S C H I L L E R

L E B T

F R I E D R I C H   S C H I L L E R
Platons Timaios - Leitfaden für zukünftige wissenschaftliche Revolutionen  —  Auszüge aus Platons Timaios

Von allen klassischen Werken, die sich mit der Physik befassen, hatte Platons Dialog Timaios den größten und positivsten Einfluß auf den wissenschaftlichen Fortschritt. Auf den ersten Blick scheint der Timaios einer ausführlichen Diskussion einiger damals diskutierter Theorien über die Entstehung des Universums, die Bewegung der Sterne und Planeten, die Zusammensetzung der Materie, die Physiologie des menschlichen Körpers und anderer damit zusammenhängender Themen gewidmet zu sein. Natürlich hat das Wissen in den vergangenen 23 Jahrhunderten diese Auffassungen sehr weit hinter sich gelassen. Daraus ziehen einige den Fehlschluß, dieser Dialog verdiene höchstens historisches Interesse. Und so ist der Timaios, wenn überhaupt, nicht wegen seines wissenschaftlichen Inhalts, sondern wegen der ansonsten raren ausdrücklichen Verweise auf den untergegangenen Kontinent Atlantis bekannt. Wie ich jetzt in gebotener Kürze darlegen möchte, liegt das eigentliche Thema des Dialogs jedoch anderswo: in der Mitteilung einer universellen Methode der Entdeckung, die nicht nur bis heute gültig ist, sondern weit in die Zukunft auf kommende wissenschaftliche Revolutionen verweist.

Dieses entscheidende Thema, das bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Platon und der Philosophiegeschichte im allgemeinen ignoriert wird, haben führende wissenschaftliche Denkern im Laufe der Jahrhunderte hingegen sehr wohl verstanden. So bildete der Timaios zusammen mit den Werken des Nikolaus von Kues die wesentliche Inspirationsquelle für Johannes Kepler bei seiner revolutionären Entdeckung der Schwerkraft, 18 Jahrhunderte nach Platon; eine Entdeckung, die die neuzeitliche Entwicklung der Physik bis heute begründete. Keplers Weltharmonik bezieht sich so eng auf zentrale Prinzipien des platonischen Timaios, daß man es fast als eine direkte Fortsetzung bezeichnen könnte. Es ist auch kein Zufall, daß sich der berühmte Physiker Werner Heisenberg am Ende seines Lebens, 1976, intensiv mit diesem Dialog auseinandersetzte, weil er hoffte, dadurch zu einem besseren Verständnis der paradoxen Natur der sogenannten "Elementarteilchen" zu gelangen.

Aber das "Geheimnis" der anhaltenden Bedeutung des platonischen Timaios für die heutige Wissenschaft hat nichts mit den Einzelheiten der dort dargelegten und längst überholten Theorien zu tun. Um dieses "Geheimnis" zu entschlüsseln, muß der Leser über Platons unmittelbare Themenwahl hinausgehen und sich den tieferen Problemen, der Frage nach dem "Wie man über die Welt um uns herum nachdenken soll" widmen. Dies betrifft nicht nur die Physik, sondern jeden Gegenstand des menschlichen Denkens und insbesondere Fragen der Politik, der gesellschaftlichen Ordnung und den Kampf gegen das Übel des Sophismus - alles Problemstellungen, die den Kern der platonischen Dialoge ausmachen. Wenn wir den Timaios im Zusammenhang des platonischen Gesamtwerkes betrachten, sollten wir uns fragen: Was erreicht Platon damit, wenn er eine ausführliche Diskussion über Naturwissenschaften an einer ganz bestimmten Stelle seines Dialogs beginnen läßt?

