S C H I L L E R

L E B T

F R I E D R I C H   S C H I L L E R
Die griechischen Bildhauer: Als die Bilder laufen lernten

Die grandiosen Plastiken der griechischen Bildhauer geben uns einen sinnlichen Abdruck ihrer Anschauung vom Menschen. Schon Wilhelm von Humboldt riet, sich nicht nur an den makellosen klassischen Bildwerken zu erfreuen, sondern die Entwicklung der griechischen Kunst von der archaischen Zeit hin zur Klassik zu studieren, wenn man die Klassik begreifen wolle. Das wollen wir nun versuchen.

Die griechischen Künstler liebten es, den Menschen abzubilden, und der Kuros, der stehende, unbekleidete Jüngling, wird das Leitmotiv durch die Jahrhunderte. In zeitlichen Stufen verändern sich die Statuen deutlich: Proportionen und Struktur sowie die Stellung im Raum wandeln sich und künden von einer anderen Sicht des Menschen. Der Kuros war offenbar schon für die Griechen so typisch, daß sie seine Erfindung auf Daidalos, den mythischen Erbauer des Labyrinths, das vom Minotaurus bewohnt wurde, zurückführten. Daidalos, so meinten die Griechen, habe zum ersten Mal die beiden Füße einer Statue getrennt, also den Bildwerken das Gehen beigebracht. "Daidalos" bedeutet im Griechischen "Handwerker", er personifiziert hier eine Kunst oder den Prototyp des Handwerkers.

"Die griechische Kunst hat sich nicht damit begnügt, Bilder von Menschen zu schaffen. Sie ist nicht bei dem Einzelmenschen oder seiner Ausprägung in völkischen und geschichtlichen Typen stehengeblieben. Ihre Entdeckungsfahrten in das Reich der Sinne, größer, staunenswerter und folgenreicher als Alexanders Eroberungszüge, gingen auf die Einheit im Vielfältigen, das Gesetz im Lebendigen, die Wahrheit im Schein, und galten der Enthüllung von Wesen und Dasein der Dinge in ihrer sinnlichen Erscheinung," beginnt Bernhard Schweitzer seinen Aufsatz über "Das Menschenbild der griechischen Plastik".1

Der antike Künstler interessierte sich für den reinen Menschen, er bildete weder Könige noch Theten (Angehörige der untersten Steuerklasse) ab, soziale Unterschiede interessierten ihn so wenig wie Kindheit oder Alter. Hochaufgerichtet, stolz, in der Blüte seiner Jahre trat er den Göttern entgegen. Die griechischen Standbilder standen in Tempeln oder auf Gräbern und waren Geschenke an die Götter. Im Anblick der Gottheit fiel alles Unwesentliche, Zufällige von ihm ab, nur der Mensch selbst und die Auffassung seines Wesens, wie man sie in der jeweiligen Epoche verstand, blieb. Der Künstler suchte nicht nach ästhetischen Formen, sondern nach dem Begriff des Menschen, wenn er den Stein bearbeitete, und deshalb berühren uns diese Bilder selbst über eine so große Distanz hinweg immer noch tief und wahr.

Abb. 1. Polymedes, Kleobis und Biton,
etwa 600 v.Chr., Delphi, Museum

Seit etwa 640 v.Chr. wurden überall in Griechenland und zur gleichen Zeit Kuroi in Stein gehauen. Der bedeutendste Künstler dieser Epoche war Polymedes von Argos, von dem sich zwei wuchtige Statuen erhalten haben. Kleobis und Biton waren Zwillingsbrüder, Söhne der Priesterin Kydippe. Als die Ochsen, die den Wagen der Kydippe zum Opferfest der Hera nach Argos ziehen sollten, nicht kamen, stellten sich die beiden Söhne selbst unter das Joch und zogen den Wagen durch die Sonnenglut von Argos die etwa 9 km bis zum Heiligtum. Die Mutter bat Hera um den schönsten Lohn für ihre Söhne, und die Götter segneten die beiden mit dem Wunder eines unmerklichen Todes.

Die Standbilder (Abb. 1) strotzen vor Kraft, der mächtige Brustkorb, die prallen Arme und Oberschenkel bersten fast vor Lebensfülle. Die Figur ist additiv gebaut: auf den mächtigen Beinen ruht der Rumpf, an den sich Arme und Kopf fügen. Die Frontalität und fast mathematisch genau verlaufende Achsen dieser Figur sind typisch für die archaische Periode. Rechts und links der Symmetrieachse ist alles gleich, das Regelhafte im Bau des Menschen wird betont. Die beiden Arme hängen lose am Körper, die Fäuste sind geballt. Dieses strenge Achsensystem, das nur leicht durch das linke, vorgesetzte Bein gelockert wird, kennzeichnet sämtliche archaischen Weihefiguren.

Der Künstler erfaßt den menschlichen Körper als architektonisches Gebäude, das Organische, miteinander Verflochtene fehlt. Die weltliche und geistige Ordnung dieser Zeit ist starren Regeln unterworfen, für die ein klarer Standes- und Ehrenkodex gilt. Individuelles Handeln gegenüber der Außenwelt gibt es noch nicht. Trotz dieser gewissen Starre und Strenge drückt die Figur strahlende Lebensfreude aus.

