S C H I L L E R

L E B T

F R I E D R I C H   S C H I L L E R
Die Wirkung des Erhabenen bei Euripides  —  Auszüge aus Andromache

Der Mensch müsse größer sein als sein Schicksal, fand Schiller. Wer es selbst noch nicht erfahren hat, das große, zermalmende Unheil, der kann mittels der tragischen Bühne seine inneren Seelenkräfte üben, um im Ernstfall das ihn selbst oder sein ganzes Volk treffende Unglück nicht nur zu ertragen, sondern womöglich abzuwenden.

Eine solche Figur der klassischen Tragödie, deren innere Kraft im gleichen Maße wächst wie ihr äußeres Unglück, ist die Troerin Andromache. Hektors Gattin fasziniert uns schon bei Homer, um so mehr jedoch in Euripides' nach ihr benannter Tragödie. Andromaches Schicksal ist hart: Der Krieg ist verloren, ihr Mann Hektor von Achilles erschlagen, der kleine Sohn Astyanax als künftiger Feind präventiv von der Burgmauer gestürzt und sie selbst, zusammen mit den anderen Frauen Trojas, in die Sklaverei verschleppt. Andromache wird Neoptolemos, dem Sohn Achills, als Beutefrau zugeteilt. Das ist ihr Schicksal, bevor Euripides' Tragödie beginnt.

Sie ist nicht daran zerbrochen und hat einen Sohn von Neoptolemos, der daneben standesgemäß und unglücklich mit Hermione, der jungen Tochter des Spartanerkönigs Menelaos verheiratet ist. Hermione ist ebenso verwöhnt wie innerlich labil und daher hochfahrend, arrogant und hemmungslos in ihrer Eifersucht. Noch kinderlos, gibt sie Andromache die Schuld daran und hat ihren Vater in einen Mordplan gegen Andromache und deren Sohn eingespannt.

Andromache genießt Unterstützung bei den Frauen von Phthia, welche den Chor bilden. Sie hat von dem Komplott erfahren, ihren Sohn (so meint sie) anderenorts in Sicherheit gebracht, viele Boten an Achills alten Vater Peleus um Hilfe nach Pharsalos entsandt und sich selbst in den Tempel der Thetis, der Sage nach die Mutter Achills, geflüchtet. Die Gefahr ist akut, denn Neoptolemos ist verreist - zum Orakel nach Delphi.

Bewundernd vernimmt man zunächst, wie Andromache mit der paranoiden Hermione umgeht. "Mädchen", sagt sie zu ihr, wie sollte denn ich, eine arme Sklavin, der Königstochter den Gatten wegnehmen können? Und dann spricht sie von ihrer glücklichen Ehe mit Hektor und daß es in der Liebe vielmehr auf Tugend als auf äußere Reize ankomme. Dabei ist Andromache durchaus wehrhaft, sie durchschaut die Jüngere, aber hält ihre Verachtung im Zaum. Sie tadelt sie streng, aber an keinem Punkt geht es ihr wie Schillers Königinnen Maria Stuart und Elisabeth, die im Rededuell von Haß, der aus dem Gefühl der Erniedrigung kommt, übermannt werden. Andromaches Seele ist so stark, daß man sie nicht erniedrigen kann. Starke Seelen brauchen nicht zu hassen.

Doch nun erscheint Menelaos, der bereits den Sohn als Geisel hält und von Andromache verlangt, sofort den Tempel zu räumen, damit er sie töten kann; andernfalls müsse ihr Sohn sterben. Hier folgt nun Andromaches große Erwiderung an Menelaos (siehe Auszüge), die zugleich das zentrale Anliegen des Stücks berührt: Wie kann sich ein König zum Werkzeug der absurden Eifersucht seiner kindischen Tochter machen, anstatt so zu handeln, wie es wirklichen Königen geziemt? Und Punkt für Punkt legt sie dem Mann auseinander, warum sein Vorgehen in jeder Hinsicht falsch ist.

Aber zunächst wird Menelaos noch grausamer. Betrogen habe er sie; des Sohnes Leben zu schonen, habe er nur versprochen, um sie aus dem Tempel zu locken. Ob der Knabe leben soll, möge Hermione entscheiden: ein Todesurteil! Das ganze griechische Theater wird sich bei dem herzzerreißenden Klagelied von Mutter und Sohn an das Schicksal des noch in Troja ermordeten Sohnes von Hektor und Andromache erinnert haben (siehe Auszüge).

