S C H I L L E R

L E B T

F R I E D R I C H   S C H I L L E R
Solon, Staatsmann und Dichter  —  Fragmente
Bei dem Namen Solon denken viele zuerst an den allgemeinen Schuldenerlaß. Nicht weniger wichtig ist: Solons Verfassungsreform zielte auf eine Identifikation des Bürgers mit der "Polis" ab, darauf, das Wohl des Gemeinwesens zur Richtschnur des Handelns der einzelnen Bürger zu machen.

Wem der weise Solon von Athen noch ein Begriff ist, dem fällt dabei meistens als erstes der allgemeine Schuldenerlaß ein, der mit seinem Namen verbunden ist. Ob er deswegen als weise gilt, wagen die wenigsten zu beantworten. Gläubiger wie Schuldner werden empört einwenden: "Man kann doch nicht einfach die Schulden streichen!" Doch, aus den gleichen Gründen wie im Jahre 600 v.Chr. muß man auch bei den gegenwärtig wachsenden Schuldenbergen den Staatsakt eines Schuldenmoratoriums ins Auge fassen. Aus der Sicht des weisen Staatsmannes nämlich werden die Beweggründe einer solchen Entscheidung vom Prinzip her ganz die gleichen sein, wenn er die Zerrüttung des Gemeinwohls aufhalten und das Wohlergehen des Staates befördern will. Da die Lage im damaligen Athen und Umgebung im Vergleich zur heutigen "globalisierten" Welt viel übersichtlicher war, wird es dem Leser vielleicht einfacher fallen, diese prinzipielle Übereinstimmung zur heutigen Situation zu begreifen.

Im 7. Jh. v.Chr. steckte Hellas in einer tiefen sozialen Krise. Überall kämpften die Adligen um die Alleinherrschaft. Da ihnen das Gemeinwesen kein Anliegen war, konnten sie auf die Unterstützung der Bevölkerung kaum rechnen. Bewaffnete Aufstände aus den Reihen der Aristokratie waren an der Tagesordnung, eine Tyrannis wurde von der nächsten abgelöst. Die normale Bevölkerung, die im wesentlichen von der Landwirtschaft lebte, geriet immer mehr in Bedrängnis. Die Bauern mußten ihren Grundbesitz verpfänden, um ein Darlehen zu erhalten. Und waren sie nicht fähig, es mit der nächsten Ernte zurückzuzahlen, blieb nur die Möglichkeit, den eigenen Leib zu verpfänden. So wurden unzählige Schuldner zu rechtlosen Sklaven und wurden dann als solche ins Ausland verkauft. Viele, die sich diesem Schicksal nicht beugen wollten, verließen freiwillig ihre Heimat. In dem Maße, wie sich der Reichtum in den Händen einiger weniger sammelte, wurde die Arbeitskraft der Bevölkerung mehr und mehr zerstört, das Land mit Hypothekensteinen übersät, und am Ende drohte ein Bürgerkrieg.

In dieser schwierigen Lage wurde Solon im Jahre 594 zum Archon und "Diallaktes" mit außerordentlichen Vollmachten gewählt; unter letzterem verstand man einen "Schlichter", jemanden der eine verfahrene soziale Lage "wieder ins Lot" bringt. Mit dichterischen Fähigkeiten begabt, prangerte er etwa in seiner "großen Staatselegie" die Mißstände an und versuchte, die Bürger zu erziehen.

Solon entstammte einem Adelsgeschlecht, aber von seinem Vater sagt man, er habe sich so sehr dem Gemeinwesen verpflichtet gefühlt, daß er einen großen Teil seines Vermögens verschenkte. Vielleicht auch deshalb ging sein Sohn Solon entgegen aristokratischer Gepflogenheit einer Handelstätigkeit nach. Als Großkaufmann bereiste er die ionische Küste, traf sich dort mit den Gelehrten seiner Zeit, z.B. mit Thales, und soll sich später auch in Ägypten aufgehalten haben.

Von der Idee beseelt, daß es möglich sein müsse, den Fleiß der Athener wieder zum Leben zu erwecken, machte er sich an seine Gesetzgebung. An erster Stelle stand die "Abschüttlung der Lasten", im Griechischen "Seisachtheia" - oder wie wir heute sagen, eine allgemeine Schuldenstreichung. Das Geschrei auf allen Seiten war groß, denn die Aristokratie verlor mit einem Schlage alle Ansprüche auf die Eintreibung der Schulden. Aber auch die armen Schichten waren nicht begeistert, denn sie hatten auf eine Neuaufteilung des Landes gehofft. Solon jedoch rührte nicht an den Besitzständen des Adels. Stattdessen nahm er ihnen aber die Möglichkeit, ungerecht zu sein, was die Schulden betraf, und verbot auch die Schuldknechtschaft ganz und gar. Er legte den Bösen zügelnde Fesseln an, wie er selbst es ausdrückte. Überhaupt war seine Gesetzgebung daran ausgerichtet, den tiefen Graben zu beseitigen, der zwischen Reichen und Armen entstanden war.

