Neben den spöttischen Xenien entstanden auch viele andere, die nicht unmittelbare Literaturkritik, sondern dauerhafte Weisheiten enthielten, wie diese Epigramme von Schiller:
Das Höchste
Suchst du das Höchste, das Größte? Die Pflanze kann es dich lehren.
Was sie willenlos ist, sei du es wollend - das ist's!
Würde des Menschen
Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen,
Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.
Über hundert der sogenannten "zahmen Xenien" von Schiller und Goethe erschienen unter dem Titel Tabulae votivae (Votivtafeln) im Musen-Almanach für das Jahr 1797. Viele waren eigentlich gar nicht zahm, sondern ziemlich gepfefferte Angriffe etwa auf die Empiristen, die von sich behaupteten, ohne Hypothesen zu arbeiten:
Empiriker
Daß ihr den sichersten Pfad gewählt, wer möchte das leugnen?
Aber ihr tappet nur blind auf dem gebahntesten Pfad.
Die Quellen
Treffliche Künste dankt man der Not und dankt man dem Zufall,
Nur zur Wissenschaft hat keines von beiden geführt.
Und nirgends als in diesen Votivtafeln habe ich je so kurz und einprägsam das Paradoxon des Einen und des Vielen abgehandelt gesehen:
Wahrheit
Eine ist sie für alle, doch sieht sie jeder verschieden,
Daß es eines doch bleibt, macht das Verschiedene wahr.
Schönheit
Schönheit ist ewig nur eine, doch mannigfach wechselt das Schöne,
Daß es wechselt, das macht eben das Eine nur schön.
Aufgabe
Keiner sei gleich dem andern, doch gleich sei jeder dem Höchsten!
Wie das zu machen? Es sei jeder vollendet in sich.
Geboren wurden die Xenien aber als Kampfgedichte, um die Lebensgeister von Freund und Feind auf- und anzuregen:
Das ungleiche Verhältnis
Unsre Poeten sind seicht, doch das Unglück ließ sich vertuschen,
Hätten die Kritiker nicht ach! so entsetzlich viel Geist.
Aufmunterung
Deutschland fragt nach Gedichten nicht viel; ihr kleinen Gesellen,
Lärmt, bis jeglicher sich wundernd ans Fenster begibt.
Man kann nun auf dreierlei Weise mit den überlieferten Xenien umgehen. Erstens kann man sie einfach lesen und beherzigen, denn Schiller und Goethe hatten sie durchaus auch für die Nachwelt gedacht (Xenie 578):
Lebet, ist Leben in euch, und erzählt noch dem kommenden Alter,
Distichen, was wir geehrt, was wir gehaßt und geliebt.
Zweitens kann man sie so, wie sie sind, oder leicht abgewandelt heute erneut ins Feld führen. Folgender Vers ist zwar auf den Buchhändler Nicolai gemünzt:
Querkopf! schreit ergrimmt in unsere Wälder Herr Nickel,
Leerkopf! schallt es darauf lustig zum Walde heraus.
Er eignet sich jedoch für sämtliche Hohlköpfe, deren Namen zwei Silben und die Betonung auf der ersten hat.
Und drittens kann man, von Schiller und Goethe inspiriert, selbst neue Xenien schreiben, um in den Prozeß der öffentlichen "Meinungsbildung" einzugreifen. Die poetische Form dieser Distichen - ein Hexameter (mit sechs Versfüßen) gefolgt von einem Pentameter (mit Zäsur zwischen zwei Hebungen in der Mitte) beschreibt Schiller in diesem Epigramm:
Das Distichon
ím Hexámeter stéigt des Spríngquells flússige Sáule,
ím Pentámeter dráuf/ fállt sie melódisch heráb.
Oder ein anderer Pentameter: Wénn man sie óft genug líest,/ prágt sich das Vérsmaß schon éin. Das Wichtigste ist aber eine gute Idee, die wir alsdann an kleine gefiederte Xenienpfeile heften, um sie in ihr Ziel zu tragen.
Wirkungslos bleibt und stumm auch der allerbeste Gedanke,
bis die Flügel des Worts tragen ihn treffend ins Ziel.
Das war schon eine unserer "neuen Xenien". Eine kleine Kostprobe zum Thema "Wahlkampf" zeigt, was sonst noch dabei herausgekommen ist:
Wahlkampf 1998
Wählen soll bald das Volk der Titanic, ob Kohl oder Schröder
nächstens wird Kapitän. - Aber dem Eisberg ist's gleich.
Weisheit der Parteistrategen
"Quäle die Wähler nur ja nicht mit klaren Programmen", so mahnt er,
"Wissen sie erst, was du willst, nimmermehr wirst du gewählt!"
SPD
Trickreich will Schröders Partei alle Gegensätze vereinen.
Freilich vergebens: Wie in der Chemie neutralisiert sie sich selbst.
Grüne
Grüne schreien "Natur", und haben doch niemals begriffen,
was die Schöpfung bewegt und des Menschen Natur.
"Nullwachstum" war stets ihr Ziel, die "Rückkehr zum einfachen Leben".
Ist das Unglück erst da - fürchtet, Grüne, den Dank!
BüSo-Bildungspolitik
Sicher möchte die Oligarchie das Volk gern verdummen.
Aber sie kommt nur zum Ziel, wenn es sich dumm machen läßt.
Kostbares habe die Bildungsreform in Jahrzehnten verschüttet.
Klagt nicht nur, grabet danach - und entdecket es neu!
Um eifrigen Kritikern vorzubeugen: Wir wissen wohl, daß ein paar Distichen noch keine Dichter machen, und wir kennen natürlich jene Xenie über den Dilettantismus, die man auf unsere "neuen Xenien" abschießen könnte (aber die Arbeit, sie herauszusuchen, nehmen wir den Kritikern nicht ab), doch das kann uns nicht hindern, zu tun, was wir schon nicht mehr lassen können. (Wenn man mit der Xeniendichterei erst einmal angefangen hat, nimmt das nämlich kein Ende. Mitten in der Nacht wacht man auf, mit genau der Xenie auf den Lippen, die den ganzen Tag über nicht gelingen wollte. Blitzschnell muß sie dann auf Papier festgehalten werden, denn im Handumdrehen "schließt die Nacht sie wieder ein".)
Enden wir für diesmal mit einem Aufruf zum "neuen Xenienkrieg":
Wenn sich getroffene Gegner fortan in Distichen wehrten,
Xenien zielten auf uns, nähmen wir gern das Geschenk.
Schmiedet nur eifrig die kleinen gefiederten Pfeile und übt euch.
Wenn ihr mit Distichen schießt, drucken wir die sogar ab.
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