S C H I L L E R

L E B T

F R I E D R I C H   S C H I L L E R
Homer: Ilias, 24. Gesang, Verse 468-676: Priamos bei Achill
Achills Groll über den Tod seines Freundes Patroklos ist auch nach Hektors Tod und dem feierlichen Begräbnis des Patroklos nicht gemildert. Noch immer schändet er Hektors Leiche, indem er sie täglich um das Grabmal seines Freundes schleift. Schließlich interveniert Zeus. Er ordnet an, Achill solle Hektors Leichnam herausgeben. Hermes bringt Priamos ungesehen ins Lager der Griechen.

...Priamos aber sprang von dem Gespann zu Boden
Und ließ den Idaios dort, und der blieb und hielt die Pferde
Und die Maultiere. Der Greis aber ging gerade auf das Haus zu,
Wo Achilleus saß, der zeusgeliebte, und fand ihn drinnen,
Und seine Gefährten saßen abseits. Nur die beiden,
Der Heros Automedon und Alkimos, der Sproß des Ares,
Mühten sich bei ihm. Und eben hatte er das Mahl geendet,
Essend und trinkend, auch stand der Tisch noch bei ihm.
Und ihnen unbemerkt kam Priamos herein, der große, und herangetreten
Faßte er mit den Händen des Achilleus Knie und küßte die Hände,
Die furchtbaren, männermordenden, die ihm getötet hatten viele Söhne.
Und wie einen Mann ergriffen hat dichte Beirrung, der in der Heimat
Einen Mann getötet hat und gelangte in den Gau von anderen,
Zu dem Haus eines reichen Mannes, und ein Staunen erfaßt, die ihn sehen:
So staunte Achilleus, als er Priamos sah, den gottgleichen,
Und es staunten auch die anderen und blickten einander an.
Und zu ihm sprach flehend Priamos die Rede:
"Gedenke deines Vaters, den Göttern gleicher Achilleus!
Der so alt ist wie ich, an der verderblichen Schwelle des Alters.
Auch ihn bedrängen wohl die Umwohnenden rings um ihn her,
Und keiner ist, der Fluch und Verderben von ihm abwehrt.
Aber wahrhaftig! der, wenn er von dir hört, daß du lebst,
Freut sich im Mute und hofft darauf alle Tage,
Zu sehen den eigenen Sohn, wiederkehrend von Troja.
Ich aber bin ganz unglückselig. Da zeugte ich Söhne, die Besten
In der breiten Troja: Von denen, sage ich, ist keiner geblieben.
Fünfzig hatte ich, als die Söhne der Achaier kamen;
Neunzehn waren mir von dem gleichen Mutterleib,
Die anderen aber gebaren mir in den Hallen die Frauen.
Von denen hat den meisten die Knie gelöst der stürmende Ares.
Doch der mir einzig war und beschützte die Stadt und die Männer,
Den hast du unlängst getötet, sich wehrend um die väterliche Erde:
Hektor. Um seinetwillen komme ich jetzt zu den Schiffen der Achaier,
Ihn von dir loszukaufen, und bringe unermeßliche Lösung.
Aber scheue die Götter, Achilleus! und erbarme dich meiner,
Gedenkend deines Vaters! Doch bin ich noch erbarmenswürdiger
Und habe gewagt, was noch nicht ein anderer Sterblicher auf Erden:
Die Hand nach dem Mund des Mannes, des Sohnesmörders, emporzustrecken!"
So sprach er und erregte ihm die Lust nach der Klage um den Vater,
Und er faßte seine Hand und stieß sanft den Alten von sich.
Und die beiden dachten: der eine an Hektor, den männermordenden,
Und weinte häufig, zusammengekauert vor den Füßen des Achilleus,
Aber Achilleus weinte um seinen Vater, und ein andermal wieder
Um Patroklos, und ein Stöhnen erhob sich von ihnen durch das Haus.
