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Abb. 1. Polymedes, Kleobis und Biton,
etwa 600 v.Chr., Delphi, Museum
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Seit etwa 640 v.Chr. wurden überall in Griechenland und zur gleichen Zeit Kuroi in Stein gehauen. Der bedeutendste Künstler dieser Epoche war Polymedes von Argos, von dem sich zwei wuchtige Statuen erhalten haben. Kleobis und Biton waren Zwillingsbrüder, Söhne der Priesterin Kydippe. Als die Ochsen, die den Wagen der Kydippe zum Opferfest der Hera nach Argos ziehen sollten, nicht kamen, stellten sich die beiden Söhne selbst unter das Joch und zogen den Wagen durch die Sonnenglut von Argos die etwa 9 km bis zum Heiligtum. Die Mutter bat Hera um den schönsten Lohn für ihre Söhne, und die Götter segneten die beiden mit dem Wunder eines unmerklichen Todes.
Die Standbilder (Abb. 1) strotzen vor Kraft, der mächtige Brustkorb, die prallen Arme und Oberschenkel bersten fast vor Lebensfülle. Die Figur ist additiv gebaut: auf den mächtigen Beinen ruht der Rumpf, an den sich Arme und Kopf fügen. Die Frontalität und fast mathematisch genau verlaufende Achsen dieser Figur sind typisch für die archaische Periode. Rechts und links der Symmetrieachse ist alles gleich, das Regelhafte im Bau des Menschen wird betont. Die beiden Arme hängen lose am Körper, die Fäuste sind geballt. Dieses strenge Achsensystem, das nur leicht durch das linke, vorgesetzte Bein gelockert wird, kennzeichnet sämtliche archaischen Weihefiguren.
Der Künstler erfaßt den menschlichen Körper als architektonisches Gebäude, das Organische, miteinander Verflochtene fehlt. Die weltliche und geistige Ordnung dieser Zeit ist starren Regeln unterworfen, für die ein klarer Standes- und Ehrenkodex gilt. Individuelles Handeln gegenüber der Außenwelt gibt es noch nicht. Trotz dieser gewissen Starre und Strenge drückt die Figur strahlende Lebensfreude aus.
Gut ein Jahrhundert später hat sich die Darstellung deutlich verändert. Der sogenannte Kritios-Knabe auf der Akropolis in Athen (Abb. 2) steht am Übergang zur klassischen Periode. Kritios betrieb zwischen 495 und 450 in Athen eine Werkstatt; er fertigte zusammen mit Nesiotes die berühmte Skulpturengruppe der Tyrannenmörder an, die auf dem Marktplatz aufgestellt wurde. Sein Kuros aus dem Jahr 480 spiegelt ein deutlich gewandeltes Menschenbild wider. Wenig, aber Entscheidendes wurde an dieser Figur im Vergleich zu der vorhergehenden verändert. Das ist kein Standbild mehr, die Beine verharren nicht mehr in einer angedeuteten Schrittstellung, der Jüngling geht. Das Gewicht ruht auf dem linken Bein, dem Standbein, das rechte Bein ist ein wenig angewinkelt und wird zum Spielbein, das Becken hat sich leicht aus der Symmetrie verschoben. Die strenge Form ist gelockert, der Körper eine organische Einheit geworden.
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Abb. 2. Kritios, Knabenstatue von der Akropolis, ca. 480 v.Chr., Akropolismuseum (links) und
Abb. 3. Polyklet, Doryphoros, um 440 v.Chr., römische Marmorkopie, Neapel, Nationalmuseum
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Dieser Mensch ist nicht mehr an starre, überpersönliche Normen gebunden; ruhig und selbstsicher tritt er uns entgegen als jemand, der sein Leben innerhalb gesellschaftlicher Normen selbst bestimmt. Hier und jetzt entwickeln sich die ersten freien Stadtstaaten der Weltgeschichte, in denen der Mensch das gesellschaftliche Leben auf der Grundlage von Gleichheit und Gesetz selbst gestaltet.
Nur 30 Jahre später ist die Revolution vollzogen. Polyklet, neben Phidias der bedeutendste Künstler der griechischen Klassik, gießt das klassische Menschenbild in seine vollkommenste Form. Er wurde um ca. 480 wahrscheinlich in Argos geboren und starb gegen Ende des 5. Jahrhunderts. Polyklet ist der erste bildende Künstler, der ein theoretisches Werk über seine Kunst verfaßte, den sogenannten Kanon, was etwa Richtschnur bedeutet. Er begann, Menschen zu vermessen und fand heraus, daß die einzelnen Körperteile in bestimmten Verhältnissen, die sich in Zahlen ausdrücken lassen, zueinander stehen. Im "mittleren Maß" entdeckte er die idealen Proportionen des menschlichen Körpers und postulierte ein Naturgesetz. Dieses mittlere Maß bezog sich jedoch nicht nur auf die Proportionen, sie schließt die körperliche und geistige Haltung der Figur ein.
Der Doryphoros (Speerträger, Abb. 3) verkörpert dieses rechte Maß in jeder Hinsicht. Der Speerträger schreitet in völliger Natürlichkeit, er strömt Ruhe und gleichzeitig Bewegung aus, Spannung und Entspannung, Hebung und Senkung. Schon in der Antike wurde der Doryphoros als das Werk betrachtet, in dem Polyklet seine Lehre verwirklicht habe. Die Skulptur ist so bedeutsam, daß mit ihr der Beginn der griechischen Hochklassik (etwa 450 v.Chr.) datiert wird. Hier wird die "kontrapostische" Darstellung vorgeführt: Das linke Bein ist weit zurückgesetzt und berührt den Boden nur noch mit den Zehen, das Gewicht ruht auf dem rechten Bein. Dadurch wird die rechte Hüfte hochgestemmt, während die linke entlastet nach unten kippt. Bei den Schultern und Armen ist es umgekehrt: linke Schulter und Arm sind hochgezogen, rechts fallen sie entspannt. Anspannung und Entlastung verknüpfen den Körper im ganzen wie im Detail. Das zurückgesetzte Spielbein leitet eine Bewegung ein, die zunächst einzelne Glieder und fortschreitend den ganzen Körper erfaßt. Beweglichkeit, Lebendigkeit und der organische Zusammenhang des Körpers werden im Widerstreit mit der Schwerkraft deutlich.
Die Figur erhält Leben durch die Entgegensetzung von Ruhe und Bewegung, Spannung und Entspannung, Hebung und Senkung. Von allen Seiten her betrachtet steht sie in vollendeter Harmonie da, die auf dem Ausgleich der Gegensätze beruht. Polyklet postulierte hier das Gesetz vom Gleichgewicht der Kräfte und der Harmonie der Gegensätze, mit dem sich auch die Philosophie befaßte und das für die Griechen universelle Gültigkeit besaß. Sie sahen darin nicht nur ein Kunstgesetz, sondern ein Weltprinzip.
Der Philosoph Sokrates hob in einem Gespräch mit dem Bildhauer Kleiton die herausragende Leistung seines Zeitgenossen Polyklet hervor, die im vollendeten Ausgleich der gegensätzlichen Spannungen des Körpers die Harmonie der Seele bildlich mache und die wahre Natur des Menschen in Stein gehauen habe (nach Xenophons Memorabilien).
Rosa Tennenbaum
Anmerkung
1. Bernhard Schweitzer: Das Menschenbild der griechischen Klassik. Potsdam 1947.
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