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Thukydides: Geschichte als Tragödie  —  Geschichte des Peloponnesischen Krieges

Thukydides (um 460 v.Chr. bis etwa 400 v.Chr.) gilt neben Herodot als Begründer der Geschichtsschreibung. Seine Familie unterhielt verwandtschaftliche Beziehungen nach Thrakien, wo sich auch Güter und Bergwerke der Familie befanden, zugleich sind aber auch verwandtschaftliche Beziehungen zu Kimon und Alkibiades bezeugt. Er gehörte damit zur "politischen Klasse" Athens.

Bei Ausbruch des Peloponnesischen Krieges 431 v.Chr. war Thukydides etwa 30 Jahre alt und begann schon bald mit ersten Aufzeichnungen, "in der Erwartung, der Krieg werde bedeutend werden und denkwürdiger als alle früheren". In den Jahren 425/424 bekleidete er das Amt eines Strategen in der Nordägäis und war in Thrakien stationiert. Den Verlust der strategisch wichtigen Stadt Amphipolis, die von den völlig überraschend unter ihrem General Brasidas angreifenden Spartanern eingenommen wurde, konnte er nicht verhindern - er kam mit seiner Flotte wenige Stunden zu spät. Thukydides wurde wegen dieser Niederlage, obwohl er sie nicht verschuldet hatte, abgesetzt und auf Vorschlag Kleons von der Volksversammlung aus Athen verbannt. Ob er noch einmal nach Athen zurückkehrte, ist nicht zweifelsfrei bezeugt, aber wahrscheinlich. Beigesetzt wurde er im thrakischen Familiengrab.

Wenn man den etwas älteren Herodot als "Vater der Geschichtsschreibung" bezeichnet, ist Thukydides der Begründer der kritischen Geschichtswissenschaft, die unter Einbeziehung von Zeitzeugenaussagen, Urkunden und anderen Dokumenten zu beschreiben versucht, "was war", und den tieferen Ursachen und Verwicklungen nachspürt. In den insgesamt acht Büchern seines unvollendeten Werkes, das 411/410 abrupt abbricht, schildert er die Geschichte des "Krieges der Peloponnesier und Athener". Das ist ein mühseliges Geschäft, wie er selbst schreibt:

"Was nun in Reden hüben und drüben vorgebracht wurde, während sie sich zum Kriege anschickten, und als sie schon drin waren, davon die wörtliche Genauigkeit wiederzugeben war schwierig, sowohl für mich, wo ich selber zuhörte, wie auch für meine Gewährsleute von anderwärts ... Was aber tatsächlich geschah in dem Kriege, erlaubte ich mir nicht nach den Auskünften des ersten besten aufzuschreiben, auch nicht nach meinem Dafürhalten, sondern bin Selbsterlebtem und Nachrichten von anderen mit aller erreichbaren Genauigkeit bis ins einzelne nachgegangen. Mühsam war die Forschung, weil die Zeugen der einzelnen Ereignisse nicht dasselbe über dasselbe aussagten, sondern je nach Gunst und Gedächtnis." (I,22)

Methodisch wichtig ist auch seine Unterscheidung zwischen äußerem Anlaß und tieferem Grund des Krieges, den er "im Wachstum Athens, das die erschreckten Spartaner zum Krieg zwang", sah, im Unterschied zu den "beiderseits öffentlich vorgebrachten Beschuldigungen, derentwegen sie den [eigentlich auf 30 Jahre abgeschlossenen Friedens-] Vertrag aufhoben und den Krieg anfingen".

Man hat Thukydides wegen seiner distanzierten, fast kühlen Darstellung oft vorgeworfen, keine moralische Stellung zu beziehen. Dieser Vorwurf greift zu kurz, weil er sich meistens auf die Erwartung gründet, ein Historiker oder Philosoph müsse dem Leser gefällige Antworten präsentieren, ihm praktisch sagen, was zu tun sei. Ich kann mir kaum jemanden vorstellen, der es ernst mit Philosophie und Politik meint und den die Darstellung des Thukydides (etwa die beiden zitierten Auszüge) kalt läßt.

Der Peloponnesische Krieg (431-404 v.Chr.) endete mit dem Untergang des klassischen Griechenlands als politischer Hochkultur und bedeutete eine wirkliche geschichtliche Zäsur. Im 5. Jh. hatten sich die Griechen erfolgreich zur gemeinsamen Abwehr der Perser zusammengeschlossen. Und am Ende des Krieges (404 v.Chr.) hieß der eigentliche Sieger nicht Sparta, sondern Persien, das mit Sparta verbündet war und den Krieg in den letzten Jahren mitfinanziert hatte.