Doch als sich an der Klage ergötzt hatte der göttliche Achilleus,
Und ihm das Verlangen gegangen war aus der Brust und aus den Gliedern,
Erhob er sich sogleich vom Stuhl und hob den Alten auf an der Hand,
Sich erbarmend des grauen Hauptes und des grauen Kinns,
Und begann und sagte zu ihm die geflügelten Worte:
"Ah, Armer! ja, schon viel Schlimmes hast du ausgehalten in deinem Mute
Wie hast du es gewagt, zu den Schiffen der Achaier zu kommen, allein,
Unter die Augen des Mannes, der dir viele und edle
Söhne erschlug? Von Eisen muß dir das Herz sein!
Aber komm! setze dich auf den Stuhl, und die Schmerzen wollen wir gleichwohl
Ruhen lassen im Mut, so bekümmert wir sind,
Ist doch nichts ausgerichtet mit der schaurigen Klage.
Denn so haben es zugesponnen die Götter den elenden Sterblichen,
Daß sie leben in Kummer, selbst aber sind sie unbekümmert.
Denn zwei Fässer sind aufgestellt auf der Schwelle des Zeus
Mit Gaben, wie er sie gibt: schlimmen, und das andere mit guten.
Wem Zeus sie nun gemischt gibt, der donnerfrohe,
Der begegnet bald Schlimmem und bald auch Gutem.
Wem er aber von den traurigen gibt, den bringt er zu Schanden,
Und ihn treibt schlimmer Heißhunger über die göttliche Erde,
Und er kommt und geht, nicht vor Göttern geehrt noch Menschen.
So haben auch dem Peleus die Götter prangende Gaben gegeben
Von Geburt an, denn vor allen Menschen war er ausgezeichnet
An Fülle und Reichtum und herrschte über die Myrmidonen,
Und sie machten ihm, dem Sterblichen, eine Göttin zur Lagergefährtin.
Aber dazu gab auch ihm der Gott Schlimmes: daß ihm von Söhnen
Kein Geschlecht in den Hallen erwuchs, die herrschen würden.
Nur einen Sohn erzeugte er, der frühzeitig stirbt. Und ich sorge
Nicht für ihn, den Alternden, denn weit entfernt von der Heimat
Sitze ich in Troja und mache dir Kummer und deinen Söhnen.
Auch du, Alter! bist ehedem, wie wir hören, glücklich gewesen.
Alles, was Lesbos, des Makar Sitz, nach oben hin einschließt
Und Phrygien darüber und der grenzenlose Hellespontos,
Vor diesen warst du, sagen sie, Alter! an Reichtum und Söhnen ausgezeichnet.
Doch seitdem dir dieses Leid die Himmlischen brachten,
Sind um die Stadt dir immer Schlachten und Männermorde.
Halte an dich und jammere nicht endlos in deinem Mute!
Richtest du doch nichts aus, um den tüchtigen Sohn bekümmert,
Und wirst ihn nicht aufstehen lassen, sondern eher noch anderes Unheil leiden!"
Ihm antwortete darauf der greise Priamos, der gottgleiche:
"Setze mich noch nicht auf den Stuhl, Zeusgenährter! solange Hektor
Liegt in der Hütte unversorgt. Sondern gib ihn mir eiligst
Los, daß ich ihn mit Augen sehe! Und du nimm die Lösung,
Die viele, die wir dir bringen: mögest du sie genießen und kommen
In dein väterliches Land, da du mich zuerst verschont hast,
Daß ich selber lebe und sehe das Licht der Sonne!"
Da sah ihn von unten herauf an und sagte zu ihm der fußschnelle Achilleus:
"Reize mich jetzt nicht mehr, Alter! Ich gedenke auch selber,
Dir den Hektor loszugeben: von Zeus her kam mir als Bote
Die Mutter, die mich gebar, die Tochter des Meeresalten.
Und ich erkenne auch von dir, Priamos, im Sinn, und nicht entgeht es mir,
Daß einer der Götter dich geführt zu den schnellen Schiffen der Achaier.
Denn nicht wagte es ein Sterblicher, und wäre er noch so jugendkräftig,
Ins Lager zu kommen: nicht wäre er den Wachen entgangen, und auch den Riegel
Hätte er nicht leicht hinweggewuchtet von unseren Türen!
Darum errege mir jetzt nicht noch mehr den Mut in Schmerzen!
Daß ich nicht, Alter, auch dich selbst nicht in der Hütte verschone,
Bist du auch ein Schutzsuchender, und frevle gegen des Zeus Gebote!"
