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F R I E D R I C H   S C H I L L E R
Platon und die Sophisten: "Sophistes" und "Gorgias"  —  Auszüge aus Platons Gorgias

Wir können die Behandlung der Sophisten in den platonischen Dialogen nicht verlassen, bevor wir nicht den wohl herzhaftesten und dynamischsten Dialog erwähnt haben: Gorgias! Dann gibt es auch noch den Dialog Sophistes (Der Sophist), der dem Titel nach uns wohl die beste Auskunft über das Wesen des Sophisten geben sollte.

Nun wäre es aber ein sehr langwieriger Weg, wenn man den guten, redlichen Staatsmann vom lügenbildnerischen Sophisten nur nach einem abgeschlossenen Philosophiestudium unterscheiden könnte. Im Dialog Gorgias wird nun die gleiche Frage sehr viel direkter und politischer beantwortet. Die thematische Verschränkung mit dem Sophistes liegt darin, daß der Sophist Gorgias im wirklichen Leben zwar erst ein Schüler des Parmenides war, sich dann aber gegen ihn wandte - und zwar mit der gleichen Begründung wie Platon, indem er nämlich die Existenz des Nichtseins anerkannte!

Jetzt scheint die Verwirrung komplett zu sein - doch gemach! Natürlich verstand Gorgias unter der Existenz des Nichtseins etwas ganz anderes als Platon, denn Gorgias war überzeugter Nihilist. Die extreme Steigerung seines Satzes, daß Nichts sei, führte zu dem Kerndogma des Sophismus, nämlich der Unmöglichkeit wahrer Erkenntnis.

Bei Gorgias hört sich das so an: Nach der Feststellung, gar nichts sei, folgert er: "Wenn doch etwas ist, ist es nicht erkennbar; wenn aber doch etwas sowohl ist wie auch erkennbar ist, dann ist es jedoch anderen nicht zu verdeutlichen." Dann sind die Sophisten ja wieder einmal fein raus, könnte man sagen. Denn auf diese Weise können sie sich dem Vorwurf der Trugbildnerei entziehen, da in einer Welt, in der (ohnehin zweifelhafte) Erkenntnis nicht mitgeteilt werden kann, ohnehin alles nur Schein ist!

Redekunst als Schmeichelei

Im gleichnamigen Dialog tritt Gorgias nicht als Philosoph des Nihilismus auf, sondern als hochbetagter Rhetor, an dessen Beispiel Sokrates erneut die Frage untersucht, wie wir den sophistischen vom staatsmännischen Redner unterscheiden.

Gorgias definiert die Redekunst als Schmeichelei oder Demagogie. Es kommt nach seiner Definition gar nicht darauf an, ob der Redner vom Gegenstand seiner Rede etwas versteht oder nicht. Sokrates meldet Widerspruch an: Wie soll z.B. ein Redner die Gerechtigkeit lehren, wenn er gar nichts davon versteht? Gorgias ist ein abgeklärter Fuchs, der sich nicht aus der Reserve locken läßt, sondern, ohne Skrupel sich selbst widersprechend, einfach behauptet, im Falle der Gerechtigkeit sei es anders, der Schüler lerne durch die Rede über die Gerechtigkeit, gerecht zu werden. Damit tritt er ab.

Nun wechseln Sokrates' Gesprächspartner: Erst Polos und dann Kallikles argumentieren äußerst aggressiv, teilweise entlarvend dumm. Der Tonfall auf beiden Seiten verschärft sich, die dramatische Intensität des Dialogs nimmt stetig zu. Gorgias ist vielleicht der packendste, spannendste Dialog, in dem es auch derbe, fast gewalttätige Wortgefechte auf beiden Seiten gibt. Kallikles z.B. verliert regelmäßig die Fassung, beschimpft Sokrates als alten Mann, der nur "Wortgekräusel" verbreite und es doch endlich aufgeben und sich zur Ruhe setzen soll. Sokrates seinerseits läßt Kallikles immer wieder genüßlich auflaufen und kann ihm nachweisen, daß er der Wortklauber ist, nicht Sokrates.

