S C H I L L E R

L E B T

F R I E D R I C H   S C H I L L E R
Sokrates (469-399 v.Chr.)  —  Auszüge aus Apologia

Sokrates erzählt im Dialog Theaitetos, die Leute meinten, daß "ich der wunderlichste aller Menschen wäre und sie alle in Verwirrung brächte" (149A). Da ist viel dran. Sokrates ist einer der einflußreichsten und dabei mit am schwersten greifbaren Philosophen. Ohne Übertreibung aber kann man sagen, der Einfluß, den Sokrates' Leben und sein Tod auf Platon hatten, war so groß, daß ohne ihn die gesamte Entwicklung der abendländischen Philosophie anders verlaufen wäre.

Über das Leben des Sokrates ist nur wenig Handfestes bekannt. Man weiß, daß er 399 v.Chr. wegen Gottlosigkeit und Verführung der Jugend angeklagt, verurteilt und hingerichtet wurde. In seiner Verteidigungsrede erklärt er, er sei jetzt 70 Jahre alt, demnach müßte er 469 geboren worden sein. Sein Vater Sophroniskos war Steinmetz, Sokrates selbst soll dieses Handwerk auch ausgeübt haben.

Athen befand sich damals in einer Umbruchzeit. Der Peloponnesische Krieg, der mit einigen Unterbrechungen von 431-404 v.Chr. dauerte, markiert den Niedergang Athens aus der Höhe einer politischen und kulturellen Großmacht. Die alte Ordnung war schwer erschüttert. Es machte sich ein moralischer und philosophischer Relativismus breit, der von den Sophisten nachhaltig gefördert wurde. Die Behauptung der Subjektivität allen Wissens durch Protagoras, die rhetorischen Tricks, mit denen man die "schwächere Sache zur stärkeren" machen konnte, verhinderte, daß es in Athen nach dem imperialistischen Höhenflug zu einem wirklichen Neuanfang kommen konnte.

Und nun trat hier einer auf, der von sich und den anderen Rechenschaft über ihr Denken und Tun verlangte, und er tat dies mit der gleichen Beharrlichkeit und dem gleichen Mut, den er auch im Peloponnesischen Krieg und an anderer Stelle unter Beweis gestellt hatte. Von der Schlacht bei Delion gegen die Böotier, in der die Athener eine schwere Niederlage erlitten, erzählt Laches, einer der Heerführer dieser Schlacht, in dem gleichnamigen Dialog Platons: "Denn bei der Flucht vor Delion ging er mit mir zurück, und ich versichere dir, wenn die übrigen sich hätten so beweisen wollen, unsere Stadt wäre damals bei Ehren geblieben und hätte nicht einen so schmählichen Sturz erlitten" (181B). Und immer hat er sich als einziger ungerechten Forderungen der Menge widersetzt, trotzdem lehnt er es ab, in die Politik zu gehen.

Die Was-ist-Frage

Um 425 hatte Sokrates seinen ursprünglichen Beruf schon lange nicht mehr ausgeübt und sich seiner Berufung gewidmet; er war damit in Athen schon so bekannt geworden und so vielen mit seiner unermüdlichen Fragerei auf die Nerven gegangen, daß Aristophanes ihn 423 in seiner Komödie Die Wolken als Atheisten, lächerlichen Naturforscher und skurrilen Sophisten verspotten konnte. Andere wie Platon oder Alkibiades waren von ihm und seiner unermüdlichen Suche nach Wahrheit mit den Mitteln folgerichtigen Denkens, was etwas ganz anders ist als aristotelische Logik, begeistert.

Was hatte er getan, um so viel Aufsehen zu erregen und sich bei den Mächtigen so verhaßt zu machen, daß man ihm schließlich den Prozeß machte, um ihn zum Schweigen zu bringen? Sokrates erzählt viel davon in seiner Verteidigungsrede, aus der Auszüge auf dieser Seite abgedruckt sind. Ich möchte daher einen anderen Aspekt aufgreifen.