So sprach er. Da fürchtete sich der Greis und gehorchte dem Wort.
Und der Pelide sprang, einem Löwen gleich, hinaus aus dem Hause,
Nicht allein, zusammen mit ihm gingen zwei Gefolgsleute,
Der Heros Automedon und Alkimos, die am meisten Achilleus
Ehrte von den Gefährten nach Patroklos, dem toten.
Die lösten damals aus dem Joch die Pferde und Maultiere
Und führten den Herold hinein, den Rufer des Alten,
Und setzten ihn auf einen Sessel; und aus dem gutgeglätteten Wagen
Nahmen sie die unermeßliche Lösung für Hektors Haupt.
Doch ließen sie zwei Leintücher zurück und einen gutgewebten Rock,
Daß er den Toten eingehüllt übergäbe, ihn nach Hause zu bringen.
Und Mägde rief er heraus und befahl, ihn zu waschen und rings zu salben,
Beiseite getragen, daß Priamos den Sohn nicht sähe,
Daß er nicht, bekümmert im Herzen, den Zorn nicht zurückhielte,
Wenn er den Sohn sähe, und dem Achilleus sein Herz erregte,
Und der ihn tötete und frevelte gegen des Zeus Gebote.
Als ihn nun aber die Mägde gewaschen hatten und gesalbt mit Öl,
Warfen sie um ihn ein schönes Leintuch und einen Rock,
Und selbst hob Achilleus ihn auf und legte ihn auf das Lager,
Und mit ihm hoben ihn die Gefährten auf den gutgeglätteten Wagen.
Und dann jammerte er und rief beim Namen seinen Gefährten:
"Sei mir, Patroklos, nicht unwillig, wenn du erfährst,
Selbst in dem Haus des Hades, daß ich den göttlichen Hektor losgab
Seinem Vater, da er mir nicht ungeziemende Lösung gegeben.
Dir aber teile ich auch von dem zu, soviel es sich gebührt."
Sprach es und ging wieder in die Hütte, der göttliche Achilleus,
Und setzte sich auf den vielverzierten Stuhl, von dem er aufgestanden,
An der anderen Wand, und sagte zu Priamos die Rede:
"Nun ist der Sohn dir gelöst, Alter! wie du gefordert,
Und liegt auf dem Lager, und mit dem erscheinenden Frühlicht
Wirst du ihn selber sehen, ihn heimführend. Jetzt aber gedenken wir des Nachtmahls!
Denn auch die schönhaarige Niobe gedachte der Speise,
Der doch zwölf Kinder in den Hallen zugrunde gingen,
Sechs Töchter und sechs Söhne in Jugendkraft.
Die Söhne hat Apollon getötet mit dem silbernen Bogen,
Zürnend der Niobe, doch die Töchter Artemis, die Pfeilschüttende,
Weil sie sich der Leto gleichgestellt, der schönwangigen.
Sie sagte, nur zwei habe diese geboren, sie selber aber gebar viele;
Doch die beiden, obschon nur zwei, haben sie alle vernichtet.
Neun Tage lagen sie im Blut, und da war keiner,
Sie zu begraben; die Männer hatte zu Steinen gemacht Kronion,
Am zehnten aber begruben sie die Götter, die Uranionen.
Doch sie gedachte der Speise, als sie müde war, Tränen zu vergießen.
Jetzt aber wohl in den Felsen, auf einsamen Bergen,
Auf dem Sipylos, wo sie sagen, daß der Göttinnen Lager sind,
Der Nymphen, die da um den Acheloïos schwärmten,
Dort verkocht sie, obschon zu Stein geworden, die Leiden von den Göttern. -
Doch auf denn! gedenken auch wir beide, göttlicher Alter!
Der Speise. Dann magst du wieder deinen Sohn beklagen,
Wenn du ihn einholst nach Ilios. Und ein Vielbeweinter wird er dir sein!"
Sprachs und sprang auf, der schnelle Achilleus, und ein weißes Schaf
Schlachtete er, und die Gefährten zogen es ab und besorgten es gut nach der Ordnung
Und zerstückelten es kundig und spießten es auf die Bratspieße
Und brieten es sorgsam und zogen alles herunter.
