S C H I L L E R

L E B T

F R I E D R I C H   S C H I L L E R
Sophokles: Streiter gegen die Sophisten  —  Auszüge aus dem Philoktetes

Die Tragödien des Sophokles (496-406 v.Chr.) gelten als Inbegriff des klassischen Kunstwerks; was Praxiteles und Polyklet auf dem Gebiet der Skulptur, Sokrates und Platon in der Philosophie, bedeutet er für die Tragödie. Ihm gelang es, Form und Inhalt zu einer Einheit zu verknüpfen, und so eine möglichst reine ästhetische Wirkung zu erzielen, bei der gleichzeitig die Aktivität der Vernunft und des Empfindungsvermögens des Zuschauers aufs Höchste gesteigert werden. Schiller und Goethe studierten und analysierten seine Werke intensiv, um an ihnen ihren eigenen Stil "zu reinigen" und ihr eigenes Schaffen zur Klassizität zu erheben.

Mindestens 123 Stücke verfaßte Sophokles, von denen uns sieben Tragödien und ein Satyrspiel erhalten sind. Bereits mit seiner ersten Tragödie siegte er im Tragödienwettstreit; das war wahrscheinlich 470; nur zwei seiner Stücke sind zeitlich genau datiert, denn zu Sophokles ist keine einzige Didaskalie (Verzeichnis der aufgeführten Dramen) erhalten geblieben. Zwei Jahre später (468) trug er seinen ersten Sieg über Aischylos davon. Seine Stücke müssen solches Aufsehen und eine derartige politische Aufmerksamkeit erregt haben, daß der für das ganze Fest verantwortliche Archon sein Votum für Sophokles nicht wie üblich vor den Preisrichtern, sondern gleich vor dem höchsten politischen Organ, dem anwesenden Strategenkollegium, ablegte. Mit einem Schlag stand unser Dichter im Zentrum des politischen Interesses und war schnell berühmt.

In den 65 Jahren nach seinem Theaterdebüt beteiligte sich Sophokles fast jedes zweite Jahr bei dem Theaterfestspiel, für das jeweils drei Tragödien und ein Satyrspiel neu geschrieben werden mußten, denn es gab nur Uraufführungen, keine Wiederholungen. Etwa 30 Mal beteiligte er sich am Wettstreit, und mindestens 18 Mal erhielt er den ersten Preis, andere Quellen sprechen sogar von 24 Siegen. Die Jahre dazwischen wurde er Zweiter, niemals Dritter. In seinen 65 Schaffensjahren war Sophokles also jedes dritte Jahr der gefeierte Bühnendichter Athens.

Sophokles führte bedeutende bühnentechnische Neuerungen ein: Er erhöhte die Zahl der Schauspieler von zwei auf drei (in seinem letzten Stück Oidipus auf Kolonos sind es sogar vier Schauspieler) und die der Choreuten von zwölf auf fünfzehn, und er führte die Kulisse ein, bemalte Wände, mit deren Hilfe er die dramatische Illusion steigern konnte. Die trilogische Komposition, wonach alle drei Tragödien inhaltlich im Zusammenhang stehen, gab er bald auf und konzentrierte das Geschehen in einem abgeschlossenen Stück. Außerdem soll er eine Schrift Über den Chor geschrieben haben, die verloren ist.

Sophokles war nicht nur Dichter, er war Politiker und stand zeitlebens mitten im politischen Kampfgeschehen. Seine Tragödien sind nicht nur feine, psychologische Studien, sie sind auch politische Mahnung und Belehrung. Die neue philosophische Richtung der Sophisten, die immer einflußreicher wurde, bekämpfte er von der Bühne herab. Damit scheint er sich nicht nur Freunde gemacht zu haben. Mehrere antike Autoren berichten, daß der greise Dichter in einem Gerichtsverfahren seine geistige Zurechnungsfähigkeit beweisen mußte. Anstatt sich zu rechtfertigen, trug er das berühmte Chorlied zum Preis Attikas aus seiner letzten Tragödie, dem Oidipus auf Kolonos, vor, das zum Schönsten gehört, was antike Lyrik hervorgebracht hat:

