S C H I L L E R

L E B T

F R I E D R I C H   S C H I L L E R
Homer: Ilias, 6. Gesang, Vers 399-502: Hektors Abschied
Während der hin- und herwogenden Schlacht, als die Troer besonders bedrängt werden, erhält Hektor einen wichtigen Auftrag in der Stadt. Bevor er ins Feld zurückkehrt, eilt er nach Hause, um von der Gattin Andromache und dem kleinen Sohn Abschied zu nehmen, trifft sie dort aber nicht an. Noch einmal läuft er durch die ganze Stadt, und am Skäischen Tor kommt ihm Andromache entgegen ...

... und die Zofe, welche mit ihr ging,
Trug im Bausche das muntre, noch unbeholfene Knäblein,
Hektors geliebten Sproß, einem schönen Sterne vergleichbar.
Hektor nannte den Sohn Skamandrios, aber die andern
Sagten Astyanax; Hektor beschirmte die Stadt ja alleine.
Und mit Lächeln blickte er schweigend hin auf den Knaben;
Nah zu ihm hin aber trat Andromache, Tränen vergießend,
Reichte ihm ihre Hand und sprach die Worte und sagte:
"Unglückselger, dich tötet dein Mut noch, und du erbarmst dich
Nicht des kleinen Kindes noch meiner, der Armen, die bald wird
Witwe von dir; denn bald schon erschlagen dich die Achäer,
Alle gegen dich stürmend; für mich wohl wäre es besser,
Deiner beraubt in die Erde zu tauchen; es wird ja doch sonst kein
Anderer Trost mehr sein, wenn du dem Schicksal gefolgt bist,
Sondern nur Kummer; ich habe nicht Vater noch waltende Mutter.
Unseren Vater hat Achilleus, der hehre, erschlagen,
Und er zerstörte die wohlbevölkerte Stadt der Kiliker,
Theben mit hohem Tor; den Eëtion machte er nieder;
Nicht ihm nahm er die Waffen, das scheute er sich im Gemüte,
Sondern verbrannte ihn da mitsamt der kunstvollen Rüstung,
Schüttete drüber ein Mal; und ringsum pflanzten dann Ulmen
Nymphen der Berge, die Töchter des Zeus, des Halters der Ägis
Sieben leibliche Brüder waren mir auch in den Hallen,
Die gingen alle an einem Tage zum Hause des Hades,
Denn sie tötete alle der schnelle, hehre Achilleus
Auf schleppfüßigen Rindern und weißlich schimmernden Schafen.
Meine Mutter, die Königin über das waldige Plakos,
Die, nachdem er sie hergeführt mit anderen Gütern,
Ließ er zwar wieder frei und nahm unermeßliches Bußgeld,
Doch mit dem Pfeil traf Artemis sie in der Halle des Vaters.
Hektor, du bist für mich ja Vater und waltende Mutter
Und mein leiblicher Bruder, du bist mein blühender Gatte!
Also erbarme dich nun, und bleibe hier auf dem Turme,
Daß du das Kind zur Waise nicht machst, die Frau nicht zur Witwe.
Stelle das Kriegsvolk auf beim Feigenbaum, dort ist die Stadt ja
Nicht sehr schwer zu besteigen und leicht zu erstürmen die Mauer.
Dreimal kamen ja schon und versuchten dort es die Besten
Um den berühmten Idomeneus und um die Aias, die beiden,
Und die um die Atriden und Tydeus' streitbaren Sprossen;
Ob ihnen einer es riet, der in Winken der Götter sich auskennt,
Oder ob auch ihr eigener Mut sie erregt und sie antreibt."
Hektor sagte darauf, der große, mit funkelndem Helme:
"Ja, an all das denke auch ich, Frau; aber ganz schrecklich
Schäme ich mich vor Troern und Troerinnen im Peplos,
Wollte ich wie ein Feiger entfernt mich halten vom Kampfe.
Auch verbietet mir das mein Mut, denn ich lernte, ein Edler
Immer zu sein und unter den vordersten Troern zu kämpfen,
Wahrend des Vaters großen Ruhm und zugleich meinen eignen.
Denn gut weiß ich dies in meinem Sinn und Gemüte,
Einst wird kommen der Tag, wo das heilige Ilion hinsinkt,
