S C H I L L E R

L E B T

F R I E D R I C H   S C H I L L E R
Xenophon von Athen  —  Aus den Erinnerungen an Sokrates

Xenophons Anabasis kannte vor der Schulreform der 1960er Jahre wohl jeder Gymnasiast: Sie erzählt die spannende Geschichte vom Zug der zehntausend Griechen nach der Schlacht von Kunaxa in Mesopotamien im Jahr 401 v.Chr. durch Kleinasien bis ans Schwarze Meer. Die Lehrer betonten meistens die Meisterleistung der militärischen Führung dieses Zuges durch unwegsames Gebiet, der ständig Angriffen der Bergstämme ausgesetzt war. Die Schüler rangen trotz der klaren Sprache, die sich besser als die Schriften anderer Schriftsteller an die gelernte Grammatik hielt, mit dem Text. Der Verfasser der Schrift, Xenophon, war einer der verantwortlichen militärischen Führer, der die Führungsaufgabe nach der hinterlistigen Ermordung der griechischen Feldherrn durch die Perser übernahm, obwohl er eigentlich nicht zum Söldnerheer gehörte, sondern nur die Begleitperson eines der Strategen gewesen war. Das Heer hatte der Bruder des persischen Großkönigs Kyros angeworben, um seinen Bruder Artaxerxes II. zu stürzen und sich selbst zum Herrn des persischen Großreiches zu machen.

Geboren wurde Xenophon um 426 v.Chr. in Athen. Man nimmt an, daß er einer adeligen Familie entstammte, die der in Athen durchgesetzten Demokratie nicht sonderlich gewogen war. Er genoß eine standesgemäße Ausbildung, in der das sportlich-militärische Training den höchsten Stellenwert einnahm. Als junger Mensch kam er in Kontakt zu Sokrates und wurde dessen Schüler. In den letzten Jahren des Peloponnesischen Krieges und während der Tyrannis der Dreißig scheint er in der attischen Reiterei gedient zu haben. Offensichtlich hatte ihn der militärische Gegner, Sparta, so überzeugt, daß er seitdem seine Sympathie für Sparta und deren Verfassung nicht verhehlte.

Um 402 v.Chr. schloß er sich dem griechischen Söldnerheer des rebellierenden Kyros an, ein Entschluß, den er - wie er uns in der Anabasis verrät - mit seinem Lehrer Sokrates abgesprochen hatte. Nach dem geglückten Rückzug der Zehntausend und als erneut ein Konflikt mit dem persischen Reich ausgebrochen war, trat das Heer in den Dienst Spartas und wurde ab 396 vom Spartanerkönig Agesilaos geführt. Xenophon war inzwischen aus seiner Heimatstadt Athen wegen seiner Sympathien für Sparta verbannt worden. Obwohl ihm dadurch die Rückkehr verwehrt war und man ihm wieder eine Führungsposition im Heer angetragen hatte, lehnte er sie ab. Er blieb aber den Spartanern verbunden. Zwischen ihm und Agesilaos, dem neuen Heerführer, bildete sich ein Freundschaftsverhältnis. In der Schlacht von Koroneia (394) scheint er auf Seiten der Spartaner sogar gegen seine Heimatstadt Athen gekämpft zu haben.

Als "Staatsgastfreund" der Spartaner erhielt Xenophon von ihnen ein Landgut in Skillos bei Olympia. Dort lebte er, inzwischen verheiratet, etwa 20 Jahre lang nur für seine Familie, die Landwirtschaft, die Jagd und die Schriftstellerei. Als Sparta in der Schlacht bei Leuktra (371) die Vorherrschaft in Griechenland verlor, mußte Xenophon sein Landgut verlassen und nach Korinth fliehen. Mit der Aussöhnung zwischen Sparta, Korinth und Athen wurde seine Verbannung aufgehoben, so daß er nach Athen zurückkehren konnte. Seine Söhne, die in Sparta erzogen worden waren, dienten nun in der athenischen Reiterei. Das wurde bekannt, weil einer davon, Gryllos, der bei Mantineia gefallen war (362), wegen seiner Tapferkeit besondere Ehrungen erhalten hatte.

Xenophon betätigte sich auch weiterhin schriftstellerisch. Er schrieb für ein attisches Publikum. Seine letzte Schrift Über die Staatseinkünfte, erschien 355. Wann Xenophon gestorben ist, weiß man nicht.