Georg Peter Landmann schreibt dazu in der Einleitung zur Ausgabe, die auch den nebenstehend zitierten Auszügen zugrunde liegt: "Und das irregeleitete Volk, das nach der Niederlage von 404 sich des Unheils selber bewußt ward und einen Schuldigen suchte, wußte schließlich keinen anderen verantwortlich zu machen und hinzurichten, als gerade den einzigen, der nach dem Bruch der alten Ordnung der Polis den Weg weisen konnte zu einer neuen, inneren Geistigkeit, den Sokrates."

Tillmann Müchler


Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges

Im dritten Buch, in dem es um die Ereignise des vierten bis sechsten Kriegsjahres geht, beschreibt Thukydides eindringlich die Wechselwirkung zwischen den Kriegsereignissen, den damit verbundenen Verbrechen und der moralischen Verrohung der Bevölkerung:

Die Schrecklichkeit des Krieges (Buch III, 82-83)

So ins Unmenschliche steigerte sich dieser Bürgerkrieg und wurde desto stärker so empfunden, als er der allererste dieser Art war. Später freilich ergriff das Fieber so ziemlich die ganze hellenische Welt, da in den zerrissenen Gemeinwesen allerorten die Volksführer sich um Athens Eingreifen bemühten und die Adligen um Spartas. Solange noch Friede war, mochte es wohl an Vorwänden fehlen, auch an Gelegenheit, sie zu Hilfe zu rufen; da aber der Krieg erklärt war und damit die Bündnisse beiden Seiten wichtig wurden, die Schwächung der gegnerischen und dadurch zugleich Neugewinn eigener, war für jeden geplanten Umsturz fremde Hilfe leicht zu erhalten. So brach in ständigem Aufruhr viel Schweres über die Städte herein, wie es zwar geschieht und immer wieder sein wird, solange Menschenwesen sich gleichbleibt, aber doch schlimmer oder harmloser und in immer wieder anderen Formen, wie es jeweils der Wechsel der Umstände mit sich bringt. Denn im Frieden und Wohlstand ist die Denkart der Menschen und der ganzen Völker besser, weil keine aufgezwungenen Notwendigkeiten sie bedrängen; aber der Krieg, der das leichte Leben des Alltags aufhebt, ist ein gewalttätiger Lehrer und stimmt die Leidenschaften der Menge nach dem Augenblick.

So tobten also Parteikämpfe in allen Städten, und die etwa erst später dahin kamen, die spornte die Kunde vom bereits Geschehenen erst recht zum Wettlauf im Erfinden immer der neusten Art ausgeklügelter Anschläge und unerhörter Rachen. Und den bislang gültigen Gebrauch der Namen für die Dinge vertauschten sie nach ihrer Willkür: unbedachtes Losstürmen galt nun als Tapferkeit und gute Kameradschaft, aber vordenkendes Zögern als aufgeschmückte Feigheit, Sittlichkeit als Deckmantel einer ängstlichen Natur, Klugsein bei jedem Ding als Schlaffheit zu jeder Tat; tolle Hitze rechnete man zu Mannes Art, aber behutsames Weiterberaten nahm man als ein schönes Wort zur Verbrämung der Abkehr. Wer schalt und eiferte, galt immer für glaubwürdig, wer ihm widersprach, für verdächtig. Tücke gegen andere, wenn erfolgreich, war ein Zeichen der Klugheit, sie zu durchschauen war erst recht groß, wer sich aber selber vorsah, um nichts damit zu tun zu haben, von dem hieß es, er zersetze den Bund und zittere vor den Gegnern. Kurz, bösem Plan mit bösem Tun zuvorzukommen, brachte Lob, auch den noch Arglosen aufzustiften. Dann entfremdeten sich die Verwandten über all den Bünden, die so viel rascher bereit waren, ohne Zaudern zuzuschlagen. Denn nicht mit den gültigen Gesetzen waren das Vereine zu gegenseitiger Hilfe, sondern gegen die bestehende Ordnung solche der Raffgier. Untereinander verbürgte ihnen die Treue weniger das göttliche Recht als gemeinsam begangenes Unrecht.

