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L E B T

F R I E D R I C H   S C H I L L E R
Platon gegen die Sophisten II: Theaitetos  —  Auszüge aus Platons Theaitetos

Im Dialog Protagoras hatte Sokrates zwar nachweisen können, daß wahrhafte Tugend auf Wissen beruht, jedoch den Leser weiter im Unklaren darüber gelassen, um welche Art von Wissen es sich handelt und wie es zu erlangen ist. Um die Frage, was eigentlich Wissen sei, geht es in Platons spätem Dialog Theaitetos. Der Sophist Protagoras kommt in diesem Dialog zwar nicht persönlich vor, jedoch wird sein Dogma "Der Mensch ist das Maß aller Dinge" von Sokrates vernichtend widerlegt.

Der berühmte "Homo-Mensura"-Satz des Sophisten Protagoras: "Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß (wie) sie sind, der nichtseienden, daß (wie) sie nicht sind", ist nicht etwa im Sinne eines Renaissance-Humanismus zu verstehen, der den Menschen doch als lebendiges Abbild Gottes sah und ihn von daher ins Zentrum der Weltbetrachtung und der politischen Zielsetzungen rückte. Vielmehr wollte Protagoras damit deutlich machen, daß er alle kosmologischen oder naturphilosophischen Systeme der bisherigen griechischen Philosophie, die versucht hatten, das Universum als Ganzes zu verstehen, durch einen aufgeklärten subjektiven Relativismus ersetzen wollte. "Der Mensch als Maß aller Dinge" bedeutete für ihn, daß jeder mit seiner eigenen Meinung recht habe, da es keine Kriterien für "wahre oder falsche Meinung" bzw. wirkliches Wissen gebe.

Unsere heutige politische Kultur leidet an der gleichen Krankheit: Die Verwirrung im Schlachtgetümmel der Meinungen ist so groß, daß der normale Bürger sich heraushält - wie soll er beurteilen, was richtig oder falsch ist? Das Recht auf die eigene Meinung verbaut den Weg zum Wissen und führt so zur Entpolitisierung der Menschen.

In so einer Kultur der reinen Meinungen ist es für Sophisten - heute als PR-Agenturen, Beraterfirmen und Medienmogule bekannt - einfach, Begriffe wie Globalisierung und Reformen als positive Markenzeichen einer dynamischen, fortschrittlichen Gesellschaft zu "verkaufen", während in Wahrheit gerade diese "Markenzeichen" Armut, Arbeitslosigkeit und Entrechtung nach sich ziehen. Wer erkennt den Betrug, wenn es kein Kriterium für die Wahrheit hinter den Worten gibt? Im antiken Athen sprach man von Gerechtigkeit und Tugend, um den Eigennutz der Eliten zu verteidigen - gerade deswegen kämpfte Sokrates um den richtigen Begriff der Tugend, der sich nur aus der "Idee des Guten" ableiten lasse.

Was ist Wissen? Wahrnehmung haben auch Schweine und Paviane

Auf die Frage nach dem Wissen entwickelt zunächst der begabte junge Theaitetos ein mathematisches Beispiel, nämlich die Frage der Kommensurabilität der Zahlen. Dies beschreibt zwar eine mögliche Ebene des Wissens, beantwortet aber nicht die Frage, was Wissen sei.

Theaitetos wird unsicher und bietet dem Sokrates daraufhin als Definition an, Wissen sei Wahrnehmung! Das sei doch gerade das, was der Protagoras mit seinem Satz "Der Mensch ist das Maß aller Dinge" behaupte, meint Sokrates.

Nun wird im weiteren Verlauf des Gesprächs dieses sophistische Diktum vollkommen zerpflückt. Sokrates scheut dabei keine drastischen Vergleiche: Eigentlich könnten die Sophisten genauso behaupten, Schweine und Paviane seien das Maß aller Dinge! Wir erinnern uns an Platons Staat, wo er das Staatskonzept des Sophisten Glaukon als gerade recht für Schweine bezeichnet.