Kern des Sophismus: Das Recht des Stärkeren

Sokrates entlarvt durch sein "entnervendes" Fragen rigoros das Staatsverständnis und Menschenbild der Sophisten. Polos vergleicht den Redner mit dem Tyrannen, der tun könne, was er wolle - denn die Redner benutzten ihre Redekunst nur, um nach Gutdünken zu töten, zu rauben und Menschen zu verjagen. Polos findet das in Ordnung, schließlich sei es doch erstrebenswert, das tun zu können, was man wolle. Hier kommt uns der Sophismus ganz ungeschminkt entgegen - die Folge der willkürlichen, weil nicht sachkundigen Redekunst ist die Willkür der Macht.

Sokrates bringt nun die Gesprächsteilnehmer völlig aus der Fassung, als er sagt, der Tyrann tue gar nicht das, was er wolle - denn der Mensch wolle eigentlich immer das Gute. Morden, Verjagen und Berauben seien jedoch von Übel. In der scharfen Abgrenzung zur sophistischen Machtwillkür erarbeitet Platon hier seinen Begriff des Guten als zentrale Idee seines Staatsverständnisses und Menschenbildes. Die Szene gewinnt an Dramatik: Mitten unter dem sophistischen Mob, der sich hier ganz offen protofaschistisch aufführt, wagt es Sokrates, die Idee des Guten in den Satz zu kleiden, daß Unrechttun schlimmer sei als Unrechtleiden! Hier klingt bereits die christliche Botschaft an. Unrechttun sei nämlich böse und häßlich, während Unrechtleiden nicht die eigene Seele beschmutze. Am schlimmsten ist es jedoch, wenn jemand für begangenes Unrecht nicht bestraft werde, behauptet Sokrates.

Höhnisch tönt Polos, daß doch derjenige sich glücklich schätzen könne, der bei seinen Verbrechen nicht erwischt wird! Sokrates erwidert, die Strafe habe eine reinigende Funktion für die Seele. Kallikles platzt angesichts dieser "Zumutung" vor Wut und läßt die ganze Brutalität hinter der scheinbar harmlosen Schönrednerei des Sophismus erkennen. Der faschistische Grundsatz "Macht setzt Recht" wird von ihm ungeniert bis zur Konsequenz des Führerprinzips vorgestellt: "Aber laßt nur den richtigen Mann entstehen, eine wahre Kraftnatur..."

Die Redekunst als Schmeichelei führt also in die Tyrannei der Starken über die Schwachen, in die Gesetzlosigkeit einer Gesellschaft, in der Eigennutz nur noch in der Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse gesehen wird.

Das Gute und die Unsterblichkeit

Damit ergibt sich beinahe von selbst die Auflösung der offenen Frage aus dem Sophistes: Sokrates stellt fest, daß es offenbar zwei Arten der Redekunst gibt, nämlich die Schmeichelei und die Redekunst, die den Menschen bessern will. Das ist der Maßstab für einen wirklichen Staatsmann. Sokrates veranschaulicht dies in dem Begriff, daß Kallikles mehr das Volk (soll heißen des Volkes Meinung) liebt als die Wahrheit bzw. die Philosophie. Der das Volk "liebt" und umschmeichelt, der wird sich dem Tyrannen ähnlich machen.

Ähnlich wie im Protagoras, nur mit größerer Strenge, entwickelt Platon im Gorgias den Unterschied zwischen dem Angenehmen und dem Guten. Während der Sophist schmeichelhafte Reden hält, die niemandem wehtun, will der Staatsmann die Menschen bessern und muß daher auch unangenehme Wahrheiten sagen, so wie auch der Arzt zum Zwecke der Gesundung manchmal Schmerzen verursacht.