Ein edelmütiger Vorschlag von den Gegnern fand Eingang aus zweckmäßiger Vorsicht, wenn diese überlegen waren, und nicht aus schönem Vertrauen. Sich wiederzurächen am andern war mehr wert, als selber verschont geblieben zu sein. Eide, falls noch irgendein Vergleich auf die Art bekräftigt wurde, waren geleistet in der Not, wenn beide sich nicht mehr anders zu helfen wußten, und galten für den Augenblick; wer aber bei günstiger Gelegenheit zuerst wieder Mut faßte, wenn er eine Blöße entdeckte, der nahm seine Rache lieber durch Verrat als in offenem Kampf, einmal zu seiner Sicherheit und dann, weil der ertrogene Triumph ihm noch den Siegespreis der Schlauheit hinzugewann.

Denn im allgemeinen heißt der Mensch lieber ein Bösewicht, aber gescheit, als ein Dummkopf, wenn auch anständig; des einen schämt er sich, mit dem andern brüstet er sich.

Die Ursache von dem allem war die Herrschsucht mit ihrer Habgier und ihrem Ehrgeiz und daraus dann, bei der entbrannten Kampfwut, noch das wilde Ungestüm. Denn die führenden Männer in den Städten, auf beiden Seiten mit einer bestechenden Parole, sie seien Verfechter staatlicher Gleichberechtigung der Menge oder einer gemäßigten Herrschaft der Besten, machten das Gemeingut, dem sie angeblich dienten, zu ihrer Beute, und in ihrem Ringen, mit allen Mitteln einander zu überwältigen, vollbrachten sie ohne Scheu die furchtbarsten Dinge und überboten sich dann noch in der Rache; nicht, daß sie sich dafür eine Grenze gesteckt hätten beim Recht oder beim Staatswohl - da war freie Bahn, soweit jede Partei gerade ihre Laune trieb. Ob sie nun durch ungerechten Stimmstein oder mit der Faust sich zum Herrn machten, es war alles recht, um nur die Kampfwut des Augenblicks zu ersättigen. Frömmigkeit galt weder hüben noch drüben; man schaffte sich vielmehr einen guten Namen, wenn es gelang, gerade durch den Schönklang eines Wortes eine Tat des Hasses zu vollführen. Und die Mittelschicht der Bürger wurde, weil sie nicht mitkämpfte oder aus Neid, daß sie davonkäme, von beiden Seiten her ausgemordet.

So kam in der hellenischen Welt durch die Bürgerkriege jede Art von Sittenverderbnis auf, und die Einfalt, die mit edler Art so nah verwandt ist, ging unter im Hohn; mit mißtrauischer Gesinnung gegeneinander zu stehen wurde das Herrschende. Denn um zu schlichten war kein Wort unumstößlich, kein Eid fürchterlich genug, und da alle besser fuhren mit Berechnung, bei keiner Hoffnung auf Verlaß, suchten sie lieber jedem Schaden vorzubauen und konnten nicht mehr vertrauen.

Und die geistig Schwächern vermochten sich meist zu behaupten; denn in ihrer Furcht wegen des eignen Mangels und der Klugheit ihrer Gegner, denen sie sich im Wort nicht gewachsen fühlten, und um nicht unversehens einem verschlagenern Geist in die Falle zu gehen, schritten sie verwegen zur Tat; die aber überlegen meinten, sie würden es schon rechtzeitig merken und hätten nicht nötig, mit Gewalt zu holen, was man mit Geist könne, waren viel wehrloser und kamen schneller ums Leben.

Im berühmten "Melier-Dialog" (Buch V, 84-114) beschreibt Thukydides das Vorgehen der Athener gegenüber der Insel Melos im sechzehnten Kriegsjahr. Die Botschaft der Athener ist sehr einfach: Wir sind die Stärkeren, also unterwerft euch, oder ihr geht unter.

Das "Recht des Stärkeren"

... Auch gegen die Insel Melos fuhren die Athener aus mit einer Flotte von 30 eigenen Schiffen, 6 aus Chios und 2 aus Lesbos; an eigenen Truppen waren es 1200 Gepanzerte und 320 Schützen, wovon 20 beritten, von den Verbündeten und Inselstädten etwa 1500 Gepanzerte. Melos ist eine Gründung von Sparta und wollte sich den Athenern nicht fügen wie die andern Inselstädte, sondern blieb zunächst außerhalb der Parteien und ruhig, später, da die Athener sie durch Verheerung ihres Landes zwingen wollten, wurden sie erklärte Feinde. Mit der genannten Heeresmacht legten sich nun die Feldherrn Kleomedes Lykomedes' Sohn und Teisias Teisimachos' Sohn in ihr Land; ehe sie aber irgendwo Gewalt übten, schickten sie, um zuerst zu verhandeln, Gesandte...