Platon geht es also nicht um eine abstrakte Diskussion über die Frage, was Wissen sei. Natürlich ist der Theaitetos ein Dialog über Erkenntnistheorie. Aber die Frage nach der wahren Erkenntnis und dem wirklichen Wissen bleibt bis zum Ende unbeantwortet, weil sie weder vom Empirismus reiner Sinneswahrnehmung noch vom analytischen oder vom synthetischen Verstandesdenken her zu beantworten ist. Die implizite Antwort wird auf einer Ebene außerhalb der Erkenntnistheorie gegeben.

Das Problem des Guten: Sklavenseele oder Philosoph

Das Grundproblem jeder Gesellschaft liege laut Sokrates in dem Konflikt zwischen den Sklavenseelen und den Philosophen. Die Sklavenseelen seien ständig genötigt, anderen zu schmeicheln oder andere zu schmähen, sie stünden unter dauerndem Druck wie vor Gericht - "während die Wasseruhr rinnt" - , nur anzuklagen und zu verteidigen.

Die Philosophen dagegen befassen sich mit den großen Fragen universeller Prinzipien, wie ein Thales, der bei der Betrachtung des Himmels das Nächstliegende übersah und in einen Brunnen fiel! Daß sich eine thrakische Magd über ihn lustig machte, kümmerte ihn genauso wenig, wie die Philosophenseelen generell sich nicht leicht beleidigen oder auch beeindrucken ließen.

Z.B. wird ein Philosoph sich nie von der Menge des Grundbesitzes beeindrucken lassen, den jemand sein eigen nennt: "Hört er aber, daß einer 10 000 Morgen Landes oder noch mehr besitzt, so kommt ihm das wie eine Winzigkeit vor, da er gewohnt ist, seinen Blick über die ganze Erde schweifen zu lassen."

Der eigentliche Höhepunkt des Dialogs ist dann die Auflösung dieses Konflikts. Innerhalb der rein empirischen und deduktiven Kategorien von Erkenntnis und Wissen gibt es keine Lösung - der Ausweg besteht in einer "Verähnlichung mit Gott", um "gerecht und fromm zu werden auf der Basis richtiger Einsicht".

"Gerecht werden" in der Nachahmung Gottes, heißt aber nichts anderes als gerecht handeln. Wirkliches Wissen kann also niemals kontemplativ sein, sondern bezieht sich auf richtiges Handeln, ob beim Handwerker oder beim Staatsmann. Und nochmals grenzt Platon dieses wirkliche Wissen vom sophistischen Scheinwissen scharf ab, dem es nur deswegen um tugendhaftes Handeln geht, um gerecht und gut zu erscheinen.

Nun könnte man dies als wirkungslosen moralischen Appell abtun - womit man Platon und alle anderen großen Denker seit Menschengedenken zu realitätsfernen Idealisten abstempelt und herunterstuft. Aber Vorsicht! Die erkenntnistheoretische Entkräftung des sophistischen empirischen Diktums folgt auf dem Fuße, wenn es um die Erkenntnis der Zukunft geht. Das Gute und Gerechte im Staat zu verwirklichen ist doch genauso auf die Zukunft gerichtet wie die richtige Diagnose und Therapie des Arztes oder die Herstellung von handwerklichen Produkten. Die Zukunft können wir nicht durch unsere Sinneswahrnehmung erfassen, sondern nur durch Wissen. Wir würden heute sagen, hierbei geht es um das Wissen bestimmter Prinzipien, die jenseits der Zeit, der spezifisch historischen Situation angesiedelt sind.

Die Notwendigkeit eines "Wissens" um die Zukunft stellt die gefährliche Verdummungsstrategie hinter dem sophistischen subjektiven Relativismus vom "Menschen als Maß aller Dinge" bloß. Interessanterweise findet sich der Bezug auf die Zukunft in einem politischen Dokument zum ersten Mal in der amerikanischen Verfassung, in der die Regierung verpflichtet wird, das Gemeinwohl zu fördern - und zwar der jetzt lebenden wie der zukünftigen Generationen.

