Bewundernd vernimmt man zunächst, wie Andromache mit der paranoiden Hermione umgeht. "Mädchen", sagt sie zu ihr, wie sollte denn ich, eine arme Sklavin, der Königstochter den Gatten wegnehmen können? Und dann spricht sie von ihrer glücklichen Ehe mit Hektor und daß es in der Liebe vielmehr auf Tugend als auf äußere Reize ankomme. Dabei ist Andromache durchaus wehrhaft, sie durchschaut die Jüngere, aber hält ihre Verachtung im Zaum. Sie tadelt sie streng, aber an keinem Punkt geht es ihr wie Schillers Königinnen Maria Stuart und Elisabeth, die im Rededuell von Haß, der aus dem Gefühl der Erniedrigung kommt, übermannt werden. Andromaches Seele ist so stark, daß man sie nicht erniedrigen kann. Starke Seelen brauchen nicht zu hassen.
Doch nun erscheint Menelaos, der bereits den Sohn als Geisel hält und von Andromache verlangt, sofort den Tempel zu räumen, damit er sie töten kann; andernfalls müsse ihr Sohn sterben. Hier folgt nun Andromaches große Erwiderung an Menelaos (siehe Auszüge), die zugleich das zentrale Anliegen des Stücks berührt: Wie kann sich ein König zum Werkzeug der absurden Eifersucht seiner kindischen Tochter machen, anstatt so zu handeln, wie es wirklichen Königen geziemt? Und Punkt für Punkt legt sie dem Mann auseinander, warum sein Vorgehen in jeder Hinsicht falsch ist.
Aber zunächst wird Menelaos noch grausamer. Betrogen habe er sie; des Sohnes Leben zu schonen, habe er nur versprochen, um sie aus dem Tempel zu locken. Ob der Knabe leben soll, möge Hermione entscheiden: ein Todesurteil! Das ganze griechische Theater wird sich bei dem herzzerreißenden Klagelied von Mutter und Sohn an das Schicksal des noch in Troja ermordeten Sohnes von Hektor und Andromache erinnert haben (siehe Auszüge).
Im rechten Moment kommt Peleus an, der Urgroßvater des Knaben. Nicht mit Waffengewalt, sondern allein durch die Kraft seiner mutigen, treffenden Worte stampft der Alte mit geradezu jugendlicher Verve den Menelaos förmlich in den Boden. Mit Hilfe des kleinen Urenkels nimmt er eigenhändig der Andromache die Fesseln ab. Erschreckt meint die Chorführerin: "Ein zügelloses Wesen ist der Alten Art und schwer zu zähmen, weil sie schnell zum Zorne sind." (V.727/8) Doch, siehe da, Menelaos räumt das Feld. Nach dem nächsten Feldzug werde er wiederkommen, sagt er, und den Streitfall mit seinem Schwiegersohn erörtern. Wirkt hier Andromaches vernünftige Rede doch nach? Oder hat Menelaos beeindruckt, wie der alte Peleus sich an das Volk, an den Chor gewandt hat - noch dazu mit einem Argument, das Menelaos sehr unangenehm sein muß:
Peleus:
"Welch üble Sitte waltet doch in Griechenland!
Wenn über seinen Feind ein Heer den Sieg errang,
So nennt man solches nicht ein Werk der Kämpfenden:
Des Heeres Führer trägt allein den Ruhm davon,
Er - einer unter Tausenden - die Lanze schwang
Und nicht mehr tat als einer, doch mehr Ruhm gewinnt.
Des Volkes Häupter, die sich hoch in Würden blähn,
Tun stolzer als die Menge, sind sie nichtig auch;
Doch tausendmal gescheiter sind die Niedern oft,
Wenn's nicht an Selbstvertrauen und am Willen fehlt."
(V.693-702)
Solches Selbstvertrauen in den Zuschauern seines Stücks zu stärken, darauf kam es dem Euripides ganz offensichtlich an, als er die Tragödie Andromache zwischen 428 und 424 v.Chr. zu Beginn des Peloponnesischen Krieges schrieb.
Von Menelaos im Stich gelassen, bricht Hermione in einer Weise psychisch zusammen, daß sie uns in ihrer selbstmörderischen Verzweiflung und Angst vor Strafe durch den Gatten schon wieder leid tut. Als ihr früherer Verlobter und Cousin Orest nun auftaucht, müßte er sie eigentlich nur noch mit sich nehmen, aber es gibt kein Happy End. Denn Orest, der als "Muttermörder" Verfemte, ist auch so ein Haßkranker, innerlich destabilisiert wie Hermione: Er hat inzwischen den Neoptolemos zum Orakel nach Delphi gelockt und ihn dort ermorden lassen. Euripides läßt hier auch seine geringe Meinung vom Delphischen Orakel durchblicken.
Am Ende ist alles so verwickelt, daß nur noch ein Deus ex Machina helfen kann: Die Göttin Thetis kommt dem alten Peleus zu Hilfe und sorgt dafür, daß Andromaches und Neoptolemos' Sohn ein neues Königsgeschlecht im Land der Molosser begründen. Andromache überlebt - nicht nur in Euripides' Tragödie, sondern durch sie und für alle Zeiten als Muster einer Frau, die größer ist als ihr Schicksal.
