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Selber denken! - wie Pythagoras  —  Geometrisches und harmonisches Mittel

Von Caroline Hartmann

Heutzutage ist es üblich, das zu tun und vor allem zu denken, was einem das Fernsehen anpreist und vorschlägt. Man fühlt sich fit mit der neuesten Gymnastik-CD, trinkt brav den Müslidrink mit den "casei defensis"-Kulturen, trägt die neuesten Wellness-Shirts und putzt sich mit "feeling"-Taschentüchern die Nase. Dabei vergißt man schnell, daß man eigentlich ein "eigener" Mensch ist, ein eigener Kopf und Geist und Seele - einzigartig auf der ganzen Welt! Noch nicht einmal eine Eintagsfliege gleicht der anderen, kein Blatt dem anderen...

Pythagoras, der große Weise von Samos, der vor ca. 2 500 Jahren lebte, hat diese Einzigartigkeit des Menschen zum ersten Mal grundlegend betont: Er machte klar, daß das Universum in einem beständigen Prozeß des Wandels ist und der Mensch, die einzelne Seele, der einzelne Geist so eine Art Motor für das in den Wachstumsgesetzen inneliegende Streben nach Verbesserung. Das "Eigene" des Menschen bezeichnete er auch als Gott oder "Daimon" (aus dem Griechischen, man kann es auch metaphorisch als "dem Menschen innewohnender Genius", "göttlicher Funken" oder einfach "Individualität" übersetzen). Das "Eigene" des Menschen zeigt sich natürlich nicht dadurch, daß man seine Uhr andersherum stellt oder dem nervigen Nachbarn vom Balkon auf den Kopf spuckt... Pythagoras sagt zum Beispiel: "Man soll den Daimon in uns nicht zerreißen." Und er war es auch, der als erster die unverrückbare Wahrheit aussprach, was viele Weise vor ihm bereits ahnten: Die menschliche Seele ist unsterblich! In seinen berühmten "Goldenen Versen"1 heißt es dazu:

    "Du wirst erkennen, daß die Menschen selbstgewählte Leiden haben,
    die Armen, die das Gute, das nahe ist, nicht sehen
    und nicht hören: nur wenige wissen eine Befreiung aus diesen Übeln.
    Dieses Schicksal schwächt ihren Sinn. Wie rollende Steine
    Werden sie hierhin und dorthin gestoßen, erleiden endloses Leid.
    Denn ein verderblicher Begleiter, der Streit, schadet ihnen unbemerkt
    Und ist mit ihnen verwachsen. Diesen darf man nicht antreiben:
    Man muß ihm weichen und entfliehen.

    Vater Zeus, wahrhaftig! Alle würdest Du von vielen Übeln erlösen,
    wenn du allen zeigtest, mit welchem Daimon sie leben!
    Du aber sei guten Mutes, denn göttlich ist das Geschlecht der Sterblichen,
    und die Natur, die das Heilige offenbart, zeigt ihnen alles.
    Wenn dir davon etwas zuteil wird, wirst du das beherrschen, was ich dir verordne.
    Du wirst deine Seele heilen und aus diesen Übeln retten.

    ... Bedenke dies alles, wenn du wählst,
    und stelle die beste Einsicht oben als Wagenlenkerin hin.
    Wenn du den Körper verläßt und in den freien Äther gelangst,
    wirst du unsterblich sein: ein unsterblicher Gott, nicht mehr sterblich."

Pythagoras wurde um 600 v.Chr. auf Samos geboren. Sein Vater Mnesarchos war ein Kaufmann aus Tyrus, der auf Samos die Bürgerrechte erlangt hatte. Er nahm seinen Sohn oft auf seine Handelsreisen mit. Dabei kamen sie auch nach Milet, wo der große Thales lebte. Der damals schon alte Thales (ca. 650 bis ca. 560 v.Chr.) war es, der die Begeisterung des jungen Pythagoras für die Mathematik, Geometrie und Astronomie weckte. Da Pythagoras darauf brannte, den tieferen Sinn aller dieser wunderbaren Entdeckungen zu erfahren, riet er ihm zu einer Reise nach Babylonien und Ägypten und zum Studium bei den ägyptischen Priestern.

Die Dauer von Pythagoras' Aufenthalt in Ägypten und Babylonien ist nicht genau bekannt, ebensowenig die Umstände seiner Befreiung und Rückkehr, doch kehrte er nach langer Studienzeit - es waren mindestens zwanzig Jahre - nach Samos zurück. Hier gründete er eine Schule, um seine Weisheit als Lehrer im Staate nutzbringend weiterzugeben. Um das Jahr 530 v. Chr. kehrte Pythagoras Samos für immer den Rücken und fuhr nach Süditalien, nach Kroton. Dort wurde er begeistert empfangen, denn die Kunde von seiner Weisheit hatte sich schnell in der ganzen Region verbreitet. In Kroton entstand die berühmte Schule des Pythagoras. Durch die Erzählungen und Niederschriften seiner Schüler sind seine Ideen und sein Wissen bis auf unsere Tage überliefert.