Natürlich haben schon viele Philosophen und Dichter vor ihm große und tiefgründige Gedanken ausgedrückt, aber Sokrates ist der erste, der den Dingen fragend auf den Grund gehen und sich nicht mit traditionellen oder scheinbar griffigen Definitionen abspeisen lassen will. Homer schildert Tapferkeit und Heldenmut, aber er fragt nicht nach ihrem Wesen. In gewisser Weise steht Sokrates da Euripides näher, den er auch, wieder eine unbelegte Anekdote, bei seinen Tragödien beraten haben soll. Sokrates ist sozusagen der Erfinder der "Was ist eigentlich ..."-Frage. Vor allem die frühen Dialoge Platons, die der Gedankenwelt des Sokrates noch enger verhaftet sind, bleiben eine Antwort schuldig, die Leser oder Gesprächspartner gerne schwarz auf weiß mit nach Hause nähmen, und die Dialogpartner einigen sich darauf, ein andermal weiter zu diskutieren, wovon man dann aber nichts mehr erfährt.

Scheinbar läßt Platons Sokrates seinen Leser damit allein, aber das hängt mit seiner festen Überzeugung zusammen, daß niemand wissentlich Schlechtes tut, und daß der Logos, Tugend und die Erkenntnis des Guten für jeden Menschen potentiell wißbar sind. Aber diese Arbeit kann einem niemand abnehmen, sondern ist die Aufgabe jedes einzelnen immer wieder auf's Neue.

Tillmann Müchler


Auszüge aus Apologia

Verteidigungsrede des Sokrates: Von Platon wiedergegeben in "Apologia"

Was wohl euch, ihr Athener, meine Ankläger angetan haben, weiß ich nicht: ich meinesteils aber hätte ja selbst beinahe über sie meiner selbst vergessen; so überredend haben sie gesprochen. Wiewohl Wahres, daß ich das Wort heraussage, haben sie gar nichts gesagt. Am meisten aber habe ich eins von ihnen bewundert unter dem Vielen, was sie gelogen, dieses, wo sie sagten, ihr müßtet euch wohl hüten, daß ihr nicht von mir getäuscht würdet, als der ich gar gewaltig wäre im Reden. Denn daß sie sich nicht schämen, sogleich von mir widerlegt zu werden durch die Tat, wenn ich mich nun auch im geringsten nicht gewaltig zeige im Reden, dieses dünkte mich ihr Unverschämtestes zu sein; wofern diese nicht etwa den gewaltig im Reden nennen, der die Wahrheit redet. Denn wenn sie dies meinen, möchte ich mich wohl dazu bekennen, ein Redner zu sein, der sich nicht mit ihnen vergleicht...

Zuerst nun, ihr Athener, muß ich mich wohl verteidigen gegen das, dessen ich zuerst fälschlich angeklagt bin, und gegen meine ersten Ankläger, und hernach gegen der späteren Späteres. Denn viele Ankläger habe ich längst bei euch gehabt und schon vor vielen Jahren, und die nichts Wahres sagten... Allein jene sind furchtbarer, ihr Männer, welche... mich aber ohne Grund beschuldigt haben, als gäbe es einen Sokrates, einen weisen Mann, der den Dingen am Himmel nachgrüble und auch das Unterirdische alles erforscht habe und Unrecht zu Recht mache.... Das Übelste aber ist, daß man nicht einmal ihre Namen wissen und angeben kann, außer etwa, wenn ein Komödienschreiber darunter ist...

Vielleicht nun möchte jemand von euch einwenden: "Aber, Sokrates, was ist denn also dein Geschäft? Woher sind diese Verleumdungen dir entstanden? Denn gewiß, wenn du nichts Besonderes betriebest vor andern, es würde nicht solcher Ruf und Gerede entstanden sein, wenn du nicht ganz etwas anderes tätest als andere Leute." ...Ich habe nämlich, ihr Athener, durch nichts anderes als durch eine gewisse Weisheit diesen Namen erlangt... Über meine Weisheit nämlich, ob sie wohl eine ist und was für eine, will ich euch zum Zeugen stellen den Gott in Delphi. Den Chairephon kennt ihr doch. Dieser war mein Freund von Jugend auf, und auch euer, des Volkes, Freund war er und ist bei dieser letzten Flucht mit geflohen und mit euch auch zurückgekehrt. Und ihr wißt doch, wie Chairephon war, wie heftig in allem, was er auch beginnen mochte. So auch, als er einst nach Delphi gegangen war, erkühnte er sich, hierüber ein Orakel zu begehren; nur, wie ich sage, kein Getümmel, ihr Männer! Er fragte also, ob wohl jemand weiser wäre als ich. Da leugnete nun die Pythia, daß jemand weiser wäre.

