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Sophokles (496-406 v.Chr.)  —  Auszüge aus Antigone

Sophokles erlebte Athen auf dem Höhepunkt seiner Macht und in Zeiten der schlimmsten Niederlagen. Er bekleidete mehrere politische Ämter und war der zweite große Tragiker des 5. Jahrhunderts.

Sophokles, nach Aischylos der zweite große Tragiker des 5. Jahrhunderts, erlebte den höchsten Aufschwung und den tiefsten Niedergang seiner Polis Athen. Seine Zeitgenossen gaben ihm den Beinamen Philathenaios, der Freund Athens. Das Wohl und die Ehre Athens betrachtete er als seine große Lebensaufgabe, sein Leben und Schaffen sind auf das engste mit den politischen Ereignissen seiner Polis verbunden. Er bekleidete mehrere, teils höchste politische Ämter. So war er 443/442 Schatzmeister des Attischen Seebundes und 441-439 zusammen mit Perikles Stratege. Sophokles hat ein umfangreiches Werk hinterlassen. Das um 970 entstandene byzantinische Lexikon Suda nennt 123 Werke, darunter 30 Tetralogien. Vollständig erhalten sind nur Antigone, König Ödipus und Ödipus auf Kolonos sowie Die Thrachinierinnen, Ajax, Elektra und Philoktet. 109 Stücke sind nur stark fragmentarisch erhalten.

Athen war aus dem Kampf gegen die Perser als Sieger hervorgegangen und befand sich auf dem Weg zur Großmacht. Der Attische Seebund (478) vereinigte die verzweigten griechischen Siedlungen zu einem Bündnis, das unter dem Druck Athens immer deutlicher zu einem attischen Reich, das zunehmend imperiale Machtansprüche erhob, umgestaltet wurde. An den Staatsfesten der Großen Dionysien demonstrierte Athen den Festgesandschaften seiner Bündneruntertanen den Glanz, die Macht und die geistige Überlegenheit Athens, das sich unter Perikles immer deutlicher als Hegemon präsentierte.

Mit dem Peloponnesischen Krieg (seit 431 v.Chr.) begann der Niedergang. Schon Aischylos hatte den Athenern eindringlich vorgeführt, daß menschliche Hybris (Anmaßung) immer mit Vernichtung bestraft wird. So folgte denn auch der politischen Hybris Athens, die wir heute Imperialismus nennen, mit der Sizilischen Katastrophe (413 v.Chr.) die Bestrafung auf dem Fuß, bis diese Hybris schließlich 404 in der Kapitulation Athens vor Sparta grausam gerächt wurde - wie in einer Tragödie.

In dieser politisch, geistig und künstlerisch ungeheuer dichten Zeit rang Sophokles mit seinen Zeitgenossen, allen voran den Sophisten, um die geistigen Wertvorstellungen. Seine Werke waren sehr politisch - allerdings nicht in unserem verflachten Sinne - , er ließ die unterschiedlichen geistigen Strömungen, die dem Zuschauer aus dem Alltag bestens bekannt waren, auf der Bühne gegeneinanderprallen und läuterte sie zur höchsten Klarheit und Reinheit.

Antigone  —  Auszüge

Die Tragödie Antigone ist das erste Widerstandsstück der Weltliteratur; sie wurde wahrscheinlich 442 v.Chr. aufgeführt. Das Stück beginnt da, wo Aischylos' Sieben gegen Theben aufhörte: Die Söhne des unglücklichen Ödipus ermordeten sich gegenseitig beim Kampf um Theben; Eteokles fiel als Verteidiger seiner Vaterstadt, Polyneikes als Angreifer. Der neue Herrscher der Stadt, Kreon, verfügt, daß Polyneikes als Vaterlandsverräter nicht bestattet werden darf, er soll den Vögeln und Hunden zum Fraß dienen. Damit setzt er sich über göttliches Gebot, das die Totenehrung zwingend vorschreibt, hinweg.

Mit dem festen Entschluß, den Bruder zu bestatten, betritt Antigone die Bühne. Sie hat von dem Verbot gehört und auch, daß jeder, der zuwiderhandle, mit dem Tod bestraft werde. Hilfesuchend wendet sie sich an ihre Schwester: "O Schwester, du mein eigen Blut, Ismene", doch diese rät, sich der Gewalt zu beugen und das Verbot zu achten: "Ich füge mich der Obrigkeit". Antigone muß diese Tat ganz alleine tun, muß ganz auf sich gestellt der Staatsmacht die Stirn bieten.

