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Euripides  —  Auszüge aus den Phönizierinnen

Euripides, der letzte der drei großen griechischen Tragiker, (geb. 480 v.Chr. oder 485/484 v. Chr. in Salamis; gestorben 406 v.Chr. im makedonischen Pella) ist widersprüchlicher und polarisiert stärker als seine beiden Dichterkollegen Aischylos und Sophokles, und das gilt nicht nur für die Zeit seines Lebens und Wirkens. Er hinterließ ein Werk von ca. 93 Tragödien und Satyrspielen, von denen aber nur 18 erhalten sind (17 Tragödien und ein Satyrspiel). Zu nennen sind hier vor allem seine beiden Iphigenien, der Orest, die Medea, Die Troerinnen, Alkestis und die Bakchen. Euripides führte zwischen 455 bis 408 v. Chr. regelmäßig im Dichterwettstreit in Athen Tetralogien auf (eine Tragödien-Trilogie und ein Satyrspiel). Das erste aufgeführte Stück hieß Die Peliaden, das ihm einen dritten Platz bescherte. Sein erster Sieg fällt in das Jahr 441 v.Chr. Im Jahre 428 v.Chr. siegte er mit dem erhalten gebliebenen Hippolytos. Insgesamt siegte er zu Lebzeiten nur viermal und einmal mit einer posthum aufgeführten Tetralogie, zu der das berühmte Stück "Die Bakchen" (über den Dionysos-Kult) gehört. Kurz nach den Dionysien 408 v. Chr. folgte Euripides der Einladung des makedonischen Königs Archelaos I., in dessen Hauptstadt Pella er zu Frühjahrsbeginn 406 v.Chr. verstarb.

Vieles, das aus seiner Biographie berichtet wird, läßt ihn als düsteren Grübler erscheinen, der nur selten gelächelt und nie gelacht habe. Seine Werke verfaßte er der Legende nach am liebsten in einer Höhle auf Salamis - also ein etwas verschrobener Charakter. Kritiker, vor allem Aristophanes in verschiedenen Komödien und später Schlegel sowie Nietzsche, werfen ihm vor, das Ideal der griechischen Tragödie und der Klassik in den Schmutz gezogen und letztlich die Tragödie damit zerstört zu haben. In die gleiche Richtung zielen Kategorisierungen, die ihn als "Aufklärer", "Rationalisten", Anhänger des Anaxagoras und sogar des Protagoras bezeichnen. Bezeichnenderweise meint Nietzsche in der Geburt der Tragödie, Euripides habe nur einen zustimmenden Zuschauer gehabt, und das sei Sokrates gewesen.

Wenn Vergleiche zwischen Dichtern überhaupt ohne weiteres möglich sind, scheint mir ein Vergleich mit Schiller zutreffender. Wie dieser erlebte Euripides die Krise einer Gesellschaft, in der die Oberschicht zunehmend degenerierte und die Massen verrohten. Und wie Schiller sah er in der Kunst die einzige Chance, diesen Zerfall umzukehren und wieder an klassische Werte und Ideale anzuknüpfen. Klagte Sophokles im berühmten Chorlied des Ödipus: "Was soll ich noch Reigen führen" oder "Hingeht das Göttliche", entgegnete Euripides im Chorlied des Herakles: "Ich werde nicht aufhören, die Chariten mit den Musen zu vereinen, die süßeste Gemeinschaft. Ich will nicht leben in Musenlosigkeit."