(...) Die melischen Ratsherrn antworteten: Eure Milde, daß wir in Ruhe einander überzeugen sollen, anerkennen wir gern, aber das kriegerische Wesen, womit ihr schon auftretet, nicht erst droht, widerspricht dem sichtlich. Sehn wir euch doch hergekommen, selber zu richten in dem zu führenden Gespräch, und also wird das Ende uns vermutlich, wenn wir mit unsren Rechtsgründen obsiegen und drum nicht nachgeben, Krieg bringen, hören wir aber auf euch, Knechtschaft...

Die Athener Wir allerdings gedenken unsrerseits nicht mit schönen Worten - etwa als Besieger der Perser seien wir zur Herrschaft berechtigt oder wir müßten erlittenes Unrecht jetzt vergelten - endlose und unglaubhafte Reden euch vorzutragen, noch dürft ihr meinen uns zu überreden, wenn ihr sagt, Abkömmlinge Spartas, hättet ihr doch keine Heeresfolge geleistet oder ihr hättet uns nichts zuleide getan; sondern das Mögliche sucht zu erreichen nach unser beider wahren Gedanken, da ihr so gut wißt wie wir, daß im menschlichen Verhältnis Recht gilt bei Gleichheit der Kräfte, doch das Mögliche der Überlegene durchsetzt, der Schwache hinnimmt.

Die Melier Unsres Bedünkens wäre es aber doch nützlich (so muß es wohl heißen, wenn denn nach euerm Gebot statt vom Recht nur vom Vorteil die Rede sein darf), wenn ihr nicht aufhöbet, was jetzt allen zugut kommt: daß, wer je in Gefahr ist, immer noch hoffen darf, mit Gründen der Billigkeit, auch außerhalb des strengsten Maßes, Gehör zu finden zu seinem Gewinn. Und dies gilt nicht minder auch zu euern Gunsten: denn stürztet ihr je, ihr möchtet noch für andre zum Beispiel werden gewaltiger Rache.

Die Athener Wir aber sind, sollte auch unsre Herrschaft brechen, vor diesem Ende nicht in Bangen ... das aber möchten wir euch dartun, daß wir hergekommen sind unsrem Reich zur Mehrung und jetzt diese Reden führen wollen eurer Stadt zur Rettung; denn so würden wir ohne Mühe eure Herrn, und ihr bliebet zu beider Nutzen heil.

Die Melier Und wie brächte uns der Verlust der Freiheit Nutzen, so wie euch die gewonnene Herrschaft?

Die Athener Weil ihr, statt das Entsetzlichste zu leiden, euch unterordnen dürftet und wir, wenn wir euch nicht vertilgen, dabei gewönnen.

Die Melier Daß wir uns stillhalten und euch freund sind statt feind, aber mit keiner Seite verbündet, könntet ihr nicht annehmen?

Die Athener Nicht so sehr schadet uns eben eure Feindschaft, wie daß Freundschaft ein Schwächezeichen, Haß eines der Stärke bei unsern Untertanen bedeutet... An der Gunst der Götter soll es, denken wir, auch uns nicht fehlen. Denn nichts, was wir fordern oder tun, widerspricht der Menschen Meinung von der Gottheit und Gesinnung gegeneinander. Wir glauben nämlich, vermutungsweis, daß das Göttliche, ganz gewiß aber, daß alles Menschenwesen allezeit nach dem Zwang seiner Natur, soweit es Macht hat, herrscht. Wir haben dies Gesetz weder gegeben noch ein vorgegebenes zuerst befolgt, als gültig überkamen wir es, und zu ewiger Geltung werden wir es hinterlassen, und wenn wir uns daran halten, so wissen wir, daß auch ihr und jeder, der zur selben Macht wie wir gelangt, ebenso handeln würde...

Melos lehnte die Unterwerfung ab und mußte sich nach einer Belagerung den Atherner auf Gnade und Ungnade ergeben.


Zitiert nach: Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, herausgegeben und übertragen von Georg Peter Landmann, München, 1973.


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