Kreon verkündet dem Chor Thebanischer Greise als erste Amtshandlung sein Bestattungsverbot und hält seine berühmte Thronrede:

    Unmöglich kann man eines Menschen Herz,
    Sein Denken und sein Wollen ganz erkennen,
    Eh' er in Staat und Ämtern sich erprobt.
    Für mich ist einer, der ein ganzes Volk
    Zu führen hat und nicht an seinen besten
    Entschlüssen festhält, sondern ängstlich schweigt,
    Ein Feigling, und so dachte ich schon immer.
    Wem aber höher als sein Vaterland
    Die Freunde stehn, der ist für mich nichts wert.
    Ich selbst, bei Zeus, der allzeit alles sieht,
    Ich schweige niemals, wenn ich statt des Heils
    Das Unheil meinem Volke nahen sehe,
    Und niemals wähle ich den Feind der Stadt
    Zu meinem Freunde, weil ich weiß: Sie ist's,
    Die uns erhält, und steuern wir mit ihr
    Auf rechter Bahn, gewinnen wir uns Freunde. (V. 175-190)

Kreons Argumentation nötigt uns Respekt ab. Ein Führer, der an seinen Prinzipien festhält, der das Wohl des Staates über sein eigenes und das seiner Klientel stellt. In diesen Rahmen rechtfertigt er vor dem Chor sein Verbot, Polyneikes Leiche zu bestatten. Ein Wächter kommt und meldet, daß ein Unbekannter die Leiche mit einer Staubschicht bedeckt habe. Kreon gerät außer sich und verdächtigt den Wächter des Verrats und der Bestechung. Er setzt zu einer Schmährede gegen die Macht des Geldes an:

    Kein ärgrer Brauch erwuchs den Menschen als
    Das Geld! Es äschert ganze Städte ein,
    Es treibt die Männer weg von Haus und Hof,
    Ja, es verführt auch unverdorbne Herzen,
    Sich schändlichen Geschäften hinzugeben,
    Es weist den Sterblichen zur Schurkerei
    Den Weg, zu jeder gottvergeßnen Tat!
    Doch alle, die um Gold sich so vergingen,
    Was sie zuletzt erwirkten, war die Strafe. (...)
    Verdienen darf man nicht um jeden Preis,
    Denn schmutzige Gewinnsucht führt bekanntlich
    Ins Unheil öfter als in Sicherheit. (V. 295-313)

Der Wächter ist eine köstliche Figur: zwar unterwürfig, doch gleichzeitig schlau, schlagfertig und ziemlich frech behauptet sich der Mann niedrigen Standes vor der Obrigkeit. Solch eine Figur hat wohl nicht mehr bis Shakespeare die Bühne betreten.

Eine kleine Kostprobe:

    W: Darf ich was sagen oder soll ich gehn?
    K: Merkst du noch nicht, wie dein Geschwätz mich quält?
    W: Beißt's in den Ohren oder in der Seele?
    K: Du mißt noch ab, wo du zuwider bist!
    W: Der Täter kränkt dein Herz, ich nur dein Ohr.
    K: Ha, du bist das geborne Plappermaul!
    W: Doch keineswegs der Täter dieser Tat.
    K: Jawohl! Und gabst dein Leben preis für Geld!
    W: Huh! Furchtbar, wenn einer glaubt und glaubt verkehrt! (V. 315-323)

Der Chor singt ein Preislied auf den Erfindungsgeist des Menschen: "Ungeheuer ist viel und nichts ungeheurer als der Mensch." Sophokles zitiert hier seinen großen Vorgänger Aischylos (Der gefesselte Prometheus, V. 442 ff), doch während bei Aischylos Prometheus den Menschen das Licht der Erkenntnis brachte, hat sich bei Sophokles "der kluge Mensch" alles selbst beigebracht. Gleichzeitig warnt der Dichter, es nicht zu weit zu treiben - ein deutlicher Hieb gegen die Sophisten, die alles nach nackten Verstandes- und Nützlichkeitskriterien einordnen.