Euripides war Zeuge, wie die athenischen imperialistischen Phantasien im Peloponnesischen Krieg, vor dessen Ende er starb, zerplatzten. Die alte Ordnung, die sich ohnehin weit von den Idealen Solons entfernt hatte, brach auseinander, und eine neue hatte noch nicht Fuß gefaßt. Hinzu kamen innenpolitische Turbulenzen, Demoralisierung und Verlust moralischer Werte, Polarisierung der politischen und sozialen Schichten und die Bildung "politischer Vereine" junger Männer (Hetairien) aus vornehmen Familien, die ihre eigenen Vorstellungen von Recht mittels Gewalttaten durchzusetzen suchten: Politischer Mord war an der Tagesordnung. Thukydides berichtet davon eindrücklich: "So tobten also Parteikämpfe in allen Städten, und die etwa erst später dahin kamen, die spornte die Kunde vom bereits Geschehenen erst recht zum Wettlauf im Erfinden immer der neuesten Art ausgeklügelter Anschläge und unerhörter Rachezüge." (Thuc. 3, 82). Euripides reflektiert diese Situation wachsender Gewaltbereitschaft in Athen in seinem Stück Orestes (408 v. Chr.). Er zeigt in seinen Werken auf, wie Gewalt Eigendynamik erhält, außer Kontrolle gerät und Rache zum Selbstzweck wird, wie Macht um ihrer selbst willen angestrebt und Menschen Opfer ihrer Leidenschaften werden. So sagte Medea, bevor sie ihre Kinder aus Rache an ihrem Mann Jason ermorde: "Ich erkenne das Grauenvolle, das ich zu tun gedenke. Doch mein Zorn ist stärker als meine vernünftigen Gedanken."

Bei Euripides tragen die Gestalten noch die Namen der Heroen der Heldensagen und Mythen, aber sie erscheinen nicht als übermenschliche Kolossalgestalten, sondern Menschen, die auf menschliche Weise ein tragisches Schicksal erfahren und meistern oder an ihm zerbrechen. Oft greift er weniger behandelte Sagen oder Aspekte auf und geht mit dem Stoff teilweise sehr frei um. "Tun Götter Übles, sind es Götter nicht", erklärt er und versucht nicht wie andere, aus den überlieferten Götter- und Heldengeschichten das wegzuräumen, was ihm anstößig und Göttern unwürdig erscheint. Der Mensch selbst ist handelndes Subjekt und trägt die Verantwortung im Guten wie im Bösen: Medea könnte unangefochten mit oder ohne Kinder nach Athen fliehen und tut doch das Entsetzliche. Statt der gewohnten Helden erweisen sich oft Menschen, die vom Schicksal ins Unglück gestürzt wurden (Sklaven, Kriegsgefangene) als die moralisch größeren und erhabeneren Menschen als der Herrscher oder Held.

Zur Überlieferung

Euripides hatte zwar zu Lebzeiten weniger Erfolg als seine beiden Kollegen, aber schon im 4. Jh. wurde er zu einem der beliebtesten Tragiker. Im 5. Jh. waren Wiederaufführungen selten, als besondere Ehrung ist eine für Aischylos in Athen bezeugt. Aber im 4. Jh. wurden die antiken "Klassiker" und vielfach Euripides verstärkt wiederaufgeführt. In den 30er Jahren des 4. Jh. setzte ein athenischer Politiker namens Lykurgos als "Kulturdezernent" der Stadt ein Gesetz durch, daß eine philologisch gereinigte Standardausgabe der Tragiker in Auftrag gab. Zudem wurden die Regisseure verpflichtet, sich an diese Ausgabe zu halten, was kontrolliert wurde, denn ein Beamter saß dabei und las mit. Das war nötig, weil die ursprünglichen Textfassungen vielfach durch Interpolationen verschiedenster Art "verunreinigt" worden waren.

Zu Beginn des 3. Jh. wurde in Alexandrien das "Museion" gegründet, das sich auch der Erhaltung der griechischen Literatur verpflichtet fühlte. Daraus entwickelte sich die Bibliothek und eine Philologie, die textkritische Ausgaben anstrebte. Eine erste "kritische Werkausgabe" der Schriften des Euripides erstellte Aristophanes von Byzanz. Der König Ptolemaios Euergetes wußte, daß es in Athen ein "Staatsexemplar" der Tragiker gab und wollte sich Euripides "ausleihen". Die Athener waren berechtigterweise mißtrauisch, er war als Bücherliebhaber bekannt, und verlangten eine sehr hohe Kaution, die Ptolemaios verfallen ließ. Dieses Exemplar bildet die wesentliche Quelle der heutigen Euripides-Überlieferungen.