Und Automedon nahm Brot und verteilte es auf dem Tisch
In schönen Körben, und das Fleisch verteilte Achilleus.
Und sie streckten die Hände aus nach den bereiten vorgesetzten Speisen.
Doch als sie das Verlangen nach Trank und Speise vertrieben hatten,
Ja, da staunte der Dardanide Priamos über Achilleus,
Wie groß und wie schön er war: den Göttern glich er von Angesicht.
Aber über den Dardaniden Priamos staunte Achilleus,
Als er sah sein edles Gesicht und seine Rede hörte.
Aber als sie sich ergötzt hatten, aufeinander blickend,
Da sagte als erster zu ihm der greise Priamos, der gottgleiche:
"Gib mir jetzt schnellstens ein Lager, Zeusgenährter! daß wir nun auch
Uns zur Ruhe begeben und an dem Schlaf, dem süßen, ergötzen!
Denn noch nicht haben sich die Augen geschlossen unter meinen Lidern,
Seitdem unter deinen Händen mein Sohn verloren hat sein Leben,
Sondern immer stöhne ich und verkoche zehntausend Kümmernisse,
In der Umzäunung des Hofes mich wälzend im Kot.
Jetzt nun habe ich auch Brot genossen und funkelnden Wein
Die Kehle hinabgeschickt; zuvor hatte ich nichts genossen."
Sprach es, und Achilleus befahl den Gefährten und den Mägden,
Betten in der Vorhalle aufzustellen und schöne Polster,
Purpurne, darauf zu werfen und darüber Decken zu breiten
Und Mäntel hineinzulegen, wollene, um sie über sich zu ziehen.
Und sie gingen aus der Halle, Fackeln in den Händen haltend,
Und breiteten schnell zwei Lager hin, geschäftig.
Da sagte scherzend zu ihm der fußschnelle Achilleus:
"Draußen lege dich nieder, mein Alter! daß nicht einer der Achaier
Hier hinzukommt, ein Mann aus dem Rat, so wie sie sich immer Zu mir setzen,
um Ratschlüsse zu beraten, wie es der Brauch ist.
Sähe dich einer von denen in der schnellen Nacht, der schwarzen,
Sogleich würde er es dem Agamemnon ansagen, dem Hirten der Völker,
Und es wird einen Aufschub für die Lösung des Toten geben.
Doch auf! sage mir dieses und berichte es mir zuverlässig:
Wie viele Tage gedenkst du, den göttlichen Hektor zu bestatten?
Daß ich selber solange warte und das Volk zurückhalte."
Ihm antwortete darauf der greise Priamos, der gottgleiche:
"Willst du wirklich, daß ich die Bestattung dem göttlichen Hektor vollende,
Würdest du, wenn du es so machtest, Achilleus, mir Erfreuliches erweisen.
Du weißt ja, wie wir eingeschlossen sind in der Stadt, und weit her ist das Holz
Zu holen aus dem Gebirge, und sehr in Furcht sind die Troer.
Neun Tage möchten wir ihm in den Hallen die Totenklage halten
Und ihn am zehnten bestatten, und das Volk soll das Totenmahl nehmen;
Am elften aber würden wir den Grabhügel über ihm errichten.
Doch am zwölften kämpfen wir wieder, wenn es denn sein muß!"
Da sagte wieder zu ihm der fußstarke göttliche Achilleus:
"Sein soll dir auch dieses, Greis Priamos! wie du es forderst.
Aufhalten will ich den Kampf so lange Zeit, wie du es verlangt hast."
So sprach er und faßte die Hand des Alten am Handgelenk,
Die rechte, daß er sich nicht irgend fürchte im Mute. -
Diese nun legten sich im Vorhaus des Hauses dort zur Ruhe,
Der Herold und Priamos, die kluge Gedanken im Sinn hatten.
Aber Achilleus schlief im Innern der gutgezimmerten Hütte,
Und bei ihm lag Briseïs, die schönwangige.


Übersetzung: Wolfgang Schadewaldt
Quelle: Homer, Ilias, Insel Verlag, Frankfurt 1975
(Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags)

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