Der Timaios selbst liefert einen Großteil der Antwort selbst. Schon zu Beginn kündigt sich der Dialog als Fortsetzung eines Gesprächs an, das am Tag zuvor begonnen hatte und in dem Sokrates die Prinzipien einer idealen Gesellschaft - einer Republik - darlegte. Nachdem er die wesentlichen Aspekte seiner vorangegangenen Erörterungen dargelegt hat, erklärt Sokrates, er gebe sich nicht mehr mit der reinen konzeptionellen Darstellung zufrieden, sondern wolle prüfen, wie sich diese hypothetische Gesellschaft wohl in der realen Welt bewähre. Wie bewährten sich die hervorragenden Gesetze und Prinzipien in der Praxis, etwa unter den Bedingungen eines großen Krieges? Sokrates beharrt darauf, daß weder ein Sophist noch ein wohlmeinender Dichter in der Lage wären, ein solches lebensechtes Gedankenspiel zu entwickeln. Das könne nur jemand schaffen, der gleichermaßen in der Philosophie und der Staatskunst bewandert sei und der wisse, wie Menschen unter verschiedenen Lebensumständen handelten und reagierten. Sokrates trägt diese Aufgabe seinen Gesprächspartnern Kritias, Hermokrates und den Astronomen und Staatsmann Timaios von Lokri an.

Was hat nun diese Herausforderung des Sokrates mit der Methode wissenschaftlicher Entdeckung zu tun? Und mit dem sich anschließenden langen Diskurs des Timaios über die Entstehung des Universums, der praktisch den restlichen Dialog einnimmt?

Heutige Kommentatoren kommen mit dieser Frage nicht zurecht, aber die Antwort sollte für jeden klar sein, der sich mit dem Werk Lyndon LaRouches, und vor allem der Frage der "Geschichte als Wissenschaft" auseinandergesetzt hat. Wie LaRouche sieht Platon Geschichte nicht als mechanistischen Prozeß, sondern als Kampfschauplatz und Entwicklungslabor von Ideen.

Der Schlüssel zum Verständnis der Geschichte - und damit auch der Lösung der grundlegenden politischen Herausforderungen, der sich die Menschheit heute, aber auch an allen entscheidenden Wendepunkten der Geschichte gegenüber sieht und sah - liegt im Verständnis der Wirkbeziehung zwischen den Ideen, die die Kultur einer gegebenen Gesellschaft prägen, und den physikalischen Folgen dieser Ideen, so wie sie im geschichtlichen Prozeß zum Ausdruck kommen, der das Schicksal von Gesellschaften und sogar ganzen Zivilisationen bestimmt. Sokrates betont in seiner Darlegung der Republik, die Ideen, die das menschliche Handeln bestimmen und die etwa in der Verfassung oder dem Grundgesetz eines Staates zum Ausdruck kommen, würden den Menschen nicht irgendwie von außen übergestülpt (etwa vom Hegelschen Weltgeist), sondern ergäben sich aus bewußten Entdeckungsakten und Entscheidungen der Menschen einer Gesellschaft. So gesehen schafft der Mensch - im Guten wie im Bösen - seine eigene Geschichte. Das ganze Werk Platons ist praktisch dieser einen Frage gewidmet: Wie erkennt man die Ideen, die dem Menschen und der menschlichen Gesellschaft die größten Wohltaten erweisen?

Dies bringt uns nun direkt zum zentralen wissenschaftlichen Thema des Timaios und den nebenstehenden Auszügen. Indem wir uns für bestimmte Ideen und Prinzipien für unsere Gesellschaft entscheiden, treten wir mit dem physischen Universum um uns herum auf verschiedenen Ebenen in Interaktion. Zunächst, wie ich schon sagte, ist die menschliche Geschichte selbst ein physischer Prozeß. Auch wenn viele Politiker und andere dies zu ignorieren vorziehen, ist die menschliche Gesellschaft Teil des Universums und unterliegt dessen allgemeiner Gesetzmäßigkeit. Die Folgen von Ideen im "wirklichen Leben", wie sie etwa durch politische Entscheidungen hervorgerufen werden, werden durch die Wechselwirkung zwischen den drei physischen Bereichen geprägt, die im Timaios diskutiert werden: dem Bereich der menschlichen Geistesaktivität, dem Bereich biologischer Prozesse und dem Bereich lebloser Materie. Diese einfache Tatsache liegt auch dem später sogenannten Naturrecht zugrunde: die Aufgabe, die Organisation der Gesellschaft mit der gesetzmäßigen Ordnung des Universums als ganzem in Einklang zu bringen. Damit dies gelingt, muß der Mensch zuerst wahre Ideen über die allgemeine Natur der Prinzipien (oder Gesetze) entwickeln, die das Universum lenken, und wie diese physikalischen Prinzipien immer angemessener und umfassender entdeckt werden können.