Die eigentliche Wahrheit des Guten liegt jedoch tiefer - und erneut begegnen wir dem platonischen Grundsatz der Einheit von Reden und Handeln. Kallikles und Sokrates kommen darin überein, daß der Staatsmann, der die Menschen bessern will, sich so unbeliebt macht, daß man versuchen wird, ihn vor Gericht zu stellen und zum Tode zu verurteilen. Aus diesem Grund gäbe es keine wirklichen Staatsmänner - die Angst hindere sie.

Hier ergibt sich nun der tiefste Gegensatz zwischen Sokrates und den Sophisten: Sokrates entwickelt leidenschaftlich seine Überzeugung, daß es nicht das Ziel sei, so lange wie möglich zu leben, sondern ein "gutes Leben" zu führen. Ein gutes Leben führen heißt auch, bereit zu sein, für die Wahrheit zu sterben. Hier erkennen wir den wahren Unterschied zwischen Staatsmann und Sophist.

Frank Hahn


Auszüge aus Platons Gorgias

Kallikles: ... Meiner Ansicht nach sind es eben die sich schwach Fühlenden unter den Menschen und die große Masse, die die Gesetze geben ..., um die kraftvolleren Menschen, die in der Lage sind, sich Vorteile zu verschaffen, einzuschüchtern ... Die Natur selbst aber, denke ich, gibt zu erkennen, daß es gerecht ist, wenn der Bessere gegen den Schlechteren und der Fähigere gegen den Unfähigeren im Vorteil ist. Daß dem so ist, zeigt sich in mannigfacher Weise nicht nur bei den übrigen Geschöpfen, sondern auch bei den Menschen in den Verhältnissen ganzer Staaten und Geschlechter: Es gilt nämlich da als ausgemachtes Recht, daß der Stärkere über den Schwächeren herrsche und gegen ihn in Vorteil sei. Auf Grund welchen Rechts wäre denn sonst Xerxes gegen Hellas zu Felde gezogen... Kein Zweifel: diese Leute handeln nach der Natur und, beim Zeus, nach dem Gesetz der Natur, aber freilich nicht nach jenem von uns aufgestellten Gesetz, auf Grund dessen wir auf die Besten und Kraftvollsten unter uns gleich von Jugend auf die Hand legen und sie wie Löwen zu zähmen und zu sänftigen suchen, um sie unterwürfig zu machen, unter dem Vorgeben, es müßte Gleichheit herrschen und diese sei das Schöne und Gerechte. Aber laß nur den rechten Mann erstehen, eine wirkliche Kraftnatur; der schüttelt all das ab, zerreißt die Fesseln und macht sich frei, tritt all unsere Paragraphen, unsere Zähmungs- und Besänftigungsmittel und den ganzen Schwall widernatürlicher Gesetze mit Füßen und steigt so vom Sklaven empor zum glänzenden Herrn über uns; da leuchtet denn das Recht der Natur aufs hellste hervor.(483-84)

(...)

Sokrates: Ja, ich wäre allerdings, mein Kallikles, ein großer Tor, wenn ich nicht glauben wollte, daß in unserem Staat jeden jedes nur denkbares Schicksal treffen kann. Aber das weiß ich ganz genau: wenn ich aus einem der obigen Gründe angeklagt werde und vor die Richter gebracht werde, so ist es ein Schurke, der mir das antut; denn kein redlicher Mann wird einen schuldlosen Menschen vor Gericht bringen. Und ein Wunder wäre es nicht, wenn ich zum Tode verurteilt würde. Soll ich dir sagen, warum ich darauf gefaßt bin?

Kallikles: Jawohl.