Neben dem Erlaß aller Schulden zielten seine Gesetze auf eine Ankurbelung der Wirtschaft. Attikas Landwirtschaft war nicht so ertragreich, daß eine wachsende Bevölkerung alleine davon hätte leben können. Deswegen bezweckten eine ganze Reihe seiner neuen Gesetze auf den Ausbau von Gewerbe und Handel, wovon er ja aus eigener Anschauung genügend Vorstellungen hatte. Er verbot zunächst die Ausfuhr aller landwirtschaftlichen Produkte, von denen das Überleben der Bevölkerung abhing. Gleichzeitig empfahl er den Anbau von Ölbaumkulturen, um den Export von Öl zu fördern. Dann rückte er dem alten Vorurteil der Adelsethik gegen Handarbeit zu Leibe, indem er die Eltern per Gesetz verpflichtete, ihren Söhnen eine handwerkliche Ausbildung zu gewähren, anderfalls hätten sie keinen Anspruch auf Hilfe im Alter. Auch ausländischen Gewerbetreibenden öffnete er die Tore, wenn sie fest zusagten, mit ihrer ganzen Familie auf Dauer in Athen seßhaft zu werden.

Auch die Reform der Währungspolitik war so angelegt, daß sie die Ausfuhr attischer Güter begünstigte, das Bestreben aller Bürger, am wirtschaftlichen Leben teilzuhaben, beflügelte und insgesamt einen Grundstein für den wirtschaftlichen Aufschwung legte.

Die große Verfassungsreform, die er wagte, mag vom heutigen Standpunkt auf den ersten Blick als wenig vorbildich erscheinen, aber sie hatte in damaliger Zeit die unmittelbare Wirkung, daß man sich von der Vorstellung verabschieden mußte, in jeder Lebenslage entscheide allein die Geburt. Er teilte die gesamte Bürgerschaft (Sklaven und Fremde ausgenommen) in vier Klassen ein, die sich nach dem jährlichen Einkommen richteten. Die Aristokratie wurde dadurch nicht benachteiligt, aber zusätzlich wurde dem Leistungsprinzip ein Recht gewährt. Vom 18. Lebensjahr an hatte jeder Bürger seiner Klasse entsprechend Zugang zur Volksversammlung und zum Heer und durfte dem Volksgericht angehören.

Selbst in den die Religion betreffenden Reformen kann man Solons Bemühen erkennen, die tiefen Gräben zugunsten eines gemeinschaftlichen Staates zu überwinden. Der Adel hatte nämlich selbst in diesen Dingen das Volk entrechtet, indem er eifersüchtig darüber wachte, daß nur der von Geburt Berechtigte an entsprechenden Kultfeiern teilnehmen durfte. Solon verfügte, daß diese Trennung auf vielfältige Weise aufgehoben wurde.

Ein ganz neues, wahrlich revolutionäres Gesetz schuf er mit der sogenannten Popularklage. Geschah es vorher hauptsächlich im Interesse der Sippe, ein begangenes Unrecht zu beklagen oder zu bestrafen, so ging es jetzt jeden etwas an. "Wer an einem Kinde, einer Frau oder einem Manne, möge er ein Freier oder ein Sklave sein, Unrecht verübt oder etwas Gesetzwidriges tut, kann von jedem Athener bei den Thesmotheten wegen Hybris verklagt werden." So wird es von Demosthenes überliefert.

Zu der Gesetzgebung des Solon ließe sich noch viel mehr sagen, aber allein aus dem hier Angeführten erkennt man die große Idee, die im damaligen Griechenland schon geboren war, nämlich die Idee des Gemeinwohls. Solon regierte nur das eine Jahr, für das er gewählt war, und nach diesem einen Jahr waren die Zustände nicht automatisch paradiesisch - ganz im Gegenteil. Aber trotz allem überstanden seine Gesetze viele Stürme und trugen schließlich dazu bei, daß Griechenland auf seine glücklichste Zeit zusteuerte.