Die Eingangspassage des Timaios-Diskurses, aus der nebenstehend zitiert wird, gehört zu den berühmtesten und einflußreichsten Stellen der gesamten wissenschaftlichen Literatur. Dort argumentiert Timaios, das Universum, so wie es in der Form der Entstehung physikalischer Erscheinungen wahrgenommen werde, habe eine notwendige Ursache, die außerhalb des Bereichs der sinnlichen Wahrnehmung liege, die aber der menschliche Geist aufgrund seiner Vernunftbegabung erkennen könne.

Man könnte die Metapher des Timaios etwa so zusammenfassen: Die Beziehung zwischen jenem Grund als einer Idee und dem wahrgenommenen Universum als Prozeß entspricht der zwischen der ursprünglichen musikalischen Idee oder Absicht, wie sie im Geist des Komponisten existiert, und der Aufführung dieser musikalischen Komposition, womit der Komponist dieser Idee Ausdruck verleiht. Timaios bezeichnet ersteres als "Vorbild".

Die zweite zitierte Passage ist nicht weniger erstaunlich. Mehr als 2 000 Jahre vor Leibniz, Riemann und Einstein führt Timaios sozusagen ein "relativistisches" Zeitverständnis ein, wobei Zeit als etwas gesehen wird, das zusammen mit dem physischen Universum selbst entstanden ist.

Im dritten Auszug verweist Timaios darauf, daß die "Einheiten", die damals als "Elemente" oder "Bausteine" des Universums gesehen wurden - Erde, Wasser, Luft und Feuer - , in Wirklichkeit keine Gegenstände, sondern eher "Zustände" (Singularitäten) sind, die im Prinzip ineinander übergehen können.

An einer späteren Stelle kommt Platon auf das Konzept der physischen Geometrie zu sprechen, das im Gegensatz zur reduktionistischen Tradition eines Descartes, Newton und anderer die Grundlage aller wichtigen Fortschritte in der theoretischen Physik der vergangenen zwei Jahrhunderte bildete. Aus diesem Grunde betrachtete Heisenberg eben den Timaios als das "Geheimnis" der sogenannten "Elementarteilchen", deren paradoxe Transformationen die schlecht ausgebildeten Physiker unserer Tage immer noch beschäftigen.

Dr. Jonathan Tennenbaum


Auszüge aus Platons Timaios

1. Wir sollten vor allem folgendes unterscheiden: was ist das immer Seiende, das kein Werden hat, und was ist das immer Werdende, aber niemals Seiende? Das eine ist ja doch durch das Denken, mit Hilfe der vernünftigen Überlegung faßbar, indem es immer mit sich identisch ist; das andere dagegen ist durch die Meinung, mit Hilfe der vernunftlosen Wahrnehmung meinbar, indem es wird und vergeht, aber niemals wirklich ist. Im weiteren aber muß jedes Werdende notwendig infolge eines Ursächlichen werden; denn es ist unmöglich, daß irgend etwas ohne Ursache eine Entstehung hat ...

Nehmen wir also den ganzen Himmel - oder die Welt oder, wenn es lieber mit einem anderen Namen bezeichnet werden will, so geben wir ihm diesen Namen - , da müssen wir uns doch zuerst über das klar werden, was man grundsätzlich in jedem Fall als erstes untersuchen muß: ob er schon immer bestanden hat, ohne daß er den Anfang eines Entstehens hatte, oder ob er entstanden ist, nachdem er irgendwo seinen Anfang genommen hatte. Er ist entstanden; denn er ist sichtbar und tastbar und hat einen Leib; alles Derartige aber ist wahrnehmbar, und alles Wahrnehmbare, das durch die Meinung mit Hilfe der Wahrnehmung erfaßt werden kann, das erschien als Werdendes und Erzeugtes. Und das Gewordene, sagten wir ferner, müsse notwendig infolge eines Ursächlichen entstanden sein ...