Bedenkt nun, weshalb ich dieses sage: Ich will euch nämlich erklären, woher doch die Verleumdung gegen mich entstanden ist. Denn nachdem ich dieses gehört, gedachte ich bei mir also: Was meint doch wohl der Gott? Und was will er etwa andeuten? Denn das bin ich mir doch bewußt, daß ich weder viel noch wenig weise bin. Was meint er also mit der Behauptung, ich sei der Weiseste? Denn lügen wird er doch wohl nicht; das ist ihm ja nicht verstattet. Und lange Zeit konnte ich nicht begreifen, was er meinte; endlich wendete ich mich gar ungern zur Untersuchung der Sache auf folgende Art: Ich ging zu einem von den für weise Gehaltenen, um dort, wenn irgendwo, das Orakel zu überführen und dem Spruch zu zeigen: "Dieser ist doch wohl weiser als ich, du aber hast auf mich ausgesagt." Indem ich nun diesen beschaute denn ihn mit Namen zu nennen ist nicht nötig; es war aber einer von den Staatsmännern, auf welchen schauend es mir folgendergestalt erging, ihr Athener: Im Gespräch mit ihm schien mir dieser Mann zwar vielen andern Menschen auch, am meisten aber sich selbst sehr weise vorzukommen, es zu sein aber gar nicht. Darauf nun versuchte ich ihm zu zeigen, er glaubte zwar weise zu sein, wäre es aber nicht; wodurch ich dann ihm selbst verhaßt ward und vielen der Anwesenden. Indem ich also fortging, gedachte ich bei mir selbst: weiser als dieser Mann bin ich nun freilich. Denn es mag wohl eben keiner von uns beiden etwas Tüchtiges oder Sonderliches wissen; allein dieser doch meint zu wissen, da er nicht weiß, ich aber, wie ich eben nicht weiß, so meine ich es auch nicht. Ich scheine also um dieses wenige doch weiser zu sein als er, daß ich, was ich nicht weiß, auch nicht glaube zu wissen. Hierauf ging ich dann zu einem andern von den für noch weiser als jener Geltenden, und es dünkte mich eben dasselbe, und ich wurde dadurch ihm selbst sowohl als vielen andern verhaßt. Nach diesem nun ging ich schon nach der Reihe, bemerkend freilich und bedauernd und auch in Furcht darüber, daß ich mich verhaßt machte; doch aber dünkte es mich notwendig, des Gottes Sache über alles andere zu setzen; und so mußte ich denn gehen, immer dem Orakel nachdenkend, was es wohl meine, zu allen, welche dafür galten, etwas zu wissen. Und beim Hunde, ihr Athener, denn ich muß die Wahrheit zu euch reden, wahrlich, es erging mir so: Die Berühmtesten dünkten mich beinahe die Armseligsten zu sein, wenn ich es dem Gott zufolge untersuchte, andere minder Geachtete aber noch eher für vernünftig gelten zu können...

Es scheint aber, ihr Athener, in der Tat der Gott weise zu sein und mit diesem Orakel dies zu sagen, daß die menschliche Weisheit sehr weniges nur wert ist oder gar nichts, und offenbar nicht dies vom Sokrates zu sagen, sondern nur, mich zum Beispiel erwählend, sich meines Namens zu bedienen, wie wenn er sagte: "Unter euch, ihr Menschen, ist der der Weiseste, der wie Sokrates einsieht, daß er in der Tat nichts wert ist, was die Weisheit anbelangt". Dieses nun, nach des Gottes Anweisung zu untersuchen und zu erforschen, gehe ich auch jetzt noch umher, wo ich nur einen für weise halte von Bürgern und Fremden; und wenn er es mir nicht zu sein scheint, so helfe ich dem Gotte und zeige ihm, daß er nicht weise ist. Und über diesem Geschäft habe ich nicht Muße gehabt, weder in den Angelegenheiten der Stadt etwas der Rede Wertes zu leisten, noch auch in meinen häuslichen; sondern in tausendfältiger Armut lebe ich wegen dieses dem Gotte geleisteten Dienstes...