Schiller und Euripides

Die nebenstehenden Auszüge stammen aus dem Stück Die Phönizierinnen, das den zweiten Teil einer Trilogie bildet und den Bruderkampf zwischen den Ödipus-Söhnen schildert. Ödipus hatte festgesetzt, daß jeder der beiden Brüder jeweils ein Jahr herrschen solle und dann die Macht an seinen Bruder abgeben müsse, um sie ein Jahr später wieder zu übernehmen. Jetzt wäre Polynikes an der Reihe, aber sein Bruder Eteokles weigert sich, die Macht abzugeben. Daraufhin erscheint Polynikes mit einem Heer vor der Stadt. Ihre Mutter Jokaste versucht, zu vermitteln. Der Übersetzer dieser Szene ist niemand anderer als Friedrich Schiller, der neben dieser Szene noch die ganze Iphigenie in Aulis übersetzt hat. Schiller zog für seine Übersetzung auch andere Übersetzungen heran, darunter vor allem die in lateinischer Sprache 1694 erschienene Übertragung von Josua Bernes, aber auch französische Prosaübersetzungen und die deutsche von J.J. Steinbrüchel von 1763.

Seine Begeisterung für Euripides begründet er in einem Brief an Karoline von Beulwitz vom 27. November 1788 so: "Jetzt übersetze ich die Phönizierinnen des Euripides; die schöne Szene, worin Jokaste sich die Übel der Verbannung von Polynikes erzählen läßt, ist es, was mich vorzüglich dazu bestochen hat. Ich bedaure nur, daß ich bei diesen Arbeiten zu sehr pressiert bin und mich nicht genug mit dem Geiste meines Originals familiarisieren konnte, ehe ich die Feder ansetzte. Aber die Arbeit gibt mir Vergnügen und kann am Ende doch keine andre, als vorteilhafte Wirkungen auf meinen eigenen Geist haben." Und wenige Tage später heißt es in einem Brief an Charlotte von Lengefeld: "Mein Euripides gibt mir noch viel Vergnügen und ein großer Teil davon kommt auch auf sein Altertum. Den Menschen sich so ewig selbst gleich zu finden, dieselben Leidenschaften, dieselben Kollisionen der Leidenschaften, dieselbe Sprache der Leidenschaften! Bei dieser unendlichen Mannigfaltigkeit immer doch diese Ähnlichkeit, diese Einheit derselben Menschenform! Oft ist die Ausführung so, daß kein anderer Dichter sie besser machen könnte; zuweilen aber verbittert er mir Genuß und Mühe durch viele Langeweile. Im Lesen ginge sie noch an; aber sie übersetzen zu müssen, und zwar gewissenhaft! Oft macht mir das Schlechtere die meiste Mühe. Im nächsten Monat werden Sie wohl die Früchte meines jetzigen Fleißes zu lesen bekommen."

Tillmann Müchler


Auszüge aus den Phönizierinnen

    Die verfeindeten Brüder Polynices und Eteokles,
    dazwischen ihre Mutter Jokaste.

    Polynices:... Doch selbst noch jetzt bin ich bereit - gibt man,
    Was mein ist, mir zurück - der Griechen Heer
    Aus diesem Land in Frieden wegzuführen,
    Mein Jahr, wie es mir zukommt, zu regieren,
    Und ihm ein Gleiches wieder zu gestatten.
    So bleibt mein Vaterland von Drangsal frei,
    Und keine Leiter naht sich diesen Türmen.
    Verschmäht man das - nun, so entscheide denn
    Das Schwert! ...

    Eteokles: ... Sieh, Mutter! Zu den Sternen dort - ich sag'
    Es ohne Scheu - dort, wo der Tag anbricht,
    Stieg' ich hinauf, vermöchten's Menschenkräfte,
    Und in der Erden Tiefen taucht' ich unter,
    Die höchste der Göttinnen, die Gewalt,
    Mir zu erringen! Mutter, und dieses Gut
    Sollt' ich in andern Händen lieber sehn
    Als in den meinigen? Der ist kein Mann,
    Der, wo das Größre zu gewinnen ist,
    Am Kleinern sich genügen läßt. - Und wie
    Erniedrigend für mich, wenn dieser da
    Mit Feu'r und Schwert, was er nur will, von mir
    Ertrotzen könnte! Wie beschimpfend selbst
    Für Theben, wenn die Speere der Argiver
    Das Szepter mir abängstigten! Nein, Mutter!
    Nein! Nicht die Waffen in der Hand, hätt' er
    Von Frieden sprechen sollen! Was ein Schwert
    Ausrichten mag, tut auch ein Wort der Güte.
    Will er im Lande sonst sich niederlassen?
    Recht gern! Doch König wird er nicht! So lange
    Ich es zu hindern habe, nicht! - Ihm dienen,
    Da ich sein Herr sein kann? Nur zu! Er rücke
    Mit Schwert und Feuer auf mich an, er decke
    Mit Rossen und mit Wagen das Gefilde!
    Mein König wird er niemals! Nie und nimmer!
    Muß Unrecht sein, so sei's um eine Krone,
    In allem andern sei man tugendhaft ...

