S C H I L L E R

L E B T

F R I E D R I C H   S C H I L L E R
Platon gegen die Sophisten  —  Auszüge aus Platons Protagoras

Die Demokratie des antiken Athen richtete sich selbst durch eine ausufernde Kultur des Sophismus zugrunde. Die heutigen Demokratien Europas und der USA befinden sich in derselben tödlichen Gefahr. Deswegen ist die Beschäftigung mit Platons erfrischend-ironischen, künstlerisch und philosophisch erhabenen Angriffen auf den Sophismus in den sokratischen Dialogen vielleicht entscheidend, um Widerstandskräfte gegen den heutigen Sophismus in uns zu wecken.

Wer waren die griechischen Sophisten? Platon selbst nennt sie "Wortverdreher". Sie verkauften ihre Redekünste für viel Geld an die Jugend der athenischen Oberschicht. Sie lehrten nicht ein bestimmtes Fachgebiet, sondern die Fähigkeit, durch eloquentes Wortspiel die leichtgläubige Menge von allem zu überzeugen, was der Sache dienlich schien. Die "Sache" hieß: Eigennutz vor Gemeinwohl, das Recht des Stärkeren, Macht als Ausübung von Willkür. Dies alles sollte unter dem Mantel der Demokratie ablaufen - also war das Hauptziel der sophistischen Redekunst, die Menschen zu überzeugen, daß es universelle, auf Wahrheit fußende Prinzipien nicht gibt, sondern nur wandelbare subjektive Meinungen. Die Meinungsfreiheit stand der Willkür der Mächtigen nicht entgegen, sondern diente als "Blitzableiter".

Die bekanntesten Sophisten Athens waren neben dem berüchtigten Glaukon aus Platons Staat Protagoras und Gorgias. Sokrates nahm sich vor, die Sophisten vor der Öffentlichkeit und insbesondere der athenischen Jugend bloßzustellen, ihnen den Schleier der aufgeklärten, liberalen Freunde der Jugend herunterzureißen. Platon hat diese sokratische Mission auf seine Weise in seinen Dialogen behandelt, die wahre Kunstwerke darstellen. Wir beginnen unseren Streifzug durch diese Dialoge mit dem Protagoras, dem vermutlich ersten Dialog Platons.

Der Kult des Sophismus

Athen vibriert nach der Ankunft des Sophisten Protagoras, der inzwischen schon ein älterer Herr mit grauen Schläfen ist und durch seine Eloquenz die Jugend beeindruckt. Der junge Hippokrates eilt mitten in der Nacht zu Sokrates und berichtet ganz aufgeregt von der Ankunft des Protagoras in der Stadt! Hippokrates möchte, daß Sokrates ihn zu dem großen Meister begleitet, von dem Hippokrates alles lernen will. Was aber man genau durch den Umgang mit einem Sophisten lernen könne, möchte Sokrates wissen. Das weiß Hippokrates auch nicht so recht zu sagen. Schließlich räumt er errötend ein, er würde dann wohl auch Sophist werden. Immerhin schämt sich der junge Mann noch!

Schließlich gelangen Sokrates und Hippokrates in das Haus des Kallias, wo ihr Blick sofort auf Protagoras fällt, der das Flair des großen Maestro in allen seinen Gesten und Bewegungen verbreitet. Die Schar der Jünger ist ihm total gefügig, der Meister sonnt sich in seinem Ruhm. Das pathetische Gehabe der Sophisten wird hier von Platon genial getroffen. Der Leser des Dialogs wird dabei zum Zuschauer im Theater.

Die Schwierigkeit für Sokrates besteht darin, in diesem Klima eines sophistischen Kultes als einzelner den Protagoras der Verführung und Lüge zu überführen, zumal Sokrates zur Zeit des Dialogs etwa nur halb so alt wie der schon gesetzte Protagoras ist. Sokrates paßt sich also zunächst scheinbar den Bedingungen an, als der Jüngere bleibt er höflich und freundlich, wenngleich häufig ironisch. Und dann beginnt das bekannte sokratische "Fragespiel", das erst harmlos erscheint, aber wie beim Fechten mit eleganten, jedoch gezielten Spitzen den "Gegner" bloßstellt.

Kann man Tugend erlernen?