Gabriele Liebig<
Auszüge aus Andromache
Andromaches Antwort auf Menalaos, der sie im Auftrag seiner Tochter töten will und ihr mit der Ermordung des Sohnes droht:
O Ruhm, o Ruhm, wie viele tausend Sterbliche,
Die nichts gewesen, hobest du zur Macht empor!
Wohl preis ich jene glücklich, die sich wahren Ruhm
Errungen; wer sich ihn erlog, hat seinen Ruhm
Dahin: dem Glücke dankt er's, daß er weise scheint.
Du nahmest einst mit einem auserlesenen
Hellenenheere Troja, du Feigherziger,
Der auf das Wort der jugendlichen Tochter so
Aufstürmt im Zorne, daß er sich zum Kampf erhebt
Mit mir, dem armen Sklavenweib? Ich achte dich
Nicht würdig Trojas oder Troja dein hinfort.
Wohlan!
Mich töte deine Tochter, sie verderbe mich:
Der Schmach der Blutschuld wird sie dann nicht mehr entfliehn.
Und im Gericht des Volkes mußt du selber auch
Die Schuld des Mordes tragen, den du mitverübt.
Doch wenn ich selbst entrinne, wenn kein Tod mich trifft,
Erschlagt ihr meinen Knaben? Wie verschmerzte dann
Der Vater wohl gleichmütig seines Sohnes Tod?
Fürwahr, so ganz unmännlich nennt ihn Troja nicht!
Nein: Was die Pflicht ihn lehrte, was Peleus', des Ahns,
Und seines Vaters würdig ist, das wird er tun:
Er wird dein Kind verstoßen. Soll ein andrer dann
Sie frein, was wirst du sagen? Daß sie - selber gut -
Dem schlechten Mann entflohn? Doch das wird er gewahr!
Wer mag sie frein auch? Oder soll sie unvermählt
In deinem Haus ergrauen? Armer, siehst du nicht
Das Meer so vieler Übel, das dich rings umgibt? (...)
Um kleine Dinge schaffe man kein großes Leid,
Und wenn ein unheilvolles Leid wir Frauen sind,
So sei der Männer Weise nicht den Frauen gleich!
Hab ich mit Zaubereien dir dein Kind umstrickt
Und ihren Leib verschlossen, wie sie selbst erklärt:
Dann willig, nicht gezwungen, nicht den Opferherd
Umschlingend, unterwerf ich selbst der Buße mich
Vor deinem Eidam, der mir kein geringres Leid
Verhängen soll, wenn ich ihn kinderlos gemacht.
So lautet unsre Rede; doch bei deinem Sinn
Besorg ich eins nur: hadernd um ein schnödes Weib
Hast du auch schon der Phryger arme Stadt zerstört.
(V.319-363)
Menalaos läßt Andromache gefesselt aus dem Tempel führen. Auch der Tod des Kindes scheint besiegelt, denn die Entscheidung liegt bei der Anstifterin des Mordplans, Hermione.
S t r o p h e
Andromache
Seht, mit Stricken die blutigen
Hände umwunden, muß ich hinab
Unter die Erde gehen.
Der Knabe
Mutter, Mutter, in deinem Arm
Geh ich mit dir hinunter.
Andromache
Mörderisch Opfer, ihr Herrscher im
Phthierlande!
Der Knabe
O Vater, komm
Deinen Lieben als Retter!
Andromache
Du wirst ruhen an meiner Brust,
Teurer Sohn, an der Mutter Brust,
Bei den Toten im Grabe - tot.
Der Knabe
Weh, was soll ich Verlorener,
Und was du, arme Mutter?
Menelaos
In die Erde hinab! Denn ihr kamet hierher
Aus feindlicher Burg, und ein doppeltes Leid
Rafft euch in den Tod: dich tötet mein Spruch,
Und den Knaben erschlägt Hermione dir,
Mein Kind. Denn ein törichter Unsinn ist's,
Zu verschonen den Feind und des Feindes Geschlecht,
Kann töten ich ihn
Und das Haus von Bekümmernis lösen.
G e g e n s t r o p h e
Andromache
O mein Gatte, des Priamos
Sohn, ach könnte mir deine Hand
Und deine Lanze helfen!
Der Knabe
Ach, wo find ich ein Zauberlied,
Das vom Tode mich rettet?
Andromache
Flehe, Kind, und umschlinge das
Knie des Herrschers!
Der Knabe
O lieber Herr,
Lieber, laß mich am Leben!
Andromache
Tränen füllen die Augen mir:
Strömend rinnen sie wie ein Quell
Aus dem Dunkel des schroffen Fels.
Der Knabe
Weh mir, ach wo finde ich nur
Rettung aus dem Verderben?
Menelaos
Was umschlingst du mein Knie, was flehst du mich an,
Mich, taub wie der Fels, wie die Woge des Meeres?
Wohl bin ich den Meinen ein Schutz: zu dir
Zieht Liebe mich nicht, denn ich habe so viel
An Leben verschwendet, bis Trojas Burg
Ich erobert und sie, die Mutter du nennst,
Ihr dankst du das Los,
Das dich zu den Schatten hinabruft.
(V.501-544)
Euripides.
Sämtliche Tragödien, Band I. Nach der Übersetzung von J.J.Donner, bearbeitet von Bolko Hagen,
Kröner Bd. 284, Stuttgart 1958.
Zur Übersicht der Ausgrabungen