Was nun das All betrifft, so ist wiederum zu untersuchen, nach welchem Vorbild der Baumeister es geschaffen hat, ob nach dem Identischen, das sich immer gleich verhält, oder nach dem Gewordenen. Denn wenn diese Welt schön ist, und der Meister ist gut, so hat er offenbar auf das Ewige geblickt; ist aber jenes der Fall, was keiner auch nur sagen darf, so hat er auf das Gewordene geblickt. Es ist also jedermann klar, daß er auf das Ewige geblickt hat; denn die Welt ist das Schönste von allem Gewordenen, und er ist der beste von allen Urhebern. Nachdem sie also auf diese Weise entstanden war, ist sie im Hinblick auf das gebildet worden, was von Überlegung und vernünftigem Denken erfaßt wird, und nach dem Identischen.

2. Als aber der Vater, der dies erschaffen hatte, sah, wie es sich bewegte und lebendig war als ein Abbild der ewigen Götter, empfand er Befriedigung darüber, und in seiner Freude gedachte er, es seinem Urbild noch ähnlicher zu machen ... Die Natur des Lebendigen war nun freilich von ewiger Dauer, und er konnte dies unmöglich auf das Gewordene vollständig übertragen; doch beschloß er, ein bewegtes Abbild der Ewigkeit zu schaffen, und während er den Himmel einrichtete, schuf er gleichzeitig von der Ewigkeit, die in dem Einen verharrt, ein ewiges Bildwerk, das sich nach dem Gesetz der Zahlen bewegt, nämlich eben das, was wir die Zeit genannt haben. Denn Tage und Nächte, Monate und Jahre, die gab es nicht, bevor der Himmel entstanden war; aber nun setzte er gleichzeitig mit dessen Erschaffung auch ihre Entstehung ins Werk.

3. Wir müssen also die Natur des Feuers und des Wassers und der Luft und der Erde ... an sich betrachten und auch ihre früheren Widerfahrnisse. Denn bis jetzt hat noch niemand ihre Entstehung bezeugt, sondern gerade, als ob ihr wüßtet, was das Feuer und jedes von ihnen eigentlich ist, bezeichnen wir sie als Ursprünge und setzen sie als Elemente des Alls ... Bei dieser neuen Betrachtung des Alls müssen wir nun aber, im Vergleich zu vorhin, eine größere Unterscheidung machen ...

Nehmen wir einmal das, was wir eben Wasser genannt haben: wenn es gefriert, sieht es so aus, daß wir meinen, es sei Stein oder Erde geworden, und dasselbe wird, wenn es zerfließt und sich auflöst, zu Hauch und Luft; hat sich aber die Luft entzündet, so wird sie zu Feuer, und das Feuer, wenn es zusammenschrumpft und erlischt, geht wiederum in die Erscheinungsform der Luft über, und wenn sich die Luft wieder zusammenzieht und verdichtet, wird sie zu Wolke und Nebel; werden diese aber noch mehr zusammengepreßt, so fließt Wasser daraus, und aus dem Wasser gibt es wiederum Erde und Steine, so daß sich zeigt, daß diese Stoffe im Kreis herum einer dem anderen das Werden weitergibt... Weitaus am sichersten können wir darüber folgende Bestimmung treffen: jedesmal, wenn wir sehen, daß etwas - wie zum Beispiel das Feuer - bald so und bald wieder anders wird, so sagen wir nicht: "das" ist Feuer, sondern nur: "wenn es so beschaffen ist", ist es Feuer, und auch nicht: "das" ist Wasser, sondern immer nur: "das, was so beschaffen ist" ... Dasselbe gilt für alles, was ein Werden hat.


(zitiert nach www.e-text.org/text/platon - timaios.pdf)


Zur Übersicht der Ausgrabungen