Von Xenophon ist ein für einen antiken Schriftsteller umfangreiches Werk überliefert. Am bekanntesten ist die schon erwähnte Anabasis in sieben Büchern. Die wache, lebhafte Darstellung der Ereignisse begeisterte seit alters her die Leser, zumal man in der Beschreibung der überlegenen Soldatenzucht der griechischen Söldner eine Vorwegerklärung für den Erfolg des späteren Siegeszugs Alexanders sah. In der Hellenika schrieb Xenophon im Anschluß an Thukydides in sieben Büchern die Geschichte Griechenlands von 411 bis 362, dem Ende aller innergriechischen Hegemoniebestrebungen, fort. Eingehend schildert er die Herrschaft der Dreißig und kritisiert die Demokratie in Athen, deren falsche Konzeption sich seiner Meinung nach am deutlichsten im Todesurteil gegen Sokrates gezeigt habe. Er propagiert darin die nach 371 verwirklichte Freundschaft zwischen Sparta und Athen. Eine gewisse Ergänzung zu dieser historischen Darstellung liefert er im Agesilaos, einem Nekrolog auf den um 360 verstorbenen Freund.

Breiter bekannt sind auch die Sokratischen Schriften des Xenophon, eine Apologie, ein Symposion und die Memorabilia. Es handelt sich um Dialoge des Sokrates, auf deren historische Rahmenerzählung es Xenophon weniger ankommt als Platon. Sein Sokratesbild unterscheidet sich auch sonst deutlich von dem Platons. Sokrates erscheint als Meister der nüchternen, praktischen Lebensweisheit und ist durch Selbstbeherrschung, Rechtlichkeit und Frömmigkeit das ideale Vorbild; er kümmert sich um Alltagsfragen und fragt stets nach dem "Förderlichen". Im Grunde stellt Xenophon in Sokrates sein eigenes Lebensideal dar.

Auch der Oikonomikos (über "Hauswirtschaft") ist ein Sokrates-Dialog, in dem aber vor allem ein Kritobulos am Beispiel eines Gutsbesitzer Ischomachos über Verwaltung und Mehrung des bäuerlichen Besitzes berichtet. Im Grunde beschreibt hier Xenophon wohl sein Leben in Skillos und webt viele praktische Ratschläge ein, deretwegen das Buch damals eine große Verbreitung fand. Sein heute allerdings weniger bekanntes Hauptwerk ist die Erziehung des Kyros in acht Büchern. Darin schildert er in Form eines historischen Romans lebhaft und anschaulich die Erziehung Kyros' des Großen und die Eroberung Asiens bis zum Tod des Königs. Im Unterschied zur Anabasis erfährt man aber wenig Authentisches über das Leben in Persien, sondern in romanhafter Form mehr über Xenophons spartanisch geprägtes Bildungs- und Staatsideal. Er idealisiert darin Selbstzucht, Genügsamkeit und Gottvertrauen, Jagd und Krieg, eine Herrscherpersönlichkeit, die Vorbild zu sein hat, und die aufrichtige Gefolgschaft der Untergebenen. Im Epilog (VIII, 8, 4) bedauert er den Verfall der altpersischen Zucht und gibt dem die Schuld am Zerfall des Perserreiches.

Der Verherrlichung der aristokratischen Monarchie dient auch der Dialog Hieron, ein Gespräch des Dichters Simonides mit dem Tyrannen Hieron von Syrakus über die Tyrannis. In der Schrift Das Staatswesen der Lakedämonier stellt er dar, wie die von ihm recht verklärte Verfassung des Lykurg die Lebensweise und das Erziehungswesen der Spartaner geregelt und dadurch die Voraussetzung für ihre Vorherrschaft in Griechenland geschaffen habe. Auch hier führt er in einem Epilog den Niedergang Spartas nach 379 auf den Abfall von den alten Sitten zurück. Mit dem Kynegetikos ("Über die Abrichtung der Jagdhunde") frönt er seiner Leidenschaft. Trotz der für ihn typischen feinen Beobachtungen zweifeln Philologen wegen der für ihn untypisch aufgeblasenen, mythologischen Einleitung und stilistischer Schwächen an seiner Verfasserschaft. Dagegen bekunden der Hipparchikos (über den "Reiterführer") und die Schrift Über die Reitkunst den Fachmann, der in ihr mit praktischen Vorschlägen von der Pferdepflege bis hin zu taktischen und strategischen Einsätzen der Reiterei aufwartet. Schließlich legt Xenophon in den Poroi ("Über die Staatseinkünfte") ein Programm zur Sanierung der Staatsfinanzen Athens nach dem Scheitern des 2. Attischen Seebunds um 355 v.Chr. vor. Darin schlägt er die staatliche Förderung der gewerblichen Wirtschaft und vor allem den Ausbau des Silberbergbaus von Laurion vor.