Vielleicht aber möchte einer sagen: "Aber schämst du dich denn nicht, Sokrates, daß du dich mit solchen Dingen befaßt hast, die dich nun in Gefahr bringen zu sterben?" Ich nun würde diesem die gerechte Rede entgegnen: Nicht gut sprichst du, lieber Mensch, wenn du glaubst, Gefahr um Leben und Tod müsse in Anschlag bringen, wer auch nur ein weniges nutz ist, und müsse nicht vielmehr allein darauf sehen, wenn er etwas tut, ob es recht getan ist oder unrecht, ob eines rechtschaffenen Mannes Tat oder eines schlechten...

Wenn ihr mir hierauf sagtet: "Jetzt, Sokrates, wollen wir zwar dem Anytos nicht folgen, sondern wir lassen dich los unter der Bedingung jedoch, daß du diese Nachforschung nicht mehr betreibst und nicht mehr nach Weisheit suchst; wirst du aber noch einmal betroffen, daß du dies tust, so mußt du sterben", wenn ihr mich also wie gesagt auf diese Bedingung losgeben wolltet, so würde ich zu euch sprechen: Ich bin euch, ihr Athener, zwar zugetan und Freund, gehorchen aber werde ich dem Gotte mehr als euch, und solange ich noch atme und es vermag, werde ich nicht aufhören, nach Weisheit zu suchen und euch zu ermahnen und zurechtzuweisen, wen von euch ich antreffe, mit meinen gewohnten Reden; "Wie, bester Mann, als ein Athener aus der größten und für Weisheit und Macht berühmtesten Stadt, schämst du dich nicht, für Geld zwar zu sorgen, wie du dessen aufs meiste erlangest, und für Ruhm und Ehre; für Einsicht aber und Wahrheit und für deine Seele, daß sie sich aufs beste befinde, sorgst du nicht, und hierauf willst du nicht denken?" Und wenn jemand unter euch dies leugnet und behauptet, er denke wohl darauf, werde ich ihn nicht gleich loslassen und fortgehen, sondern ihn fragen und prüfen und ausforschen. Und wenn mich dünkt, er besitze keine Tugend, behaupte es aber, so werde ich es ihm verweisen, daß er das Wichtigste geringer achtet und das Schlechtere höher...

Nach der Verkündigung des Todesurteils

...Also müßt auch ihr, Richter, gute Hoffnung haben in Absicht des Todes und dies eine Richtige im Gemüt halten, daß es für den guten Mann kein Übel gibt weder im Leben noch im Tode, noch daß je von den Göttern seine Angelegenheiten vernachlässigt werden... So viel jedoch bitte ich von ihnen: An meinen Söhnen, wenn sie erwachsen sind, nehmt eure Rache, ihr Männer, und quält sie ebenso, wie ich euch gequält habe, wenn euch dünkt, daß sie sich um Reichtum oder um sonst irgend etwas eher bemühen als um die Tugend: und wenn sie sich dünken, etwas zu sein, aber nichts sind, so verweiset es ihnen wie ich euch, daß sie nicht sorgen, wofür sie sollten, und sich einbilden, etwas zu sein, da sie doch nichts wert sind. Und wenn ihr das tut, werde ich Gerechtes von euch erfahren haben, ich selbst und meine Söhne.

Jedoch es ist Zeit, daß wir gehen: ich, um zu sterben, und ihr, um zu leben. Wer aber von uns beiden zu dem besseren Geschäft hingehe, das ist allen verborgen außer nur Gott.


Übersetzung von Friedrich Schleiermacher.
Hinweisen möchte ich noch auf eine beeindruckende Lesung einiger Auszüge aus der Apologie von Werner Krauss aus den 50er Jahren, die auf CD veröffentlicht ist.


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