    Zu dieses roßbeglückten Landes, Fremder,
    Trefflichsten Gehöften bist du hingekommen,
    Dem kreideschimmernden Kolonos, wo
    Hellstimmig unverdrossen
    Klagt die Nachtigall
    Im tiefen Grunde grünumrankter Täler,
    Im weingesichtigen Efeu eingenistet
    Und in des Gottes unnahbarem
    Hain, der reich an Früchten, sonnenlos,
    Allen Winden sturmdurchtoster
    Winter trotzt, und wo vor Freude trunken
    Auf ewig Bakchos wandelt,
    Im Kreis von göttlichen Ammen ...
    (V. 668-680)

Sophokles erntete einen Applaus wie auf dem Theater und wurde freigesprochen. Dieser Prozeß wurde nach der Aufführung des Philoktetes, in dem der Dichter die "lügnerische Redekunst" der Sophisten geißelte, angestrengt.

Philoktetes

Wir befinden uns im zehnten Jahr der griechischen Belagerung Troias. Nachdem Achilleus, der überragende Held auf der griechischen Seite, gefallen war, gibt es kaum noch Hoffnung auf einen Sieg. Allein der legendäre Bogen des Herakles, so lautet eine Weissagung, könne den Griechen zum Sieg verhelfen. Der jedoch ist im Besitz von Philoktetes, den die Griechen auf ihrer Fahrt nach Troia auf der Insel Lemnos ausgesetzt hatten, weil sie sein Wehgeschrei und den üblen Gestank einer schwärenden Wunde, die ihm ein Schlangenbiß beigebrachte hatte, nicht mehr ertragen konnten.

Odysseus und Neoptolemos landen in der Mission, den Bogen nach Troia zu bringen, auf Lemnos. Da der Ausgestoßene schwerlich sich freiwillig in den Dienst seiner Peiniger stellen wird und seine Waffe ihn vor Gewaltanwendung schützt, bleibt Odysseus nur das "Sophisma", die Intrige. Er schickt den jungen Neoptolemos, den Sohn des Achilleus vor; er soll "durch der trügerischen Rede Kunst" sein Vertrauen erschleichen und ihn in der Hoffnung, daß er zurück in seine Heimat gebracht werde, auf das Schiff locken.

Neoptolemos aber ist ganz der hochgesinnte Sohn seines edlen Vaters, Lug und Verstellung sind seinem Wesen fremd, und Odysseus muß all seine Überredungskunst einsetzen, um ihn zum Mitspielen zu bewegen (siehe Textauszug).

Sophokles legt Odysseus die Denk- und Handlungsweise der Sophisten, die mit ihrer "wendigen Intellektualität" (Latacz) die moralischen Grundlagen des Staates untergruben, in den Mund. Sie argumentierten wie Odysseus: "Willst du Gewinn erlangen, frommt das Zaudern nicht." Das Ergebnis zählte, nicht der Weg dorthin. Rechttun ist dann angebracht, wenn es Nutzen bringt. Ist erst das Ziel erreicht, wird keiner mehr nach den Mitteln fragen, dann werden die Skrupellosen als klug und tapfer gerühmt werden. "Nimm dir aus der Rede, was dir taugt", läßt Sophokles Odysseus sagen, denn Wahrheit sucht man bei den Sophisten vergebens. Neoptolemos ist entrüstet, er will seine Hand nicht zum Betrug leihen, doch schließlich fügt er sich, verführt von Odysseus' "Redekunst".

Zunächst läuft alles nach Plan: Der vereinsamte Philoktetes gewinnt sofort Zutrauen zu dem jungen Mann, der ihm eine Geschichte vorlügt, wie Odysseus es wollte: Nachdem er schwer von den Atriden vor Troia gekränkt worden sei, habe er das Heer verlassen und sei auf dem Weg zurück nach Griechenland. Philoktetes fleht ihn an, ihn mitzunehmen. Damit wäre der Plan geglückt, Philoktetes wäre auf dem Schiff, das dann nicht nach Hause, sondern gegen Troia segeln würde. Doch je mehr Neoptolemos die Not und Qual des Philoktetes kennenlernt, desto unmöglicher kann er den Betrug aufrechterhalten.