Priamos selbst und das Volk des lanzenkundigen Königs.
Doch nicht der Schmerz um die Troer wird mich hernach so bekümmern,
Weder um Priamos, den Gebieter, noch Hekabe selber,
Noch um die leiblichen Brüder, die da, so viele und edle,
in den Staub werden fallen unter den feindlichen Männern,
So wie um dich, wenn einer der erzgeschirmten Achäer
Dir den Tag der Freiheit raubt und die Weinende wegführt.
Wenn du in Argos am Webstuhl webest für eine andre,
Wasser holst vom Quell Hypereia oder Messeïs
Wider den eigenen Willen, doch starker Zwang lastet auf dir.
Und dann sagt wohl einer, der sieht, wie du Tränen vergießest:
,Hektors war dies Weib, der der beste war von den Kämpen
Rossetummelnder Troer, als sie um Ilion kämpften.'
So wird einer dann sagen, und neu wird dir dann der Kummer,
Wenn du dich sehnst nach dem Mann, der wehrte dem Tage der Knechtschaft.
Mich aber möge als Toten der Erdenhügel bedecken,
Ehe ich deinen Schrei vernähme und deine Verschleppung."
Sprach es und griff nach seinem Sohne, der strahlende Hektor.
Der aber bog sich zum Bausch der wohlgegürteten Amme
Schreiend zurück, erschreckt vom Anblick des eigenen Vaters,
Denn er fürchtete sich vor dem Erz und dem Busche von Roßhaar,
Den er sah, wie er furchtbar nickte von oben am Helme.
Und da lachte sein Vater heraus und die Mutter, die hehre.
Und gleich nahm den Helm von dem Kopfe der strahlende Hektor,
Setzte den strahlend blinkenden nieder vor sich auf den Boden;
Aber nachdem das Kind er geküßt und gewiegt auf den Armen,
Sagte er betend so zu Zeus und den anderen Göttern:
"Zeus und ihr anderen Götter, gebt, daß dieser mein Sohn hier
Auch so ausgezeichnet werde wie ich vor den Troern,
Auch so trefflich an Kraft, und mächtig in Ilion herrsche.
Und einst sage da einer: ,Der übertrifft noch den Vater',
Wenn er vom Kampfe kommt; er trage die blutige Rüstung
Seines getöteten Feindes; dann freue im Sinn sich die Mutter."
Also sprach er und legt' in die Arme der Gattin, der lieben,
Seinen Sohn; und die nahm ihn an ihren duftenden Busen,
Unter den Tränen lächelnd; ihr Gatte sah es voll Mitleid,
Streichelte sie mit der Hand und sprach zu ihr mit den Worten:
"Ärmste, du mußt nicht zu sehr dich grämen in deinem Herzen,
Gegen das Schicksal wird kein Mann mich zum Hades entsenden.
Doch dem Verhängnis ist noch keiner der Männer entronnen,
Ob gering oder edel, nachdem er einmal geboren.
Doch du gehe ins Haus und besorge die eignen Geschäfte,
Webstuhl und Spindel sind's, und befiehl du den dienenden Mägden,
An ihr Werk zu gehn. Der Krieg ist Sache der Männer
Aller, doch meine zuerst, die wir aus Ilion stammen."
Also sprechend nahm er den Helm, der strahlende Hektor,
Mit dem Roßschweif. Aber die Gattin ging nun nach Hause,
Häufig zurück sich wendend und quellende Tränen vergießend.
Bald darauf gelangte sie hin zu den wohnlichen Häusern
Hektors, des Männertöters; darinnen traf sie die vielen
Dienenden Mägde, und allen erregte sie Klage und Jammer.
Und sie beklagten den lebenden Hektor in seinem Hause;
Denn nicht mehr, so meinten sie, werde er wieder vom Schlachtfeld
Kehren, dem Kampfesdrang und den Händen entflohn der Achäer.


Übersetzung: Roland Hampe
Quelle: Homer, Ilias, Reclam, Stuttgart 1979
(Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Reclam-Verlags)

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