Sokrates fragt zunächst Protagoras, was denn der junge Hippokrates bei ihm lernen könne. Protagoras erklärt ihm, daß die jungen Leute bei ihm "Wohlberatenheit in persönlichen und Staatsangelegenheiten" lernen, was im weiteren Verlauf als Tugend definiert wird. Hieraus ergibt sich nun das Hauptthema des Dialogs, nämlich die Frage, ob Tugend lehrbar sei oder nicht. Der eigentliche "Tugendlehrer" Sokrates spielt den Unbedarften, indem er die Lehr- und Lernbarkeit der Tugend bezweifelt, während der Sophist Protagoras die Lehrbarkeit der Tugend behauptet - schließlich verdient er damit sein Geld.

Das Thema des Dialogs ist also der Unterschied zwischen dem sophistischen und dem sokratischen Tugendbegriff - ein hochaktuelles Thema. Sokrates stellt fest, daß sich in der Politik jeder anmaßt, als Ratgeber aufzutreten, während es in den Handwerkskünsten nur die Fachleute tun. Protagoras erklärt diesen Umstand mit seiner Version des Prometheus-Sage.

Er behauptet, Prometheus habe zwar den Menschen das Feuer geschickt, aber dabei "Gerechtigkeit und Scham" vergessen. Diese "Tugenden" seien später von Zeus den Menschen gegeben worden - und zwar gerecht und gleichermaßen unter alle verteilt. Wir kennen es freilich anders, nämlich vom Dichter Aischylos, der 100 Jahre früher lebte: Zeus hat Prometheus zur Strafe an den Felsen gekettet, weil er den Menschen neben dem Feuer auch die Fähigkeit zu technischen Erfindungen auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnis geschenkt hat, wodurch sich die Menschen zum ersten Mal von der Kontrolle der olympischen Götter befreien konnten.

Auch die heutigen "olympischen Götter" in Gestalt einflußreicher Familien einer weltweiten Finanzoligarchie haben in den letzten 30-40 Jahren versucht, Prometheus wieder gefangenzunehmen, indem sie den technisch-wissenschaftlichen Fortschritt mit einem Bann belegt und eine beispiellose Politik der Entindustrialisierung betrieben haben - aus Furcht vor dem "prometheischen Funken", der die Kreativität und Unabhängigkeit der Menschen entfesseln könnte. Im Gegenzug speisen sie die Öffentlichkeit mit süßen Parolen von Demokratie, Ethik, Pluralismus etc. ab. Der Schein gilt wieder einmal mehr als das Sein. So lautet auch Protagoras' Schlußfolgerung aus dem Prometheus-Mythos: Jeder müsse zumindest den Eindruck erwecken, als verstünde er etwas von Gerechtigkeit! Ist es also das, was der Sophist lehren möchte: den Schein von Gerechtigkeit?

Im Verlauf des von Sokrates ironisch und kunstvoll geführten Dialogs, den Protagoras an mehreren Stellen am liebsten abbrechen würde, drehen sich die Positionen völlig um: Sokrates kommt zum Schluß, daß Tugend erlernbar sei, während Protagoras sich gar nicht mehr sicher ist. Sokrates kann am Beispiel der Tapferkeit beweisen, daß die Tugend auf der richtigen Meßkunst, also einem erlernbaren Wissen beruhe.

Während also der Sophismus unter "Tugend" die Fähigkeit versteht, sich den Gegebenheiten anzupassen, zu korrumpieren und sich selbst korrumpieren zu lassen, zu täuschen und zu lügen, um den karrierefördernden Schein von Gerechtigkeit zu erzeugen, bedeutet die sokratische Tugend das Wissen um das richtige Maß, um wahrhafte Maßstäbe für gut und böse, wahr und falsch.

Protagoras wird am Ende des Gesprächs sehr wortkarg, er wagt keinen Widerspruch mehr. Der Sophist kann nicht der Definition von Tugend als Erkenntnis und Wissen vom richtigen Maß folgen - denn dann bräche seine ganzes Gebäude des Scheins und der Eitelkeit zusammenbrechen.

So sind am Schluß die Rollen "vertauscht". Und noch etwas passiert am Ende: Sokrates rehabilitiert Prometheus, den er sich zum Vorbild nimmt, da er der "Vorausdenker" sei. Das "Vorausdenken" aber ist gefragt für die von Sokrates geforderte weitere und tiefere Erforschung des Wesens der Tugend.

