernung der Sonne von der Erde weniger als 20mal die Entfernung des Mondes von der Erde.

Zuvor wurde schon bewiesen, daß sie größer als 18mal diese Entfernung ist.


Anmerkung

*) In dieser Schrift argumentiert Aristarch "geozentrisch": Mond und Sonne kreisen um die Erde.


Quelle: Thomas L. Heath, Aristarchos of Samos, the ancient Copernicus, Clarendon Press, Oxford 1966, S. 352-381, deutsche Übersetzung im Internet.


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