Frank Hahn


Auszüge aus Platons Theaitetos

Theaitetos: (...) Meine Meinung geht dahin: der, welcher etwas weiß, nimmt dasjenige wahr, was er weiß. Demnach ist, wie es jetzt scheint, das Wissen nichts anderes als Wahrnehmung ...

Sokrates: Es scheint, du hast keine schlechte Bestimmung des Wissens gegeben, sondern diejenige, die auch Protagoras gab. Nur sagte er das nämliche auf andere Weise. Er behauptet nämlich, der Mensch sei das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, der nicht seienden, daß sie nicht sind. Du hast es doch gelesen?

Theaitetos: Gewiß, und nicht bloß einmal.

Sokrates: Meint er es also nicht so, daß für mich alles so ist, wie es mir erscheint, und für dich hinwiederum so, wie es dir erscheint? ... Kommt es nicht öfters vor, daß beim Wehen eines Windes der eine von uns friert, der andere nicht ...?

Theaitetos: Gewiß.

Sokrates: Wollen wir nun den Wind an und für sich kalt oder nicht kalt nennen, oder sollen wir mit Protagoras sagen, daß er für den Frierenden kalt, für den anderen es aber nicht sei? (151f)

Sokrates: (...) Im übrigen hat er [Protagoras] zwar ganz nach meinem Sinne den Beweis dafür geführt, daß für einen jeden, was er sich vorstellt, auch wirklich ist. Aber was ich nicht recht begreiflich fand, ist der Anfang seiner Rede, daß er nämlich... nicht sagt, das Schwein oder der Pavian oder sonst ein wahrnehmendes Wesen noch untergeordneteren Ranges sei das Maß aller Dinge, um so gleich im Eingang des Ganzen einen recht hochmütigen Ton gegen uns anzuschlagen, indem er bewies, daß während wir ihn wie einen Gott anstaunten ob seiner Weisheit, er selbst nichts an Einsicht voraus hätte vor einem jungen Frosch, geschweige denn vor einem anderen Menschen ... Denn wenn für einen jeden wahr sein soll, was er auf Grund der Wahrnehmung meint, und wenn einem anderen weder ein richtiges Urteil über den Wahrnehmungseindruck eines anderen auf ihre Richtigkeit oder Verkehrtheit hin zustehen soll, wenn vielmehr jeder, wie oft gesagt, selbst seine Vorstellungen allein für sich haben soll, diese aber durchgehend richtig und wahr sind, worin besteht denn dann, mein Freund, die Weisheit des Protagoras, der er es mit Recht verdankt, daß auch andere sich ihn gegen hohe Bezahlung zum Lehrer erwählen ...? (161)

(...) Dann ergibt sich als das Allernetteste folgendes: wenn Protagoras einräumt, daß die Meinungen aller Menschen wahr seien, so gibt er doch damit zu, daß die Meinung derjenigen wahr sei, die über seine - des Protagoras - Meinung anderer Ansicht sind, insofern sie glauben, daß er im Irrtum sei. (171)

(...) So ist es mit beiden bestellt ... Der eine ist wahrhaft in Freiheit und Muße aufgewachsen, er, dem du jedenfalls den Namen "Philosoph" gibst: ihm macht es nichts aus, als einfältiger und unnützer Gesell zu gelten, wenn ihn etwa das Los trifft, Sklavendienste zu verrichten, und er sich z.B. nicht darauf versteht, das Reisbündel zu schnüren... Der andere aber kann diese Dienstleistungen behend und pünktlich verrichten, versteht sich aber nicht darauf..., der Reden harmonische Fassung zu treffen und in rechter Weise der Götter und seligen Menschen wahrhaftiges Leben zu preisen.

Theodoros: Könntest du, mein Sokrates, alle von der Wahrheit deiner Rede so überzeugen wie mich, so würde es mehr Frieden und weniger Übel unter den Menschen geben.

Sokrates: Aber das Übel kann weder verschwinden, mein Theodoros, denn es muß immer etwas dem Guten Entgegengesetztes geben, noch kann es etwa bei den Göttern seine Unterkunft finden, sondern mit Notwendigkeit umkreist es die sterbliche Natur und unsere irdische Stätte. Daher gilt es auch zu versuchen, von hier so schnell wie möglich dorthin zu entfliehen.

