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Die griechischen Bildhauer II: Menschenbilder der Spätklassik

Die Epoche der griechischen Klassik wird durch zwei politische Daten markiert: Sie beginnt 476 v. Chr. mit der Aufstellung der Statuen der beiden Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton, die von den Künstlern Kritios und Nesiotes gefertigt und auf der Athener Agora aufgestellt wurden. Mit den Standbildern dieser Märtyrer gegen die Tyrannis ehrten die Griechen gleichzeitig ihre Helden, die in den Befreiungskriegen gegen die Perser gefallen waren. Die Klassik endet mit dem Tod Alexander des Großen im Jahre 323 v.Chr.

Mit Polyklet erreichte die griechische Bildhauerkunst ihre höchste Blüte. Im Kontrapost, dem Wechselspiel zwischen Stand- und Spielbein und den sich daraus ergebenden Bewegungsabläufen, fanden die Künstler eine "geniale Formel für beherrschtes Leben" (Schweitzer). So wie der menschliche Körper im Gegensatz von Ruhe und Bewegung, Spannung und Entspannung, Hebung und Senkung die Schwerkraft überwindet, bewegt sich der Mensch im Spannungsfeld zwischen Last und Unbeschwertheit, Ernst und Spiel, sozialer Gebundenheit und menschlicher Freiheit. Sämtliche Anlagen des Menschen, seine körperlichen wie seine geistig-seelischen, erhalten in der klassischen Plastik Gestalt.

Diese Einheit von Innen- und Außenwelt, von Individuum und Staat hielt nicht lange. Die Lehre der Sophisten und Griechenlands politischer Wandel zur imperialen Macht schufen neue, unvereinbare Gegensätze. An die Stelle der Wahrheit trat der Vorteil, an die der Gerechtigkeit die politische Macht. Mensch und Welt entzweiten sich, aus der Welt wurde die Außenwelt, aus dem Menschen das Individuum, das nun in Widerstreit mit der Außenwelt geriet. Die klassische Figur, die sich dadurch ausgezeichnet hatte, daß sie diese Gegensätze in Harmonie auflöste, zerfiel.

Abb 1: Praxiteles, Jünglingsstatue aus Marathon, gegen Mitte des 4. Jh., Athen, Nationalmuseum
In der Spätklassik entstanden Werke von herausragender Schönheit, doch ihre Aussage veränderte sich. Zu ihren bedeutendsten Bildhauern gehörte Praxiteles aus Athen, der von etwa 390 bis 320 lebte und dort seit etwa 370 eine große Werkstätte unterhielt. Seine Bronzestatue eines Jünglings aus Marathon (Abb. 1) zeigt einen in sich versunkenen jungen Athleten. Die Körperpartien sind runder, weicher gestaltet, auch die für Praxiteles charakteristische S-Form ist gut zu erkennen. Er war ein Meister der Oberflächengestaltung, keiner bearbeitete den Marmor so fein wie er. Die Figur ist mit sich selbst beschäftigt, sie hat etwas Privates, fast Traumhaftes. Praxiteles wurde bereits im Altertum für die Darstellung von Seelenzuständen gerühmt. Seine Figuren leben in einem eigenen Raum, unabhängig vom Betrachter, "selig in sich selbst".

Nun erst traten ästhetische Aspekte in den Vordergrund, und die Schönheit geriet in Widerstreit zum Wahren. Als Gegenpol entstand das Porträt, das Menschen nicht nach Aspekten der Schönheit, sondern nach der Natur realistisch abbildete. Das klassische Menschenbild zerfiel in die schöne Figur auf der einen und das realistische Bildnis auf der anderen Seite.

Abb. 2: Skopas, Herakles, römische Marmorkopie, New York, Metropolitain Museum (ehemals Sammlung Landsdowne)
Die Heraklesstatue des Skopas (Abb. 2) spiegelt den Konflikt zwischen Innen- und Außenwelt, in den der Mensch geraten war, auf eine andere Art wider. Skopas wurde um 420 v. Chr. in Paros geboren und starb um 330. Er leitete den Bau des Athenatempels in Tegea, arbeitete am Artemis-Tempel in Ephesos und war bei der Ausgestaltung des Mausoleums in Halikarnassos beteiligt. Er bildete mehrmals den Helden Herakles ab. Ruhig steht er da, das Löwenfell in der rechten Hand sinkt zu Boden, in der linken hat er die Keule geschultert. Der mythische Herakles kämpfte in zahlreichen Heldentaten gegen die Gebrechen der Welt. Skopas' Herakles ist zwar wohl bewehrt mit Löwenfell und martialischer Keule, aber der Gesichtsausdruck ist in sich gekehrt, fast verträumt. Das ist kein Draufgänger, der sich seiner Sache vollkommen sicher ist. Die Außenwelt ist zum Feind geworden, sein Mensch-Sein ist ständig bedroht, und der Wille, sein Wesen vor äußeren Bedrohungen zu verteidigen, wird zu seiner wichtigsten Waffe. Der Mensch der Spätklassik kann nicht mehr die Gegensätze in Harmonie auflösen, wie Polyklets Figuren, seine Aufgabe ist Kampf gegen eine Welt, die dem Individuum feindlich gegenübersteht. Lysippos beschloß diese Epoche der griechischen Kunst und setzte ihr gleichzeitig mit seinen grandiosen Bildwerken die Krone auf. Um 390 in Sikyon geboren, war er zuerst Metallgießer und brachte sich selbst durch das Studium von Polyklets Kanon die Bildhauerkunst bei. 1500 Bronzestatuen soll er geschaffen haben, darunter den herrlichen Apoxyomenos (der Schaber, Abb. 3). Ein junger Athlet reinigt seine Haut nach dem Wettkampf von Sand und Öl mit einem Schabeisen, der Strigilis. Sein rechter Arm ist weit nach vorne ausgestreckt, der linke führt das Schabeisen an den Gliedern entlang. Das zur Seite weit ausgreifende Spielbein setzt die Figur in große Bewegung, ja Unruhe, die sich durch den ganzen Körper fortpflanzt.