    Jokaste: Mein Sohn! Mein Eteokles! Alles ist
    Nicht schlimm am Alter. Die Erfahrung krönt's
    Mit mancher Weisheit, die der Jugend mangelt.
    Warum von der Göttinnen schlimmster dich,
    Dich von der Ehrbegier beherrschen lassen?
    O meide die Abscheuliche! In manch
    Glückselig Haus, in manch glückselig Land
    Schlich sie sich ein; doch, wo man sie empfing,
    Zog sie nie anders aus, als mit Verderben.
    Sieh, und nach dieser rasest du! Wie viel
    Vortrefflicher ist Gleichheit! Gleichheit knüpft
    Den Bundsverwandten mit dem Bundsverwandten,
    Den Freund zusammen mit dem Freund, und Länder
    Mit Ländern! Gleichheit ist das heilige Gesetz
    Der Menschheit. Dem Vermögenderen lebt
    Ein ew'ger Gegner in dem Ärmeren, stets
    Bereit ihn zu bekriegen. Gleichheit gab
    Den Menschen Maß, Gewicht und Zahl. Das Licht
    Der Sonne und die strahlenlose Nacht
    Läßt sie in gleichem Zirkelgange wechseln -
    Und, eines neidisch auf des andern Sieg,
    Wetteifern beide nur, der Welt zu dienen.
    Und dich befriedigt nicht der gleiche Teil
    Am Throne? Du mißgönnst ihm auch den seinen?
    Ist das gerecht, mein Sohn? Was ist so Großes
    Denn an der Macht, der glücklichen Gewalttat,
    Daß du so übermäßig sie vergötterst?
    Der Menschen Augen auf sich ziehn? Ist das
    Das Herrliche? Das ist ja nichts! Bei vielen
    Besitzungen viel Müh' und Angst empfinden?
    Denn was ist Überfluß? Sprich selbst. Ein Name!
    Just haben, was er braucht, genügt dem Weisen.
    Und Schätze sind kein Eigentum des Menschen:
    Der Mensch verwaltet nur, was ihm die Götter
    Verliehn und, wenn sie wollen, wieder nehmen:
    Ein Tag macht den Begüterten zum Bettler.
    Nun lass' ich unter Zweien dir die Wahl:
    Was willst du lieber? Deine Vaterstadt
    Erhalten oder herrschen? - Du willst herrschen!
    Wie aber, wenn der Sieger wird und seiner
    Argiver Scharen deine Heere schlagen?
    Willst du dann Zeuge sein, wie Kadmus Stadt
    Zu Grunde stürzet, seine Jungfrauen,
    Ein Raub des Siegers, in die Knechtschaft wandern? ...

    (Sich zu Polynices wendend.)

    Und dir, mein Polynices, hat Adrast
    Unklug gedient, und unklug bist du selbst,
    Daß du der Heimat nahst mit Kriegesnot.
    Gesetzt (wovor die Götter uns bewahren!)
    Du unterwerfest dir die Stadt, was für
    Trophäen willst du deinem Sieg errichten?
    Mit welchen Opfern den Unsterblichen
    Für deines Vaterlandes Umsturz danken?
    Mit welcher Aufschrift die gemachte Beute
    Am Inachus aufstellen? "Diese Schilde
    Weiht, nach Einäscherung der Vaterstadt,
    Den Göttern Polynices?" - Das verhüte
    Der Himmel, mein geliebter Sohn, daß je
    Ein solcher Ruhm dich bei den Griechen preise!



Übersetzt von Friedrich Schiller, zitiert nach Sämtliche Werke, Band III, München, 1975


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