Sokrates: Ich glaube allein oder nur mit wenigen Athenern mich der wahren Staatskunst zu befleißigen und allein unter den Lebenden dem Staate wahrhaft zu dienen. Da ich nun bei meinen vielfachen Unterhaltungen niemals jemandem nach dem Mund rede, sondern immer nur im Hinblick auf das wahre Beste und nicht auf das Angenehmste, und da ich mich nicht einlassen will auf das, wozu du aufforderst, nämlich auf jene Schönrednerei, so werde ich vor Gericht nicht wissen, was ich zu sagen habe. Ich komme wieder auf das Nämliche zurück, was ich schon dem Polos gegenüber ausführte. Ich werde nämlich verurteilt werden, wie ein Arzt unter Kindern verurteilt würde, wenn ein Koch ihn anklagte. Denn frage dich nur, was ein solcher Mann als Angeklagter vor ihnen wohl zu seiner Verteidigung antworten würde, wenn ein Angeklagter ihn folgendermaßen beschuldigte: Liebe Kinder, dieser Mann hat euch viel Übles angetan und richtet auch selbst schon die Jüngsten unter euch zugrunde mit Schneiden und Brennen und macht euch dürr und welk und bereitet euch Pein durch Verordnung der bittersten Arzneien und läßt euch hungern und dursten und regaliert euch nicht, wie ich es tat, mit vielen süßen und mannigfachen Speisen. Was würde wohl ein in solche Bedrängnis geratener Arzt zu sagen wissen? Oder, wenn er die Wahrheit sagte: "Das alles tat ich, liebe Kinder, eurer Gesundheit zuliebe", was für ein Geschrei würden dann wohl die Richter erheben? Nicht ein gewaltiges?

Kallikles: Vielleicht. Glauben wenigstens sollte man es.

Sokrates: Wird er nicht in voller Verzweiflung sein, was er sagen soll?

Kallikles: Allerdings.

Sokrates: In derselben Lage würde auch ich mich befinden, wenn ich vor Gericht erscheinen müßte; das weiß ich ganz sicher. Denn Genüsse, die ich ihnen verschafft hätte, werde ich ihnen nicht aufzählen können, und das ist es doch gerade, was sie als Wohltaten und Förderungen betrachten, während ich weder diejenigen preise, die sie schaffen, noch diejenigen, denen sie verschafft worden. Und wenn einer sagt, ich verderbe junge Leute dadurch, daß ich sie an sich selbst irre mache, oder ich schmähe die Älteren durch kränkende Reden im persönlichen und öffentlichen Verkehr, so werde ich weder die Wahrheit sagen können: "Alles dies sage und tue ich im Einklang mit der Gerechtigkeit" - darüber zu urteilen ist ja eben eure Sache, ihr Richter - , noch irgendetwas anderes. Es bleibt mir also wohl nichts übrig, als über mich ergehen zu lassen, was das Schicksal eben bringt. (...)

Glaube mir also und folge mir auf dem Weg dahin, wo angelangt du glücklich leben und sterben wirst, wie das Gesagte zeigt. Und wenn dich jemand verachtet als Toren und dich beschimpft, so laß ihm ruhig seinen Willen und laß dir, beim Zeus, getrost den entehrenden Backenstreich geben; denn damit wird dir nichts Schlimmes widerfahren, wenn du nur in Wahrheit ein braver Mann bist und die Tugend übst. Und dann erst, wenn wir sie gemeinsam geübt, nicht eher, wollen wir nötigenfalls uns auch an die Staatsgeschäfte wagen .., denn dann taugen wir mehr dazu als jetzt. Denn schimpflich ist es, in der Geistesverfassung, in der wir uns jetzt darstellen, groß zu tun, als wären wir etwas, die wir fortwährend in unseren Ansichten über die nämlichen Dinge wechseln, und zwar bei den allerwichtigsten Fragen. So mangelhaft ist unsere Bildung. Wie einem Wegweiser also wollen wir dem jetzt gefundenen Spruche folgen. Er zeigt uns, daß dies die beste Lebensweise ist sowohl im Leben wie im Tode, die Gerechtigkeit und jede andere Tugend zu üben.(521ff)


(zitiert nach Platon, Sämtliche Dialoge, Band 1, Hrsg. von Otto Apelt, Hamburg, 1988)


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