Andrea Andromidas

 


Solon Fragmente   (635-559 v.Chr.)

    Gerechter Stolz
    Freilich sind viele Schurken reich und es darben wohl Edle,
    dennoch wünschen wir nie, um ihr erbärmliches Geld
    unsre Gesinnung zu tauschen, denn die ist ein bleibender Reichtum,
    während das irdische Gut wandert und die Treue nicht kennt.

    Wider die Feigheit der Bürger
    Wenn ihr ob eigner Verruchtheit diese Leiden müßt dulden,
    schiebt doch den Göttern dann nicht schamlos die Schuld in die Schuh,
    Ihr habt ja selber beflissen den Herren die Leiter gehalten;
    wundert euch nicht, wenn zum Dank nun man mit Knechtschaft euch lohnt.
    Einzeln schleicht ihr ein jeder auf füchsischer Fährte; doch wo ihr
    als Versammlung erscheint, wie seid ihr töricht und feig!
    Immer schielt ihr nach Worten und hört auf des Schmeichlers Gerede,
    doch was verborgen sich tut, darauf habt ihr nicht acht.

    Die große Staatselegie
    Ratschluß und Wille des Zeus und der selig-unsterblichen Götter
    ist es, daß nie unsre Stadt sinkt in Verderben dahin.
    Denn des Allgewaltigen stolze Tochter Athena
    breitet von droben die Hand schirmend über sie aus.
    Aber sie selbst, die Bürger, verlockt von der Gier nach dem Golde,
    wollen der glänzenden Stadt Macht vernichten im Wahn;
    ruchlos ist die Gesinnung der Führer des Volkes, doch denen
    hat schon das Schicksal bestimmt wegen solch frevelnden Muts
    endlose Leiden zu dulden; sie wissen ja niemals die Lüste
    maßvoll zu zügeln und nie sich zu bescheiden beim Mahl.

    Reichtümer schachern sie all', achten Gesetz nicht noch Recht.

    Weder vom heiligen Gut, noch von des Staates Besitz
    lassen die Finger sie weg, sie rauben und stehlen, wo's angeht.
    Dikes heiliger Spruch kümmert die Ruchlosen nicht;
    sie aber weiß um Vergang'nes und Künftiges auch, wenn sie schweiget,
    rächend tritt sie hervor, ist ihre Stunde erst reif.
    Das ist jeglichem Staat eine unentrinnbare Wunde;
    elender Knechtschaft verfällt schnell eine Stadt, die die Glut
    lodernden Bürgerzwists zu entfachen wagt, die verborgen
    glimmende, die dann verschlingt Zahlloser Leben und Glück.
    Aufruhr, der Frevlern lieb ist, entbrennt, und die Feinde im Innern
    knebeln mit blut'ger Gewalt plötzlich die Stadt, die ihr liebt.
    Solches Übel geht um im Volk; und Scharen Verarmter
    kommen als Sklaven verkauft heimatlos weit in die Welt,
    tief ist ihr Nacken gebeugt und das Haupt durch schmachvolle Fesseln.
    Also wandert von Haus zu Haus das gemeinsame Übel;
    auch das verrammelte Tor hält's deiner Wohnung nicht fern,
    über die hohe Mauer klettert's und dringt es ins Inn're,
    magst du auch selber vor Angst flüchten ins tiefste Versteck.
    Daran befahl mir mein Herz euch zu mahnen, o Volk der Athener!
    Endlos mit Jammer beschwert Ungesetz unsere Stadt.
    Wohlgesetz aber schafft Wohl und Heil für jegliches Wirken
    und den Gesetzlosen legt zügelnde Fesseln sie an,
    Trotziges mildert, Gelüste beschwichtigt und Übermut dämpft sie;
    eh' noch es aufwächst, vertilgt sie das Verhängnis im Keim;
    Recht, das gebeugt war, richtet sie grad und von Leidenschaft tolle
    Herzen besänftigt sie rasch, Aufruhr zwingt sie ins Knie,
    Streites unreine Gluten erstickt sie. Auf das Gesetz nur
    gründet das Gute der Mensch, baut er Beständiges auf.

    Schwere Aufgabe
    Mußt nur was wahrhaft Großes wollen,
    so werden wenige Dank dir zollen.


Übersetzung: Eberhard Preime, 1939
Quelle: Solon, Dichtungen, Sämtliche Fragmente,
im Versmaß des Urtextes ins Deutsche übertragen
von Eberhard Preime, Ernst Heimeran Verlag, München 1945.

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