Im rechten Moment kommt Peleus an, der Urgroßvater des Knaben. Nicht mit Waffengewalt, sondern allein durch die Kraft seiner mutigen, treffenden Worte stampft der Alte mit geradezu jugendlicher Verve den Menelaos förmlich in den Boden. Mit Hilfe des kleinen Urenkels nimmt er eigenhändig der Andromache die Fesseln ab. Erschreckt meint die Chorführerin: "Ein zügelloses Wesen ist der Alten Art und schwer zu zähmen, weil sie schnell zum Zorne sind." (V.727/8) Doch, siehe da, Menelaos räumt das Feld. Nach dem nächsten Feldzug werde er wiederkommen, sagt er, und den Streitfall mit seinem Schwiegersohn erörtern. Wirkt hier Andromaches vernünftige Rede doch nach? Oder hat Menelaos beeindruckt, wie der alte Peleus sich an das Volk, an den Chor gewandt hat - noch dazu mit einem Argument, das Menelaos sehr unangenehm sein muß:

    Peleus:
    "Welch üble Sitte waltet doch in Griechenland!
    Wenn über seinen Feind ein Heer den Sieg errang,
    So nennt man solches nicht ein Werk der Kämpfenden:
    Des Heeres Führer trägt allein den Ruhm davon,
    Er - einer unter Tausenden - die Lanze schwang
    Und nicht mehr tat als einer, doch mehr Ruhm gewinnt.
    Des Volkes Häupter, die sich hoch in Würden blähn,
    Tun stolzer als die Menge, sind sie nichtig auch;
    Doch tausendmal gescheiter sind die Niedern oft,
    Wenn's nicht an Selbstvertrauen und am Willen fehlt."
    (V.693-702)

Solches Selbstvertrauen in den Zuschauern seines Stücks zu stärken, darauf kam es dem Euripides ganz offensichtlich an, als er die Tragödie Andromache zwischen 428 und 424 v.Chr. zu Beginn des Peloponnesischen Krieges schrieb.

Von Menelaos im Stich gelassen, bricht Hermione in einer Weise psychisch zusammen, daß sie uns in ihrer selbstmörderischen Verzweiflung und Angst vor Strafe durch den Gatten schon wieder leid tut. Als ihr früherer Verlobter und Cousin Orest nun auftaucht, müßte er sie eigentlich nur noch mit sich nehmen, aber es gibt kein Happy End. Denn Orest, der als "Muttermörder" Verfemte, ist auch so ein Haßkranker, innerlich destabilisiert wie Hermione: Er hat inzwischen den Neoptolemos zum Orakel nach Delphi gelockt und ihn dort ermorden lassen. Euripides läßt hier auch seine geringe Meinung vom Delphischen Orakel durchblicken.

Am Ende ist alles so verwickelt, daß nur noch ein Deus ex Machina helfen kann: Die Göttin Thetis kommt dem alten Peleus zu Hilfe und sorgt dafür, daß Andromaches und Neoptolemos' Sohn ein neues Königsgeschlecht im Land der Molosser begründen. Andromache überlebt - nicht nur in Euripides' Tragödie, sondern durch sie und für alle Zeiten als Muster einer Frau, die größer ist als ihr Schicksal.

Gabriele Liebig<


Auszüge aus Andromache

    Andromaches Antwort auf Menalaos, der sie im Auftrag seiner Tochter töten will und ihr mit der Ermordung des Sohnes droht:

    O Ruhm, o Ruhm, wie viele tausend Sterbliche,
    Die nichts gewesen, hobest du zur Macht empor!
    Wohl preis ich jene glücklich, die sich wahren Ruhm
    Errungen; wer sich ihn erlog, hat seinen Ruhm
    Dahin: dem Glücke dankt er's, daß er weise scheint.
    Du nahmest einst mit einem auserlesenen
    Hellenenheere Troja, du Feigherziger,
    Der auf das Wort der jugendlichen Tochter so
    Aufstürmt im Zorne, daß er sich zum Kampf erhebt
    Mit mir, dem armen Sklavenweib? Ich achte dich
    Nicht würdig Trojas oder Troja dein hinfort.
    Wohlan!
    Mich töte deine Tochter, sie verderbe mich:
    Der Schmach der Blutschuld wird sie dann nicht mehr entfliehn.
    Und im Gericht des Volkes mußt du selber auch
    Die Schuld des Mordes tragen, den du mitverübt.
    Doch wenn ich selbst entrinne, wenn kein Tod mich trifft,
    Erschlagt ihr meinen Knaben? Wie verschmerzte dann
    Der Vater wohl gleichmütig seines Sohnes Tod?
    Fürwahr, so ganz unmännlich nennt ihn Troja nicht!
    Nein: Was die Pflicht ihn lehrte, was Peleus', des Ahns,
    Und seines Vaters würdig ist, das wird er tun:
    Er wird dein Kind verstoßen. Soll ein andrer dann
    Sie frein, was wirst du sagen? Daß sie - selber gut -
    Dem schlechten Mann entflohn? Doch das wird er gewahr!
    Wer mag sie frein auch? Oder soll sie unvermählt
    In deinem Haus ergrauen? Armer, siehst du nicht
    Das Meer so vieler Übel, das dich rings umgibt? (...)