Frank Hahn


Auszüge aus Platons Protagoras

Unser Blick fiel zunächst auf den Protagoras, der in der Säulenhalle auf und ab wandelte; neben ihm schritten auf der einen Seite Kalis ... und sein ... Bruder Paralos, auf der anderen Seite ... Xanthippos und Philippedes und Antimoiros... die sich hinten anschließende Schar derer, die der Unterhaltung lauschten, bestand, wie es schien, zum größten Teil aus Fremden, wie sie Protagoras aus allen von ihm berührten Städten mit sich führt - denn er lockt sie mit seiner Stimme wie Orpheus, und sie folgen dem Zauber seines Gesangs - , doch fanden sich auch einige Einheimische in dem Chor. Bei den Bewegungen dieses Chores machte es mir besondere Freude zu beobachten, wie geschickt und behutsam sie es vermieden, dem Protagoras vorn in den Weg zu treten; sooft nämlich er und seine Begleiter kehrt machten, traten die stummen Zuhörer mit allem Anstand und in bester Ordnung auf beide Seiten auseinander, schwenkten im Kreise herum und reihten sich dann immer wieder hinten mit unfehlbarer Sicherheit an ...

Sokrates Weshalb ich hierher komme, darüber habe ich mich schon vorhin erklärt und es bedarf nur einer kurzen Wiederholung. Hippokrates hier ist von dem Verlangen beseelt, dein Schüler zu werden; er möchte also, wie er sagt, gern wissen, was er von dem Zusammensein mit dir zu erwarten hat.(318)

Protagoras Schließt sich Hippokrates an mich an, so wird es ihm nicht so ergehen, wie es der Fall sein würde, wenn er den Umgang mit irgend einem anderen Sophisten aufsuchte. Die anderen nämlich treiben ein schädliches Spiel mit den jungen Leuten. Denn eben erst den Künsten des Schulwissens glücklich entronnen, werden die Jünglinge durch sie wider ihren Willen wieder in diese Fachkünste zurückgeworfen und müssen es sich gefallen lassen, in Rechenkunst, Astronomie, Geometrie und Musik unterrichtet zu werden. Wenn aber Hippokrates zu mir kommt, so wird er nichts anderes lernen als worauf es ihm ankommt. Was aber bei mir erlernt wird, ist Wohlberatenheit einerseits in den persönlichen Angelegenheiten, also Kunde dessen, wie das Haus am besten verwaltet wird, andererseits in den öffentlichen Angelegenheiten, also die möglichst große Befähigung, die Staatsangelegenheiten durch Wort und Tat zu leiten (...)

Sokrates Da hast du ja einen wahren Zauberstab in der Hand, wenn du ihn wirklich in der Hand hast. Denn ich will völlig offen gegen dich sein und nur sagen, was ich wirklich denke. Ich nämlich, mein Protagoras, war des Glaubens, dies sei nicht erlernbar; ...denn ich sehe, daß diese (die Athener), wenn sie zur Volksversammlung zusammentreten und der Staat in Bausachen etwas unternehmen will, die Baumeister als Ratgeber über die zu errichtenden Gebäude auftreten lassen, in Schiffsbauangelegenheiten dagegen die Schiffsbaumeister, und so auf allen anderen Gebieten, wo es sich um Dinge handelt, die ihrer Meinung nach erlernbar und lehrbar sind... Wenn es sich dagegen um eine Maßregel allgemeiner Staatsverwaltung handelt, so tritt jedermann bei ihnen als Ratgeber zur Sache auf, gleichviel ob Zimmermann, ob Schmied oder Schuster, ob Kaufmann oder Schiffsherr,... und niemand ergeht sich gegen ihn... in Lästerungen darüber, daß er ohne jede Sachkenntnis und ohne jede Schulung durch einen berufenen Lehrer sich anmaßt, als Ratgeber aufzutreten; denn sie halten das offenbar nicht für lehrbar. Und das bezieht sich nicht etwa bloß auf die allgemeinen Staatsangelegenheiten: auch in den persönlichen Angelegenheiten sind die einsichtsvollsten und tüchtigsten Bürger nicht imstande, diese ihre Tüchtigkeit auf andere zu übertragen... Ich also, mein Protagoras, kann im Hinblick auf diese Tatsachen nicht glauben, daß die Tugend lehrbar sei.(319-320)