Wie die späteren Aufklärer des 18. Jahrhunderts waren ihnen Begriffe wie Moral, Tradition, Geschichte, Religion lästig, der Mensch sollte sich dieser Fesseln entledigen, um in neue Zeiten aufzubrechen. Athen stand auf der Höhe seiner Macht, jetzt galt es, diese Macht gegenüber den Nachbarstaaten durchzusetzen und sich nicht von moralischen Überlegungen über Völkerrecht und Gerechtigkeit beirren zu lassen. So "treibt's zum Bösen ihn bald ..., vermessenen Sinns". Nie, so mahnt Sophokles sein Publikum, freundet euch mit solchen vermessenen Theorien an, "Nie sei Gast meines Herdes, nie mein Gesinnungsfreund, wer solches beginnt".

Der Wächter kehrt zurück und bringt Antigone, die bei ihrem zweiten Versuch, die Leiche des Bruders zu bestatten, gefaßt wurde. In einem großen Schlagabtausch prallen die gegensätzlichen Auffassungen von Staat und Gerechtigkeit aufeinander (siehe Textauszug). Kreon vertritt den Machtanspruch des Staates, dem sich der einzelne zu beugen hat, Antigone handelt nach den großen ungeschriebenen Gesetzen der Götter, die weit über positivem Recht stehen. Dem omnipotenten Staat, der sich sogar gegen moralische Werte absolut setzen will, stellt sie ihre Humanität entgegen. Ihr Widerstand erwächst aus der Verantwortung für den Menschen, wendet sich gegen eine Obrigkeit, die ihre Untertanen zum Haß zwingen will, wo doch Nächstenliebe das ungeschriebene Gesetz der Götter ist, denn "nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da".

Kreon besitzt die Macht, Antigone muß sterben. Nun greift Haimon, Kreons Sohn und Antigones Verlobter, ein. In einer furiosen Auseinandersetzung zwischen Sohn und Vater enthüllt sich der joviale, um den Staat besorgte Herrscher Kreon als gnadenloser, gewissenloser Tyrann. Der Zuschauer, der anfangs vielleicht von Kreons Definition von Staat und Herrschaft beeindruckt war, wird nun belehrt, genauer hinzuhören und tiefer nachzudenken.

    K: Wen sich das Volk erkor, dem gilt's zu folgen
        Im kleinsten - ob gerecht, ob ungerecht.
        Zuchtlosigkeit, das ist das Allerschlimmste!
        (...) Soll ich für andre als für mich hier herrschen?
    H: Das ist kein Staat, der einem nur gehört.
    K: Gilt nicht der Staat als Eigentum des Fürsten?
    H: Allein herrschst du am besten in der Wüste. (...)
        Ich sehe, daß du dich am Recht versündigst.
    K: Wenn ich des Herrschers Würde heilig halte?
    H: Heilig - und trittst der Götter Recht mit Füßen! (V. 666-745)

Kreon, so wird endlich deutlich, spricht zwar vom Staat, aber er vertritt ihn gar nicht. Er vertritt sich selbst, seine Ansprüche an Macht, Ehre und Gehorsam, denen sich jeder unterzuordnen hat. Auch der blinde Seher Teiresias versucht, Kreon zur Einsicht zu bewegen. Die Häuser und Altäre sind besudelt von Leichenfetzen, die Hunde und Vögel herumtragen. "Laß ab vom Toten! Quäl nicht den Gefallnen! Ist das ein Sieg, den Toten nochmals töten?", doch er erntet nur wüste Beschimpfungen: "Ihr werdet diesen Toten nicht bestatten! Und packten ihn zum Fraße gar die Adler des Zeus und schleppten ihn vor seinen Thron!" Erst als der Seher ihm sein eigenes Verhängnis als Vergeltung für diesen Frevel ankündigt, ändert Kreon seine Haltung. Überstürzt gibt er Anweisungen, Polyneikes Leichnam zu bestatten und Antigone zu befreien, doch zu spät. Antigone hat sich bereits in ihrer Grabkammer erhängt, Haimon tötete sich selbst an der Leiche seiner Braut.

Vernichtet betritt Kreon noch einmal die Bühne, die Leiche seines Sohnes Haimon im Arm. Ebenso mitleidlos, wie er wütete, als er sich noch auf dem Gipfel der Macht und des Glückes wähnte, so mitleidlos zeigt sich nun die Vergeltung gegen ihn: Seine Frau Eurydike, die letzte der Familie, tötet sich selbst. Einsam, gebrochen, vernichtet, schuldig muß er einsehen: "Ich bin nicht mehr als nichts!"

Rosa Tennenbaum


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