Gut ein Jahrhundert später hat sich die Darstellung deutlich verändert. Der sogenannte Kritios-Knabe auf der Akropolis in Athen (Abb. 2) steht am Übergang zur klassischen Periode. Kritios betrieb zwischen 495 und 450 in Athen eine Werkstatt; er fertigte zusammen mit Nesiotes die berühmte Skulpturengruppe der Tyrannenmörder an, die auf dem Marktplatz aufgestellt wurde. Sein Kuros aus dem Jahr 480 spiegelt ein deutlich gewandeltes Menschenbild wider. Wenig, aber Entscheidendes wurde an dieser Figur im Vergleich zu der vorhergehenden verändert. Das ist kein Standbild mehr, die Beine verharren nicht mehr in einer angedeuteten Schrittstellung, der Jüngling geht. Das Gewicht ruht auf dem linken Bein, dem Standbein, das rechte Bein ist ein wenig angewinkelt und wird zum Spielbein, das Becken hat sich leicht aus der Symmetrie verschoben. Die strenge Form ist gelockert, der Körper eine organische Einheit geworden.

Abb. 2. Kritios, Knabenstatue von der Akropolis, ca. 480 v.Chr., Akropolismuseum (links) und
Abb. 3. Polyklet, Doryphoros, um 440 v.Chr., römische Marmorkopie, Neapel, Nationalmuseum
Dieser Mensch ist nicht mehr an starre, überpersönliche Normen gebunden; ruhig und selbstsicher tritt er uns entgegen als jemand, der sein Leben innerhalb gesellschaftlicher Normen selbst bestimmt. Hier und jetzt entwickeln sich die ersten freien Stadtstaaten der Weltgeschichte, in denen der Mensch das gesellschaftliche Leben auf der Grundlage von Gleichheit und Gesetz selbst gestaltet.

Nur 30 Jahre später ist die Revolution vollzogen. Polyklet, neben Phidias der bedeutendste Künstler der griechischen Klassik, gießt das klassische Menschenbild in seine vollkommenste Form. Er wurde um ca. 480 wahrscheinlich in Argos geboren und starb gegen Ende des 5. Jahrhunderts. Polyklet ist der erste bildende Künstler, der ein theoretisches Werk über seine Kunst verfaßte, den sogenannten Kanon, was etwa Richtschnur bedeutet. Er begann, Menschen zu vermessen und fand heraus, daß die einzelnen Körperteile in bestimmten Verhältnissen, die sich in Zahlen ausdrücken lassen, zueinander stehen. Im "mittleren Maß" entdeckte er die idealen Proportionen des menschlichen Körpers und postulierte ein Naturgesetz. Dieses mittlere Maß bezog sich jedoch nicht nur auf die Proportionen, sie schließt die körperliche und geistige Haltung der Figur ein.

Der Doryphoros (Speerträger, Abb. 3) verkörpert dieses rechte Maß in jeder Hinsicht. Der Speerträger schreitet in völliger Natürlichkeit, er strömt Ruhe und gleichzeitig Bewegung aus, Spannung und Entspannung, Hebung und Senkung. Schon in der Antike wurde der Doryphoros als das Werk betrachtet, in dem Polyklet seine Lehre verwirklicht habe. Die Skulptur ist so bedeutsam, daß mit ihr der Beginn der griechischen Hochklassik (etwa 450 v.Chr.) datiert wird. Hier wird die "kontrapostische" Darstellung vorgeführt: Das linke Bein ist weit zurückgesetzt und berührt den Boden nur noch mit den Zehen, das Gewicht ruht auf dem rechten Bein. Dadurch wird die rechte Hüfte hochgestemmt, während die linke entlastet nach unten kippt. Bei den Schultern und Armen ist es umgekehrt: linke Schulter und Arm sind hochgezogen, rechts fallen sie entspannt. Anspannung und Entlastung verknüpfen den Körper im ganzen wie im Detail. Das zurückgesetzte Spielbein leitet eine Bewegung ein, die zunächst einzelne Glieder und fortschreitend den ganzen Körper erfaßt. Beweglichkeit, Lebendigkeit und der organische Zusammenhang des Körpers werden im Widerstreit mit der Schwerkraft deutlich.

Die Figur erhält Leben durch die Entgegensetzung von Ruhe und Bewegung, Spannung und Entspannung, Hebung und Senkung. Von allen Seiten her betrachtet steht sie in vollendeter Harmonie da, die auf dem Ausgleich der Gegensätze beruht. Polyklet postulierte hier das Gesetz vom Gleichgewicht der Kräfte und der Harmonie der Gegensätze, mit dem sich auch die Philosophie befaßte und das für die Griechen universelle Gültigkeit besaß. Sie sahen darin nicht nur ein Kunstgesetz, sondern ein Weltprinzip.

Der Philosoph Sokrates hob in einem Gespräch mit dem Bildhauer Kleiton die herausragende Leistung seines Zeitgenossen Polyklet hervor, die im vollendeten Ausgleich der gegensätzlichen Spannungen des Körpers die Harmonie der Seele bildlich mache und die wahre Natur des Menschen in Stein gehauen habe (nach Xenophons Memorabilien).

Rosa Tennenbaum


Anmerkung 1. Bernhard Schweitzer: Das Menschenbild der griechischen Klassik. Potsdam 1947.


Zur Übersicht der Ausgrabungen