S C H I L L E R

L E B T

F R I E D R I C H   S C H I L L E R
Heraklit der Dunkle - "Alles fließt"  —  Auszüge

Als Euripides dem Sokrates die Schrift des Heraklit zu lesen gab und ihn fragte, wie er darüber denke, habe Sokrates erwidert: "Was ich davon verstanden habe, zeugt von hohem Geist; und, wie ich glaube, auch was ich nicht verstanden habe; nur bedarf es dazu eines delischen Tauchers."1

Die Lebensdaten des altgriechischen Philosophen Heraklit, Blosons Sohn, lassen sich nicht genau bestimmen, vermutlich 540-480 v.Chr. Nach Diogenes Laertius fiel seine Blütezeit2 in die 69. Olympiade3. Er entstammt einer der vornehmsten Familien von Ephesos, die sich seit Gründung der Stadt im 10. Jh. unter Androkles, dem Sohn des Athenerkönigs Kodros, das Vorrecht bewahrte, den königlichen Opferpriester der eleusischen Demeter zu stellen. Heraklit soll auf dieses Amt zugunsten seines Bruders verzichtet und seine einzige Schrift im Tempel der Artemis niedergelegt haben. Mit der ihm nachgesagten Misanthropie und Befremdlichkeit sonderte er sich bewußt von der Menge ab. Seine Lehre galt schon in der Antike als schwer verständlich - daher sein Beiname "der Dunkle".

Als Jüngling erklärte er, nichts zu wissen, als reifer Mann dagegen, alles zu wissen. Er hatte nie einen Lehrer, erklärte vielmehr, er erforsche sich selbst und schöpfe sein ganzes Wissen aus sich selbst. Hart rügte er die Politik der Ephesier, weshalb sie ihn aufforderten, dann doch selbst als Gesetzgeber aufzutreten. Dieses Ansinnen wies er mit der Begründung von sich, die Stadt sei bereits zu sehr der schlechten Verfassung anheimgefallen. Älterwerdend wurde ihm das Zusammenleben mit den Menschen zuviel, weshalb er sich ins Gebirge zurückzog, wo er sich von Gras und Kräutern ernährte. Als Folge davon erkrankte er und kehrte in die Stadt zurück. Die Ärzte konnten ihm nicht helfen, weil er seine Leiden so rätselhaft beschrieb, daß sie ihn nicht verstanden. Er starb angeblich im 60. Lebensjahr.

Dazu dichtete Diogenes Laertius ein Epigramm:

Heraklits Lehre

Wahrscheinlich schloß Heraklit von Ephesos sein Buch wenige Jahre vor seinem Tode ab, das trotz seines heutigen Zustands - es sind nur etwa 130 wörtliche Fragmente von ihm erhalten - zu den großen Hinterlassenschaften der griechischen Kultur gehört. Heraklit galt schon im Altertum als schwer verständlich. Oft schrieb und redete er in ansprechenden Bildern, die durch seinen Ausdrucksstil jedoch Rätsel aufgeben.

In Heraklits Lehre ist das Feuer der Grund allen Seins; es verwandelt sich in Wasser, dieses wieder je zur Hälfte in Erde und Luft. Feuer ist der Grundstoff (das Element) und alle Naturvorgänge sind Umwandlungen des Feuers, die sich durch Verdünnung oder Verdichtung vollziehen. All dies geschieht nach dem Gesetz der Gegensätzlichkeit, und das Ganze ist in strömender Bewegung - "pánta rheî", alles ist in Fluß.

Das All ist begrenzt, und es gibt nur eine Welt, die aus dem Feuer entsteht und sich nach Maßgabe der Umläufte (Perioden) auch wieder in Feuer auflöst, ein Vorgang, der sich im Zeitfluß ewig wiederholt. Das geschieht nach der unabänderlichen Fügung des Schicksals, indem Feuer Feuchtigkeit anzieht, die sich verdichtend zu Erde wird, die Erde wird flüssig, woraus Wasser entsteht, aus diesem dann alles andere. Danach wird eine bestimmte Menge Feuer zu Wasser, wird eine äquivalente Menge Wasser gleichzeitig bzw. früher oder später zu Feuer, und die Menge Erde, die zu Wasser wird, wird gleichzeitig bzw. früher oder später von einer äquivalenten Menge Wasser, die zu Erde wird, ersetzt.

Alles ändert sich pausenlos und bleibt sich doch gleich; im Spiel dieses andauernden Austausches reproduziert die Einheit der Gegensätze die sich im großen und ganzen immer gleichbleibende Ordnung. Heraklit verwendet in diesem Kontext auch das Gegenpaar Tod/Leben; denn beide sind bei ihm eins, denn des einen Tod ist die Voraussetzung für das Leben des anderen. Umgekehrt bedingt des einen Leben des anderen Tod.

Die Lehre des Heraklit spricht vom Gesetz (logos), das ständig wirksam ist, nach dessen Maßgabe alles geschieht. Dieses Gesetz ist nicht nur erkennbar und aussprechbar, es ist auch das schlechthin Gemeinsame, auf das man täglich stößt, mit dem man täglich umgeht; aber dennoch verstehen die Menschen es nicht, und es scheint ihnen fremd.

Die Anziehungskraft, die Heraklit auf auch sehr gegensätzliche Denkrichtungen ausübt, erklärt sich teilweise aus der "beunruhigenden" Kraft, die von seinen oft paradoxen und scheinbar unsinnigen Äußerungen ausgeht. So behauptet er, die Sonne vergehe an jedem Tag und entstehe jeden Tag wieder neu. Oder Zeus sei das alles beherrschende Feuer und sei es doch nicht. Sein Denken verweist auf grundlegende Mehrdeutigkeiten des Denkens und der Erkenntnis, die einem nicht mehr aus dem Kopf gehen. Er ist gewissermaßen ein größerer Frager und Anreger als Beantworter.