Sokrates Wie denkst du über die Erkenntnis? Teilst du auch hier die Ansicht der meisten Menschen oder etwa nicht? Die meisten nämlich halten von der Erkenntnis nicht viel; sie meinen, sie sei nichts Starkes, Leitendes, Gebietendes und sie wollen sie nicht als etwas von dieser Art anerkennen, behaupten vielmehr, es komme oft genug vor, daß der Mensch die Erkenntnis zwar besitze, daß aber nicht sie die Herrschaft über ihn habe, sondern irgend etwas anderes, bald Zorn, bald Lust, bald Unlust, zuweilen auch leidenschaftliche Liebe und oftmals Furcht, kurz sie denken von der Erkenntnis nicht besser als wie von einem Sklaven: in solchem Maße lassen sie sich von allen übrigen Seelenzuständen herumzerren ... und alle, die ich nach dem Grund dafür fragte, behaupten, es sei entweder Lust oder Unlust oder was ich sonst vorhin in dieser Beziehung anführte, unter deren obsiegender Gewalt die Betreffenden so handelten ... Wohlan denn, so versuche, im Bunde mit mir die Menschen eines besseren zu belehren und ihnen klar zu machen, was es eigentlich auf sich hat mit dem, was ihnen da widerfährt und was sie als ein Überwundenwerden durch die Lüste bezeichnen, infolgedessen sie nicht das Bessere tun trotz richtiger Erkenntnis desselben ... (352)

... Unter welcher Voraussetzung aber steht denn das Gute hinter dem Schlechten oder das Schlechte hinter dem Guten zurück? Doch wohl nur dann, wenn das Schlechte größer (mächtiger) ist, das Gute dagegen kleiner (machtloser) oder wenn des ersteren mehr, des Letzteren weniger -   Offenbar also ... bedeutet dies euer "Überwunden" werden (durch die Lust) nichts anderes als dies: gegen Geringeres Gute mehr Schlechtes in Kauf nehmen.(354)

(...) Da sich aber das Heil des Lebens uns als abhängig erwies von der richtigen Wahl der Lust und Unlust nach Maßgabe des Mehr oder Weniger und des Größeren und Kleineren, mag es nun ferner sein oder näher, erscheint da nicht auch sie (die Wahl) erstens als eine Meßkunst, da Überschuß, Mangel und gegenseitige Gleichheit den Gegenstand ihrer Erwägungen bildet?

Protagoras Ganz unbedingt.

Sokrates Ist sie aber eine Meßkunst, dann doch notwendig auch eine Kunst und ein Wissen? ... wer in der Wahl von Lust und Unlust, das heißt von Gutem und Schlechtem, fehlgeht, tut dies aus Mangel an Erkenntnis, und nicht bloß im allgemeinen an Erkenntnis, sondern, wie ihr des Näheren euch belehren ließet, auch an Meßkunde. Eine ohne Erkenntnis vollzogene fehlerhafte Handlung aber, das wißt ihr auch wohl selbst, hat ihren Grund in der Unwissenheit. Mithin ist das Überwundenwerden durch die Lust eben nichts anderes als die größte Unwissenheit.(357)

(...) Alle diese meine Fragen ... sind lediglich darauf zurückzuführen, daß ich ergründen möchte, was es eigentlich mit der Tugend auf sich hat und was die Tugend selbst ihrem Wesen nach ist. Denn soviel weiß ich, ist dies nur erst vollständig aufgeklärt, dann wird auch ein helles Licht fallen auf das, worüber wir beide, ich und du, uns in so langer Verhandlung ergangen haben, ich als Vertreter der Ansicht, die Tugend sei nicht lehrbar, du als Verfechter ihrer Lehrbarkeit. Und es will mir vorkommen, als träte der Ausgang unserer Verhandlungen gleichsam als Ankläger und Spötter gegen uns auf; wäre er der Sprache mächtig wie ein Mensch, so würde er sagen: "Ihr seid doch wunderliche Leute, du Sokrates und Protagoras! Du, Sokrates, der du zuvor behauptetest, die Tugend sei nicht lehrbar, trittst jetzt mit vollem Eifer für das Gegenteil ein und suchst zu zeigen, daß all die bewußten Dinge, also Gerechtigkeit, Besonnenheit und Tapferkeit, ein Wissen seien, ein Standpunkt, der die Tugend aufs entschiedenste zu etwas Lehrbarem machen würde. Denn wäre die Tugend etwas anderes als ein Wissen, ein Standpunkt, den Protagoras zu vertreten bemüht war, dann wäre sie offenbar nicht lehrbar. So aber, wenn sie sich durchweg als Erkenntnis darstellen sollte, worauf du hinaus willst, Sokrates, wäre es doch wunderbar, wenn sie nicht lehrbar sein sollte. Protagoras dagegen, früher der Verfechter ihrer Lehrbarkeit, scheint jetzt im Gegenteil dafür einzutreten, sie sei so ziemlich alles andere eher als Erkenntnis und dann würde sie eben nimmermehr lehrbar sein.(360)


(zitiert nach Platon, Sämtliche Dialoge, Band 1, Hrgb. von Otto Apelt, Hamburg, 1988)


Zur Übersicht der Ausgrabungen