Nun überfällt den Kranken ein Anfall seines Leidens. Ehe er vor Schmerz die Besinnung verliert, gibt er seinem jungen Freund den Bogen; er soll ihn bewahren, bis er sich von den Qualen erholt hat. Neoptolemos hält tatsächlich die Waffe in den Händen, die Troia zu Fall bringen soll, er bräuchte nur noch zum Schiff zu gehen und abzusegeln. Doch je näher er seinem Ziel kommt, desto weiter entfernt er sich innerlich davon. Philoktetes erkennt die Zwangslage, in der sein junger Freund steckt: "Du bist kein Schlechter; doch die Schlechten haben dich verführt zum Schlimmen. Überlaß den Schlimmen das!" Neoptolemos will das Vertrauen des Hilflosen nicht mißbrauchen, ihn nicht länger belügen. Seine Wahrheitsliebe, seine Redlichkeit drängen immer stärker hervor, und Sophokles gelingt es meisterhaft darzustellen, wie der Jüngling von seinen Lügen gequält wird und sich schließlich wieder der Wahrheit zuwendet.

Als der Kranke wieder zu sich kommt, offenbart ihm Neoptolemos die Wahrheit, doch - wieder ein genialer Umschwung in der Dramatik - wodurch er hoffte, Philoktetes zu gewinnen, verliert er ihn. Wer sein Vertrauen so mißbrauchte, dem glaubt man nicht mehr. Trotz der Drohungen von Odysseus, gibt Neoptolemos ihm den Bogen zurück und will ihn überzeugen, freiwillig mit nach Troia zu gehen. Doch er kann reden, so viel er will, Philoktetes wird nie mit nach Troia gehen, um den Griechen den Sieg zu erringen. Das "Sophisma", die Intrige, ist gescheitert.

Nun will Neoptolemos den Weg, den er eingeschlagen hat, zu Ende gehen, will das Versprechen, ihn in die Heimat zu bringen, das er Philoktetes gegeben hat, einlösen, selbst wenn es den Bruch mit dem ganzen Heer bedeutet. Da greift Herakles als Göttererscheinung ein und löst den Knoten. Er hatte Philoktetes einst den Bogen gegeben, er befiehlt ihm nun, nach Troia zu gehen, wo er den Griechen zum Sieg verhelfen und Asklepios seine Wunde heilen wird.

Sophokles zeigt im Philoktetes, daß der Mensch trotz aller Verlockungen und Verführungen und trotz unbegrenzter Rechtfertigungsmöglichkeiten, die die Rednerschulen der Sophisten einübten, sich selbst treu bleiben und seinen Wert behaupten kann. Philoktetes, der Unflexible, Geradlinige, der nicht einmal für seine Rettung aus dem Elend seine Grundsätze aufgibt, befreit durch sein Beispiel den verführten jungen Neoptolemos aus den geistigen Fängen der Sophisten und führt ihn zu sich selbst zurück.

Lehrend, warnend, ja beschwörend sprach Sophokles 65 Jahre lang von der Orchestra des Theaters herab zu den Athenern seiner Tage. Er hatte mit einigen wenigen Athen zu seiner geistigen Größe geführt und doch nicht vor der politischen Hybris bewahren können. Ein gütiges Schicksal schloß ihm die Augen nur zwei Jahre, bevor die endgültige Katastrophe seine geliebte Vaterstadt ereilte.

Rosa Tennenbaum


Auszüge aus dem Philoktetes

Odysseus überredet den jungen, arglosen Neoptolemos, dem hilflosen Philoktetes dessen legendären Bogen, den die Griechen brauchen, um Troia besiegen zu können, abzulisten. Sophokles geißelt in Odysseus' gewissenloser Redekunst die Sophisten, die im Begriff waren, Athen in den Ruin zu stürzen.

