S C H I L L E R

L E B T

F R I E D R I C H   S C H I L L E R

Aus der Xenienschmiede geplaudert - 3. Folge
Unser "Aufruf zum neuen Xenienkrieg" in Neue Solidarität Nr. 33/1998 endete mit den an Freund und Feind gerichteten, aufmunternden Zeilen:

Aber ach! Woche um Woche verstrich, ohne jeden Widerhall. Wie konnte man auch annehmen, irgendwelche Widersacher würden uns zuliebe über sich selbst hinauswachsen und plötzlich Xenien gegen uns in die Welt setzen? Die herbe Enttäuschung machte sich Luft in folgender Xenie, die jedoch wegen allzugroßer Sauerkeit bislang unveröffentlicht blieb:

Soviel Essig war auch deshalb fehl am Platze, weil - wenn die Feinde sich schon nicht zu Xenien aufraffen können - es ja noch die Freunde gibt. Und siehe da! Inzwischen landeten gleich mehrere Xenien aus fremder Feder in unserem E-mail-Briefkasten ("Xenien" ist wohl zu viel gesagt, aber doch immerhin solche, die es werden wollen). Ulkig in ihrer Unvollkommenheit, um nicht zu sagen Mißgestalt, bieten sie jedenfalls Anlaß, die Anatomie der Xenien etwas genauer zu durchleuchten. Wie gesagt, schon Schiller und Goethe benutzten diese pfeffrigen "Gastgeschenke", um sich des bornierten Zeitgeistes ihrer Tage zu erwehren oder überhaupt ein treffendes Urteil kurz und prägnant auszudrücken; und sie selbst knüpften damit an die spöttischen Epigramme des Römers Martial an.

Grundvoraussetzung ist, wie bei allen Schaffensfragen, die angemessene Idee.

Die Idee muß nicht nur gut und richtig, sondern auch passend sein, um in genau dieser Form des Distichon ausgedrückt werden zu können. Diese Idee zu finden, ist nun ganz Sache des einzelnen Erfindergeists, da helfen keinerlei Regeln und Anleitungen. Anders ist es bei der Form. Das Versmaß läßt sich durchaus erläutern.

    Versmaß
    Dístichen sínd unsre Xénien, rhıthmisch geórdnet in Fúßchen.
       Óben gíbt's davon séchs, únten téilt's die Zäsúr.

Die obere Zeile des Distichon ist ein Hexameter, bestehend aus sechs Versfüßen, wobei jeder Versfuß mit einer betonten Silbe beginnt. Folgen auf die betonte Silbe zwei unbetonte, dann heißt der Versfuß Daktylus, und das Wort "Daktylus" ist auch einer. Wenn der Hexameter ganz regelmäßig ist, sind seine ersten fünf Versfüße Daktylen, und nur der letzte Versfuß endet mit nur einer unbetonten Silbe (wie bei "Füßchen"). Die erste Zeile der obigen Xenie hat z.B. folgendes Schema, wobei der Strich für betonte und der Punkt für unbetonte Silben steht:

    - . . - . . - . . - . . - . . - .

Es gibt aber auch viele Hexameter, bei denen hin und wieder statt zwei nur eine unbetonte Silbe zwischen zwei betonten vorkommt, und zwar geschieht das am häufigsten im ersten Versfuß. Der Hexameter ist also viel weniger streng, als man meint; es dürfen nur nicht mehr als zwei unbetonte Silben aufeinanderfolgen.

Die untere Zeile des Distichon ist ein Pentameter, der auch aus Daktylen besteht, aber gewissermaßen spiegelsymmetrisch, von beiden Enden her: Der Pentameter beginnt mit einer betonten Silbe und endet auch mit einer solchen. So hat er von jeder Seite symmetrisch zwei vollständige Versfüße (der umgekehrte Daktylus heißt "Anapäst" und ist auch einer) plus je eine betonte Silbe, die in der Mitte aufeinandertreffen. Die Zäsur zwischen ihnen teilt den Pentameter in eine aufsteigende und eine absteigende Hälfte -- das eignet sich gut für Pointen. Dies ist das Schema der Unterzeile Óben gíbt's davon séchs, únten téilt's die Zäsúr:

    - . - . . - / - . - . . -

Wenn man das weiß und gut gelungene Xenien, vor allem die von Schiller und Goethe, oft und laut mit überbetontem Rhythmus liest, dann prägt sich das typische Versmaß der Xenien, das Distichon, bald ein.

Doch wozu, werden wir gefragt, soll man eigentlich Xenien schmieden, wenn man die Dinge doch auch so ausdrücken kann, wie "eim de Schnabbel gewachse is"? Und soll diese Damdada-damdada-dam-Verseschmiederei etwa Dichtkunst sein? Dichtung vielleicht nicht, aber doch eine gewisse Vorübung dazu; man nennt das auch "prosodische Übungen", die früher im Humboldtschen Bildungssystem zum Schulunterricht gehörten. Dies dient nicht nur späterem Gedichteschreiben, es bedeutet auch, daß man übt, sich wirkungsvoll auszudrücken, indem man der zu vermittelnden Idee eine Form gibt, in der sie "besser fliegt" (das ist der Sinn "geflügelter Worte") oder besser in die für andere Töne "zugestopften Ohren" der Zeitgenossen eindringt (siehe die Originalxenie im Kasten). Außerdem finden wir, ist das Schmieden von Xenien und anderen Gedankendingen für "Dichterpflänzchen" eine angemessene Beschäftigung.

    Widerwort
    Wer nun Xenien schmiedet, meint ihr, der ist schon ein Dichter?
       Nein, aber wer so dumm fragt, muß wohl ein Kritiker sein.

Dichterpflänzchen

P.S.
Und nun sieh mal einer an, was für schöne "geharnischte Xenien" uns der liebe Epigonus aus Salzburg, und zwar ganz frisch im Juni 2005, geschickt hat:

Hexalogon

Sechs geharnischte Xenien

14. / 15. Juni 2005

I.

Wider die Kunstgerichtsbarkeit
Schiller preist ihr und Goethe, doch wenn einer dichtet im Geiste
   Schillers und Goethes keift ihr und versprüht euer Gift.

II.

Lob der Staatshäupter
Mächtig seid ihr, reich und über alle erhaben,
   Muster unsrer Zeit; Männer von Wert seid ihr nicht.

III.

Wider die Lobredner der westlichen Zivilisation
Hundert Arenen stillten die Wollust barbarischer Römer;
   Eures Pöbels Gier nähren die Leichen der Welt!

IV.

Wider die Heuchler
Schiller müßt ihr mehr lesen als loben, Jelinek aber,
   Lobt sie, so viel ihr nur wollt; lesbar doch macht sie das nicht.

V.

Wider die Wortverdreher
Was ist des Westens Freiheit? Was ist menschliches Recht? - Zum
   Sklaven zu machen die Welt, Sklave zu werden gemacht!

VI.

Wider den ungebildeten Akademiker
Kennst du deinen Plutarch und, Bester, deinen Homerus?
   Keineswegs, Freund; ich kenn' mich ja selbst nicht einmal.

Epigonus (dritte.stoa.x-net.at)

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