Pythagoras erkannte die Geometrie als Zeichen der Gesetzmäßigkeit in allen Dingen. Die unsterbliche menschliche Seele erkennt diese harmonische Gesetzmäßigkeit "geometrisch". Denn die Geometrie zwingt die Seele, mit Hilfe des einsichtigen Denkens die Wahrheit selbst zu suchen. Er sagte in seiner Rede im Gymnasion in Kroton:

    "...Geistesbildung ist eine innere Schönheit, die den jeweils Besten in jeder Generation gemeinsam ist. Denn was diese finden, ist für die anderen Bildungsinhalt. So bedeutend ist die Bildung ihrer Natur nach: Was sonst gepriesen wird, ist teils unübertragbar - wie Kraft, Schönheit, Gesundheit, Tapferkeit - , teils hat man es selbst nicht mehr, wenn man es weggegeben hat - so Reichtum, Ämter, und vieles andere, was wir übergeben; Geistesbildung aber kann man von einem anderen empfangen, und dennoch behält auch der Geber sie. Ähnlich steht es bei manchen Dingen nicht in der Macht des Menschen, sie zu erwerben; sich zu bilden aber ist nach eigenem Vorsatz möglich."

Viele strömten mit großem Wissensdurst zu Pythagoras, und dadurch wurde innerhalb kürzester Zeit seine Schule ein wichtiges "Ideenzentrum". Seine Schüler wurden Experten auf den verschiedensten Gebieten - zum Beispiel entwickelte sich unter Pythagoras' Einfluß in Kroton eine berühmte Ärzteschule. Dieses Zentrum des Lernens und der Ideen besaß also eine stärker werdende Bedeutung für das Land: Pythagoras und seine Anhänger gewannen immer größeren Einfluß und spielten in der Politik der Griechenstädte in Süditalien eine bedeutende Rolle. Noch in der ersten Hälfte des 5. Jh. hatten sie die Führung Krotons und anderer Städte inne und der damalige Reichtum der süditalienischen Städte, allen voran Sibari, war weithin bekannt. Allein Sibari hatte 300 000 Einwohner.

Ein grundlegendes Prinzip der Pythagoräischen Lehre ist, daß sie zum ersten Mal die Zusammensetzung des Kosmos einem Ursprung folgend geordnet erkennt. Pythagoras sagt, daß diese Gesetzmäßigkeit sowohl dem Seienden als auch den Phänomenen zugrundeliegt. Diese Erkenntnis war nicht nur für die damalige Zeit bedeutsam, sondern ist es auch bis auf den heutigen Tag. (Man muß bedenken, daß alles, was wir heute von griechischer Hochkultur, von Sokrates, Platon, Eratosthenes oder Archimedes kennen, sich von diesen Lehren ableitete und entwickelte!) Und wer kennt nicht die Philosophen der Frankfurter Schule, den Positivismus, oder Nihilismus eines Nietzsche etc. und deren These des "ins Chaos des Daseins geworfenen Menschen" sowie die "Zufallslehre" und "Wahrscheinlichkeitstheorie" der heutigen Physik?

Pythagoras teilte alles Wissen in vier "Mathemata" auf: Geometrie, Arithmetik, Harmonik und Astronomie. Diese wurden von den Schülern durch eigene Forschung immer weiter vertieft und ausgebaut. Pythagoras betrachtete alle vier Mathemata als zusammengehörig, allen liegt die Idee der geometrischen Ordnung bzw. eines geordneten Ursprungs zugrunde. Damit legte er den Grundstein für die Entwicklung der gesamten Geometrie, Mathematik, Astronomie und Harmonielehre.

Vieles Verlorengegangene wird in unseren Tagen erst wieder hervorgeholt. So erkannte man erst in neuerlichen Forschungen, daß die Pythagoräer bereits ein heliozentrisches Weltbild besessen haben müssen. Auch die geometrischen Arbeiten eines der bedeutendsten Pythagoras-Schüler, Archytas von Tarent, vor allem dessen Verdoppelung des Würfels, lassen nur erahnen, daß wir uns heute im Verständnis der Geometrie des Pythagoras noch ziemlich an der Oberfläche befinden. Eine große Bedeutung spielen dabei die sogenannten "Mittel", das arithmetische, geometrische und harmonische Mittel, wie man an der Konstruktion der Seitenlänge des verdoppelten Würfels sehen kann, die aus den Bewegungen dreier verschiedener sphärischer, geometrischer Figuren (Zylinder, Kegel und Torus) ermittelt wird.

Auch fand die neuere Pythagorasforschung heraus, daß ein bedeutender Teil der "Elemente" des Euklid erwiesenermaßen auf die Pythagoräer bzw. die ersten Erkenntnisse des Pythagoras zurückgeht. Vor allem die Bücher I, II und IV mit den Flächenanlegungen mit Exzeß und Defekt, dem Goldenen Schnitt, der Fünfeckkonstruktion, den Sätzen über Winkel, Bogen und Sehnen im Kreis sowie der Konstruktion des Sechsecks werden den "Mathematikoi" der altpythagoräischen Zeit bzw. dem Pythagoras selbst sicher zugeschrieben. Ebenso die mehr die Arithmetik behandelnden Bücher VII und VIII mit dem Beweis der Inkommensurabilität, der Lehre vom Geraden und Ungeraden und grundlegenden Gedanken über die Zahlen, ebenen und räumlichen Zahlen, Quadrat- und Kubikzahlen. Bei den anderen Büchern handelt es sich um Erkenntnisse von Neupythagoräern verschiedener Epochen nach Pythagoras, da viele Beweise anders geführt werden bzw. sich nicht mehr auf diese Kernbücher beziehen - wie zum Beispiel Archytas von Tarent und seine Verdoppelung des Würfels.


Anmerkung

Quelle: B.L. van der Waerden, "Die Pythagoreer", Artemis Verlag Zürich und München.


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