    O: Wohl weiß ich, Jüngling, daß es deine Art nicht ist,
         Zu solcher Rede arger List dich zu verstehn.
         Doch köstlich ist des Sieges Lohn, der deiner harrt.
         Drum wag' es. Rechtlich zeigen wir uns dann nachher;
         Nur folg' mir jetzt für einen kleinen Teil des Tags
         Und wirf die Scham beiseite. Künftig laß dich dann
         Den frömmsten aller Menschen nennen immerdar.
    N: Es ist mir angeboren, schnöde List zu fliehen;
         ... besser ist, des Ziels
         Mit Ehre fehlen, als ein Sieg, der Schande bringt.
    O: O Sohn des edeln Vaters, in der Jugend war
         Auch mir die Zunge langsam, rasch zur Tat der Arm.
         Doch in des Lebens Schule lernt' ich, daß das Wort
         Und nicht das Handeln überall die Welt regiert.
    N: Was sonst, als eine Lüge, forderst du von mir?
    O: Ich will nur, daß du Philoktet durch List bezwingst.
    N: Warum ihn nicht bereden? Was bedarf's der List?
    O: Er wird nicht folgen ...
    N: Hältst du denn Lügen reden nicht für einen Schimpf?
    O: Durchaus nicht, wenn die Lüge uns zum Heile führt.
    N: Mit welcher Stirn doch sag' ich solche Dinge ihm?
    O: Willst du Gewinn erlangen, frommt das Zaudern nicht.
    N: Und was gewinn' ich, wenn der Mann nach Troia kommt?
    O: Mit seinen Pfeilen wird allein die Stadt erstürmt.
    N: So bin nicht ich's, der sie erobert, wie ihr spracht?
    O: Du siegst nicht ohne jene, sie nicht ohne dich.
    N: Erlangen freilich muß ich sie, wenn's also steht.
    O: Gewiß; so handelnd hast du doppelten Gewinn.
    N: Wie das? Wenn ich's erkenne, weigr' ich mich nicht mehr.
    O: Man rühmt dich dann als tapfer und zugleich als klug.
    N: Gut denn, so sei es, jede Scham setz' ich beiseit.
    (V. 79-120)

Neoptolemos will nicht länger den armen Philoktetes belügen und beschließt, ihm den Bogen zurückzugeben, Odysseus will das um jeden Preis verhindern.

    O: Willst du nicht reden? Weshalb lenkst du wiederum
         Mit solcher Eile hierher deinen Fuß zurück?
    N: Gut machen will ich alle meine früh're Schuld.
    O: Das Wort erschreckt mich. Welcher Schuld klagst du dich an?
    N: Daß ich nach deinem und des Heeres Willen tat.
    O: Von welcher Handlung sprichst du, die dir nicht geziemt?
    N: Mit schnöder Arglist hab' ich diesen Mann umgarnt.
    O: Wen meinst du? Ha! Du hast doch Arges nicht im Sinn?
    N: Nichts Arges; doch ich werde jetzt an Poias' Sohn (Philoktetes) -
    O: Was unternimmst du? Wie ergreift mich doch die Furcht!
    N: Von dem den Bogen ich empfing, ihm wird' ich ihn -
    O: Beim Zeus, was willst du? Ihm doch wiedergeben nicht?
    N: Gewiß; denn schändlich, wider Recht bekam ich ihn.
    O: O, bei den Göttern, red'st du also mir zum Hohn?
    N: Wofern die Wahrheit reden dich verhöhnen heißt.
    O: Was meinst du, o Achilleus? Sohn? Was sprachst du?
    N: Muß ich's noch einmal sagen und zum drittenmal?
    O: Nicht einmal, wünscht' ich, hätt' ich's überhaupt gehört.
    N: So wisse, meine Absicht kennst du nun genau.
    O: Es lebt, es lebt noch einer, der dich hindern wird.
         ... Der sämtlichen Achäer Heer und ich zumal.
    N: Du bist so klug sonst; doch nichts Kluges sprachst du jetzt.
    O: Du aber bist in Worten nicht noch Werken klug.
    N: Doch wenn's gerecht ist, gilt dies höher mir als klug.
    O: Wie kann's gerecht sein, gibst du wieder aus der Hand,
         Was du durch meinen Rat gewannst?
    N: Ich will die Schuld
         Gut machen, die zu meiner Schande ich beging.
    O: Und fürchtest du, so handelnd, die Achäer nicht?
    N: Nicht fürcht' ich deine Drohung, wenn das Recht mich schützt,
         Und nimmer glaub ich, daß dein Arm zu handeln wagt.
    O: Mit dir, nicht mit den Troern gilt es Kampf.
    N: Geschehe, was da wolle!
    (V. 1222-1254)



Übersetzung: Gustav Wendt(*), in Dichtung der Antike, Band IV: Sophokles. Standard-Verlag, Hamburg 1958.


(*) Wendt (1827-1908) gehörte zu den großen Philologen und Gymnasialpädagogen des 19. Jh. Er war der Großvater des berühmten Dirigenten Wilhelm Furtwängler. Seine Übersetzung des Sophokles widmete er Johannes Brahms.


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