    Um kleine Dinge schaffe man kein großes Leid,
    Und wenn ein unheilvolles Leid wir Frauen sind,
    So sei der Männer Weise nicht den Frauen gleich!
    Hab ich mit Zaubereien dir dein Kind umstrickt
    Und ihren Leib verschlossen, wie sie selbst erklärt:
    Dann willig, nicht gezwungen, nicht den Opferherd
    Umschlingend, unterwerf ich selbst der Buße mich
    Vor deinem Eidam, der mir kein geringres Leid
    Verhängen soll, wenn ich ihn kinderlos gemacht.
    So lautet unsre Rede; doch bei deinem Sinn
    Besorg ich eins nur: hadernd um ein schnödes Weib
    Hast du auch schon der Phryger arme Stadt zerstört.
    (V.319-363)

    Menalaos läßt Andromache gefesselt aus dem Tempel führen. Auch der Tod des Kindes scheint besiegelt, denn die Entscheidung liegt bei der Anstifterin des Mordplans, Hermione.

    S t r o p h e

    Andromache
    Seht, mit Stricken die blutigen
    Hände umwunden, muß ich hinab
       Unter die Erde gehen.

    Der Knabe
    Mutter, Mutter, in deinem Arm
       Geh ich mit dir hinunter.

    Andromache
    Mörderisch Opfer, ihr Herrscher im
    Phthierlande!

    Der Knabe
                 O Vater, komm
       Deinen Lieben als Retter!

    Andromache
    Du wirst ruhen an meiner Brust,
    Teurer Sohn, an der Mutter Brust,
    Bei den Toten im Grabe - tot.

    Der Knabe
    Weh, was soll ich Verlorener,
       Und was du, arme Mutter?

    Menelaos
       In die Erde hinab! Denn ihr kamet hierher
       Aus feindlicher Burg, und ein doppeltes Leid
       Rafft euch in den Tod: dich tötet mein Spruch,
       Und den Knaben erschlägt Hermione dir,
       Mein Kind. Denn ein törichter Unsinn ist's,
       Zu verschonen den Feind und des Feindes Geschlecht,
       Kann töten ich ihn
          Und das Haus von Bekümmernis lösen.

    G e g e n s t r o p h e

    Andromache
    O mein Gatte, des Priamos
    Sohn, ach könnte mir deine Hand
       Und deine Lanze helfen!

    Der Knabe
    Ach, wo find ich ein Zauberlied,
       Das vom Tode mich rettet?

    Andromache
    Flehe, Kind, und umschlinge das
    Knie des Herrschers!

    Der Knabe
                    O lieber Herr,
       Lieber, laß mich am Leben!

    Andromache
    Tränen füllen die Augen mir:
    Strömend rinnen sie wie ein Quell
    Aus dem Dunkel des schroffen Fels.

    Der Knabe
    Weh mir, ach wo finde ich nur
       Rettung aus dem Verderben?

    Menelaos
       Was umschlingst du mein Knie, was flehst du mich an,
       Mich, taub wie der Fels, wie die Woge des Meeres?
       Wohl bin ich den Meinen ein Schutz: zu dir
       Zieht Liebe mich nicht, denn ich habe so viel
       An Leben verschwendet, bis Trojas Burg
       Ich erobert und sie, die Mutter du nennst,
       Ihr dankst du das Los,
          Das dich zu den Schatten hinabruft.
    (V.501-544)



Euripides. Sämtliche Tragödien, Band I. Nach der Übersetzung von J.J.Donner, bearbeitet von Bolko Hagen, Kröner Bd. 284, Stuttgart 1958.


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