Xenophon verkörpert in gewisser Weise das Ideal der klassischen, aristokratischen Persönlichkeit aus der Zeit der Perserkriege, als diese Lebensweise allmählich verkam. Neben den Tugenden wie Selbstbeherrschung, Genügsamkeit, Beharrlichkeit und Gottvertrauen rührt Xenophons schlichte, aufgeschlossene Menschlichkeit, sein unsentimentaler Sinn für Familie und Freundschaft und ein gesundes Nützlichkeitsdenken, das auch die schwachen Mitglieder der Gesellschaft gut versorgt sehen will. Er ist kein Neuerer und schon gar kein Genie, sondern ein ausgeglichener, heiterer Biedermann mit gesunder Urteilskraft. Als solcher entsprach er den Vorstellungen der römischen Oberklasse, insbesondere der Ciceros. Auch die Renaissance schätzte ihn wegen seines Lebensstils. Erst im 19. Jh. kritisierte man seine historische Darstellung, seine biedere Moral und nahm ihm seinen Verrat am demokratischen Athen übel. Trotzdem ist er eine wichtige Quelle für die griechische Geschichte des 4. Jh. v.Chr., insbesondere ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse. Seine Erkenntnisse über die Reitkunst gelten in entsprechenden Fachkreisen noch heute als grundlegend und gültig.

Dr. Helmut Böttiger


Aus den Erinnerungen an Sokrates (4. Buch, 8. Kapitel)

Wie Sokrates dem Tod entgegenging

Wer nun glaubt, Sokrates sei in seinen Aussagen über das Daimonion der Lüge überführt worden - denn er hatte ja behauptet, das Daimonion, die Gottheit, zeige ihm zum voraus an, was er tun und was er lassen solle, und wurde doch zum Tode verurteilt - , der bedenke folgendes: Erstens, daß Sokrates damals bereits in hohem Alter stand und sein Tod deshalb, wenn nicht zu diesem Zeitpunkt, so doch nicht viel später zu erwarten war, zweitens, daß er dem beschwerlichsten Teil des Lebens entgegenging, in dem bei allen Menschen die Geisteskräfte nachlassen, und er statt dessen durch den Beweis der Seelenstärke, den er gab, hohen Ruhm gewann; denn er verteidigte sich vor Gericht so wahr, so freimütig, so gerecht, ertrug seine Verurteilung zum Tode so gelassen und so mannhaft wie kein anderer Mensch. Allgemein wird anerkannt, daß, solange die Erinnerung der Menschen zurückreicht, niemand den Tod würdiger auf sich genommen habe als er. Er mußte nämlich nach dem Urteilsspruch noch dreißig Tage am Leben bleiben, weil in jenen Monat die Delien fielen und nach dem Staatsgesetz niemand hingerichtet werden durfte, ehe die Festgesandtschaft von Delos zurückgekommen war. Während dieser Tage waren alle seine Vertrauten Zeugen, daß er sich nicht im mindesten gegen die frühere Zeit veränderte; und er wurde doch von jeher mehr als irgendein anderer wegen seines heiteren und zufriedenen Wesens bewundert. Und wie könnte wohl jemand schöner als auf diese Weise sterben? Und welcher Tod könnte würdiger sein als der, den man mit solcher Seelengröße erleidet! Wie könnte man glückseliger sterben als Sokrates! Und welches Sterben könnte ein größerer Beweis für die Gnade der Götter sein!

Ich will nun noch erzählen, was mir Hermogenes, der Sohn des Hipponikos, über seine letzten Tage berichtet hat:

Als Meletos die Anklageschrift gegen Sokrates bereits eingereicht hatte, habe er ihn über alles, nur nicht über seinen Prozeß sprechen hören. Hermogenes habe ihn daran erinnert, daß er zunächst an seine Verteidigung denken müsse. Da habe Sokrates gefragt: "Glaubst du nicht, daß ich mein ganzes Leben lang darauf bedacht gewesen bin?" Als Hermogenes nun habe wissen wollen, auf welche Weise er das getan, sei Sokrates' Antwort gewesen, er habe alle seine Zeit darauf verwandt, zu untersuchen, was gerecht und was ungerecht sei, er habe das Rechte getan und das Unrechte gemieden, und das halte er für die schönste Vorbereitung auf seine Verteidigung. Hermogenes habe dann eingewandt: "Hast du nicht erlebt, Sokrates, daß die Richter in Athen, durch Überredungskünste verleitet, schon oft Unschuldige zum Tode verurteilt, viele Schuldige hingegen freigesprochen haben?" - "Beim Zeus, Hermogenes", habe er geantwortet, "ich hatte schon damit angefangen, mich mit einer gerichtlichen Verteidigung zu befassen; aber das Daimonion widersetzte sich." - "Sonderbar!" - "Du wunderst dich, wenn die Gottheit es für besser erachtet, daß ich jetzt mein Leben beschließe? Weißt du nicht, daß ich bis auf den heutigen Tag keinem Menschen zugestehen würde, besser und angenehmer gelebt zu haben als ich? Denn besser kann nach meiner Überzeugung niemand leben, als wer sich am ernstesten angelegen sein läßt, immer vollkommener zu werden, und auch niemand angenehmer, als wer am lebhaftesten verspürt, daß er vollkommener wird. Und bisher fühlte ich, daß mir dies zuteil geworden ist; auch wenn ich mit anderen Menschen zusammentraf und mich mit ihnen verglich, habe ich diese meine Ansicht immer bestätigt gefunden. Und nicht nur ich, sondern auch meine Freunde urteilen beständig so über mich, und zwar nicht deshalb, weil sie meine Freunde sind - denn sonst würden andere über ihre Freunde auch so urteilen - , sondern weil auch sie der Meinung sind, daß sie durch den Umgang mit mir besser werden. Würde ich noch länger leben, so müßte ich dem Alter meinen Tribut zahlen; Sehen und Hören, Denkvermögen, Auffassungsgabe und Gedächtnis würden abnehmen, und anderen, die ich vorher übertraf, würde ich dann nachstehen. Käme mir das nicht zum Bewußtsein, so wäre mein Leben nicht des Lebens wert; wenn es mir aber zum Bewußtsein käme, wie könnte ich dann anders als schlechter und freudloser leben?

Sollte ich aber durch ungerechtes Urteil sterben müssen, so wird diejenigen, die mich ungerechterweise töten, Schande treffen; denn wenn Ungerechtigkeit schändlich ist, wie sollte nicht auch jede ungerechte Handlung schändlich sein? Aber wie sollte mich Schande treffen, wenn andere unfähig sind, gerecht zu erkennen und zu handeln? Soweit ich sehe, stehen die Menschen der Vorzeit, die Unrecht verübten, keineswegs in demselben Licht bei der Nachwelt wie die, welche Unrecht erlitten. Und so habe ich denn die Zuversicht, daß auch ich, wenn ich jetzt sterben muß, Würdigung finden werde bei der Menschheit, anders als meine Mörder. Ich bin gewiß, man wird mir immer bezeugen, daß ich nie einem Menschen Unrecht getan, keinen schlechter gemacht, wohl aber mich stets bemüht habe, meine Freunde besser zu machen." Das waren Sokrates' Worte zu Hermogenes und zu den anderen Freunden.

Wer Sokrates kannte, wie er war, und wer nach hohem Menschentum strebt, der fühlt auch noch jetzt in sich unaufhörlich die lebhafteste Sehnsucht nach ihm als dem besten Führer auf dem Wege zur Vollkommenheit. So sehe ich ihn im Geiste, wie ich ihn geschildert habe: So fromm, daß er nichts ohne die Zustimmung der Götter tat, so gerecht, daß er niemand auch nur im geringsten Schaden zufügte, vielmehr denen, die mit ihm umgingen, die größten Dienste leistete, so beherrscht, daß er nie das Angenehmere dem Besseren vorzog, so klug, daß er in der Unterscheidung von Gutem und Schlechtem nie irrte und zur Entscheidung darüber keines anderen bedurfte, sondern seiner selbst sicher war, befähigt, seine Gedanken mitzuteilen und in bestimmte Begriffe zu fassen, befähigt, andere richtig einzuschätzen und, wenn sie fehlten, zurechtzuweisen und in ihnen das Streben nach hohem Menschentum und wahrer Bildung zu erwecken. So war er für mich das Inbild des besten und glücklichsten Mannes.

Wer ihn nicht so sieht, der stelle andere zum Vergleich neben ihn und urteile!


Nach Xenophon, Memorabilien, Erinnerungen an Sokrates, übertragen und erläutert von Paul M. Laskowsky, München, 1960.


Zur Übersicht der Ausgrabungen