Die Flucht aber besteht in der möglichsten Verähnlichung mit Gott, ihm ähnlich werden heißt aber, gerecht und fromm werden auf der Grundlage richtiger Einsicht.

Die große Masse behauptet nämlich, man müsse der Tugend sich befleißigen und die Schlechtigkeit meiden aus keinem anderen Grund als dem, damit man nach außen nicht als schlecht erscheine, sondern als gut. Das ist aber meines Erachtens nichts als Altweibergeschwätz, um mich dieses bekannten Ausdrucks zu bedienen. Die Wahrheit dagegen lautet folgendermaßen: Gott ist in keiner Beziehung irgendwie ungerecht, sondern so gerecht als nur möglich, und es gibt ihm nichts Ähnlicheres als den unter uns, der so gerecht als möglich wird. Um diesen Punkt dreht sich auch die wahrhafte Tüchtigkeit und Nichtigkeit und Unmännlichkeit des Menschen. Denn die Erkenntnis dessen ist Weisheit und wahrhafte Tugend, die Unkenntnis offenbare Torheit und Schlechtigkeit. Die anderen scheinbaren Arten von Tüchtigkeit und Weisheit sind, soweit sie bei staatlichen Stellungen hervortreten, würdelos, soweit in Handwerkerkünsten, unedel. (176ff)

(...) Im Punkte des Guten aber hat noch niemand den Mut gehabt zu behaupten, daß das, was ein Staat in dem Glauben an die Nützlichkeit für das Gemeinwohl festgesetzt hat, auch so lange nützlich sei, als es gesetzliche Geltung hat ... Es [das Nützliche] bezieht sich aber auf die zukünftige Zeit. Denn wenn wir Gesetze geben, so tun wir dies in der Absicht, daß sie für die kommende Zeit sich nützlich erweisen. Das aber nennen wir mit Recht Zukunft.

Theodoros: Allerdings ...

Sokrates: Wohlan denn, laß uns den Protagoras oder irgendeinen seiner Anhänger also fragen: Der Mensch ist das Maß aller Dinge, wie ihr sagt, Protagoras, des Weißen, Schweren, Leichten und jeder derartigen Qualität, denn da er selbst der Richter darüber ist, so hält er, da seine Überzeugung seinem Empfindungszustand entspricht, es für wahr und richtig.

Theodoros: Ja.

Sokrates: Nun werden wir weiter zum Protagoras sagen: Ist der Mensch auch selbst Richter über das Zukünftige, und tritt das, was er als zukünftig annimmt, auch wirklich so ein? Nimm z.B. die Wärme: Wenn ein Laie glaubt, er werde Fieber bekommen, es werde sich also diese Art von Wärme einstellen, und ein anderer, und zwar ein Arzt, das Gegenteil meint, sollen wir dann sagen, daß die Zukunft dem Urteil eines von beiden entsprechen werde oder dem Urteil beider und daß der Betreffende also für den Arzt nicht warm und auch nicht fieberkrank, für sich aber beides?

Theodoros: Das wäre lächerlich.

Sokrates: Ferner, meine ich, hat über die zukünftige Süßigkeit und Herbigkeit des Weines der Landmann das zuständige Urteil, nicht aber der Lautenspieler ... (178)

(...) Haben nun nicht auch die Gesetzgebungen und der durch sie beabsichtigte Nutzen es mit der Zukunft zu tun, und wird nicht jeder es als unvermeidlich anerkennen, daß ein Staat bei der Abfassung von Gesetzen oft das für ihn Nützlichste verfehlt?

Theodoros: Allerdings.

Sokrates: Wir werden also zu deinem Lehrer mit gutem Grunde sagen können, daß er notwendig einräumen müsse, der eine sei weiser als der andere und der Weisere sei das Maß, für mich aber, den Unwissenden, läge nicht die geringste Notwendigkeit vor, ein Maß zu werden. (179)


(zitiert nach Platon, Sämtliche Dialoge, Band 4, Hrsg. von Otto Apelt, Hamburg, 1988)


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