Nachwirkungen

Die Kenntnis von Heraklits Buch ist uns nur in Bruchstücken erhalten, aber dadurch bewahrt, weil spätere Schriftsteller von Platon und Aristoteles an bis zu den Christen Clemens (150-215) und Hippolyt (2. Jh.-235) aus ihm zitierten. Die Stoiker sahen Heraklit als einen der ihren an und fanden in ihm ihr ganzes System. Ähnlich deutete ihn schon die Sophistik als Relativisten, die Skeptik als Skeptiker, und Hippolyt sah gar in ihm den Vorläufer der ketzerischen Noëtianer. Der Einfluß Heraklits reicht bis in die Neuzeit (man denke etwa an die coincidentia oppositorum bei Nikolaus von Kues) und die moderne Dialektik. Und wie stark sich Goethe von Heraklit berührt fühlte, zeigen aus seiner Lyrik zwei Gedichte, deren Titel "Eins und Alles" und "Dauer im Wechsel" an Heraklit anknüpfen.

Hartmut Damrau


Anmerkungen

1. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Philosophische Bibliothek, Bd. 53/4, Meiner, Hamburg 1998, II 22: Der Grammatiker Seleukos behauptet, daß ein gewisser Kroton in seinem Taucher berichtet, daß ein gewisser Krates die Schrift des Heraklit nach Hellas gebracht hat und dazu bemerkt habe, es bedürfe einer Art delischen Tauchers, wenn man an ihr nicht ersticken wolle.

2. Als Blüte des Lebens beim Manne galt den alten Griechen das 40. Lebensjahr.

3. 504-501 v.Chr.

4. Diogenes Laertius, a.a.O., IX 4; Übersetzung Otto Apelt.


Literatur

- Heraklit, Fragmente (Hrsg. Bruno Snell), Reihe Tusculum bei Artemis & Winkler, Zürich und München 2004.

- Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Rowohlt Klassiker, Bd.10, Hamburg 1957.

- Die Vorsokratiker I (Hrsg. Jaap Mansfeld), RUB 7965, Stuttgart 1999.

- Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Philosophische Bibliothek Bd. 53/4, Meiner, Hamburg 1998.


Auszüge

B 101
"Ich belehrte mich selbst." (Damrau)

B 121
"Die Ephesier sollten sich alle, soweit sie erwachsen sind, aufhängen und den Kindern die Stadt überlassen; haben sie doch Hermodor(*), den Tüchtigsten unter ihnen, aus der Stadt gejagt mit dem Satz: von uns soll keiner der Tüchtigste sein - höchstens woanders und bei andern." (Snell)


*) Heraklits Freund Hermodor wurde aus politischen Gründen verbannt.


B 125a
"Möge nie der Reichtum euch ausgehen, Ephesier, daß offenbar wird, wie verkommen ihr seid." (Snell)

B 44
"Kämpfen soll die Bürgerschaft für ihr Gesetz wie für die Mauer." (Diels)

B 90
"Alles ist austauschbar gegen Feuer und Feuer gegen alles, wie Waren gegen Gold und Gold gegen Waren." (Mansfeld, Nr. 63)

B 30
"Die gegebene schöne Ordnung [Kosmos] aller Dinge, dieselbe in allem, ist weder von einem der Götter noch von einem der Menschen geschaffen worden, sondern sie war immer, ist und wird sein: Feuer, ewig lebendig, nach Maßen entflammend und nach [denselben] Maßen erlöschend." (Mansfeld, Nr. 62)

B 31
"Feuers Umwende: erstens Meer, vom Meer aber die eine Hälfte Erde, die andere Hälfte Gluthauch. Das bedeutet, daß das Feuer durch den das Weltall regierenden Sinn oder Gott durch die Luft hindurch in Wasser verwandelt wird als den Keim der Weltbildung, den er Meer nennt. Daraus entsteht wiederum Erde, Himmel und das dazwischen Liegende. Wie dann die Welt wieder ins Ursein zurückkehrt und der [Gluthauch] entsteht, spricht er klar im folgenden aus: Die Erde zerfließt als Meer und dieses erhält sein Maß nach demselben Sinn (Verhältnis) wie er galt, ehe denn es Erde ward." (kursiv: Zusatz von Diels)

B 76
"Es lebt das Feuer der Erde Tod und die Luft lebt des Feuers Tod, das Wasser lebt der Luft Tod, die Erde den des Wassers." (Snell)

B 36
"Für Seelen bedeutet es Tod, daß Wasser entsteht; für Wasser Tod, daß Erde entsteht; aus Erde entsteht Wasser, aus Wasser Seele." (Mansfeld, Nr. 87)

B 88
"Dasselbe ist lebendig und tot und wach und schlafend und jung und alt. Denn dieses ist umschlagend in jenes und jenes umschlagend in dieses." (Mansfeld, Nr. 67)

Pánta rheî (65 A 3)
"Alles fließt."

B 1
"Die Lehre hier, ihren Sinn, werden die Menschen nimmer fähig sein zu verstehen, sei es bevor, sei es nachdem sie ihn vernommen haben. Alles geschieht doch nach diesem Sinne, aber sie gleichen in ihren Worten und Taten Unerfahrenen: Ich erkläre genauestens und erläutere jedes so, wie es sich verhält - den anderen Menschen aber bleibt er im Wachsein genauso verborgen, wie sie im Schlaf vergessen." (Damrau)

B 2
"Drum tut es not, dem Allgemeinen zu folgen. Obwohl aber der Sinn [Logos] allgemein ist, leben die Vielen, als hätten sie ein Denken für sich." (Snell)

Zur Übersicht der Ausgrabungen