Abb. 3: Lysippos, Apoxyomenos (Schaber), um 320 v. Chr., Bronzenachguß der römischen Marmorkopie im Vatikan
Das klassische Gleichgewicht zwischen Ruhe und Bewegung ist gestört. Das ist nicht mehr der Sieger des 5. Jahrhunderts, der in gelassener Selbstbescheidung den Göttern dankt, der Mensch am Ende des 4. Jahrhunderts sucht Kampf, Sieg und Bestätigung. Nun, da das zeitlos Gültige, das Ideale in weite Ferne gerückt ist, erhält der Moment, in dem der Künstler seine Figur festhält, Bedeutung, der fruchtbare Augenblick hält Einzug in der Kunst und ist von jetzt an nicht mehr wegzudenken. Lysippos wählte für seinen Helden nicht den Augenblick des Sieges, sondern den der Abspannung nach dem Wettkampf. Erschöpfung und Anstrengung zeichnen sein Gesicht, aber der in die Ferne gerichtete Blick sucht bereits ehrgeizig nach neuen Herausforderungen.

Lysippos war der Hofbildhauer Alexanders des Großen, Alexander habe von keinem anderen dargestellt werden wollen, ist überliefert. Und Lysipp hat den Menschen dieser unruhigen Zeit meisterhaft getroffen. Nervös, rastlos von Sieg zu Sieg eilend, immer auf dem Sprung, sich gegen eine feindliche Außenwelt zur Wehr zu setzen. Hier ist nichts mehr von der Idealität des 5. Jahrhunderts, die Götter haben sich längst auf den Olymp zurückgezogen, und auf der Erde ging es nur noch darum, eine menschliche Existenz zu bewahren.

Diese Sicht auf die Spätklassik wird durch ein Epigramm, das ein Zeitgenosse des Lysipp auf dessen Alexanderstatue verfaßte, bestätigt:

"Zu reden scheint der Erzene, zu Zeus den Blick emporgerichtet: Die Erde leg ich mir unter die Füße, Du, Zeus, behalte den Olymp."

Erde und Himmel sind geschieden, die Götter leben selig im Himmel, dem Menschen bleibt die Erde als Lebens- und Wirkungsraum. Damit ist ihm aber zum ersten Mal auch die Möglichkeit gegeben, sich im Wettstreit mit den Göttern zu messen und selbst göttlich zu werden.

Bernhard Schweitzer faßt in seinem Aufsatz über das Menschenbild der griechischen Klassik den Bogen von der Archaischen Plastik bis zur Spätklassik folgendermaßen zusammen: "Am Anfang ist uns das archaische Menschenbild begegnet, gebunden an feste Normen, Gefäß strahlenden Lebens, erst blockhafter Koloß wie aus Quadern gefügt, dann vergeistigtes Standbild von adligem Wuchs. Das klassische Jahrhundert enthüllte das Selbst des Menschen, das, selbst Gegenwart, die Ordnung einer zeitlosen Welt in sich verwirklichte und ausstrahlte. Wir erlebten in der Spätklassik die Auflösung der eben gewonnenen Einheit von Mensch und Welt in der klassischen Figur. Man sieht nun den Menschen inmitten der realen Umwelt und Zeitlichkeit und gestaltet die Selbstbehauptung des Menschen in der allmählich entgötterten Welt. (...) Was die Hochklassik noch als ein Sein darstellen konnte, das zerfiel in der Spätklassik und konnte nur noch als im Werden erreichbar oder unerreichbar gezeigt werden."1

Mit Lysippos ist die Zeitspanne der Entdeckung des Menschen in der griechischen Plasitk abgeschlossen. Es werden auch im Hellenismus noch herrliche Kunstwerke geschaffen, aber ein neues Menschenbild wird nicht mehr entwickelt. Der Bogen in der griechischen Plastik, angefangen bei der Gottähnlichkeit des Menschen bis hin zum Gottmenschen auf der Erde zeugt von Entwicklungsschritten des griechischen Geistes, die in diesen Standbildern weithin sichtbar wurden. Die großen Künstler dieser Zeit bildeten die Entdeckung des Menschen ab. Wir finden uns im Menschenbild der griechischen Plastik wieder, weil unser ureigenstes Selbst Gestalt wurde.

Rosa Tennenbaum


Anmerkung

1. Bernhard Schweitzer: Das Menschenbild der griechischen Plastik. Potsdamer Vorträge II. Potsdam 1947, S. 31f.


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