Aufbau einer multipolaren Welt: ein kultureller Ansatz
Von Denys Pluvinage
Denys Pluvinage ist Berater des Französisch-Russischen Dialogs
in Paris.
Ich wurde lange Zeit durch einen zwanghaften Drang behindert, Antworten auf
alle Fragen zu finden, die sich mir im Leben stellten. Aber nach einer
30jährigen Karriere in sechs verschiedenen Ländern, inmitten von Völkern,
deren Kulturen ganz anders waren als meine eigene, habe ich gelernt, daß wir,
wenn wir keine Antworten finden können, einfach lernen müssen, mit den Fragen
zu leben; daß die notwendigen Antworten sich mit der Zeit einstellen würden;
aber vor allem, daß es sinnlos ist, anderen unsere Antworten aufzwingen zu
wollen.
Es gibt jedoch einige allgemeine Prinzipien, die uns leiten müssen, um
unser Handeln legitim und effizient zu machen. Im Rahmen dieser allgemeinen
Prinzipien kann man etwas aufbauen, auch wenn man noch nicht alle Antworten
auf alle Fragen hat.
Das momentan größte Problem, das eine Debatte ausgelöst hat, unseren
Staatsführern große Sorge bereitet und so viel Gewalt und Zerstörung ausgelöst
hat, ist die Frage der Weltordnung. Diese Frage ist in der Geschichte der
Menschheit neu. In der Vergangenheit begann ein Souverän einfach einen Krieg
gegen seine Nachbarn, um seine Macht zu erweitern und Reichtümer zu gewinnen,
aber die technischen Mittel, die ihm zur Verfügung standen, ließen ihn nicht
an eine grenzenlose Ausweitung seiner Herrschaft denken.
Aber das Ausmaß der Ambitionen wuchs mit der Zeit und mit den technischen
Mitteln, wie beispielsweise dem Schiffsbau, der es England erlaubte, ein
Kolonialreich von enormer geographischer Ausdehnung aufzubauen. Heute erlauben
es die technischen Mittel, die den größten Staaten zur Verfügung stehen, von
einer unbegrenzten Hegemonie zu träumen.
Die bipolare Organisation, die vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum
Zusammenbruch der Sowjetunion herrschte, bot der Welt ein gewisses
Gleichgewicht. Man denkt hier gleich an das „Gleichgewicht des Schreckens“,
aber das ging noch viel weiter. Jeder Pol war ein Hindernis für die
hegemonialen Aspirationen des anderen - nicht nur militärisch, sondern auch im
Bereich der Ideen und in der Politik, denn jede Seite bot mindestens
theoretisch eine Alternative zur Politik der anderen. In jedem Land hatten die
Menschen, wenn nicht die Wahl, so doch einen Bezugspunkt. Unter den Nationen
bestand tatsächlich eine Wahl, denn jeder Block war bereit, die Länder, die
sich ihm anschlossen, in der einen oder anderen Weise zu belohnen. So waren
die beiden Hauptmächte in ihren Optionen eingeschränkt.
Mit dem Verschwinden der Sowjetunion verschwand auch dieses Gleichgewicht,
und in diesem Kontext muß man Wladimir Putins Bemerkungen über die, wie er
sagte, „geopolitischen Katastrophe“ des Verschwindens der Sowjetunion
betrachten. Die Russische Föderation war fast 15 Jahre lang eine schwache
Macht, sowohl wirtschaftlich als auch politisch. Gleich von 1992 an sahen die
Vereinigten Staaten die Sowjetunion so, wie sie Deutschland und Japan am Ende
des Zweiten Weltkriegs gesehen hatten: Rußland konnte seine inneren
Angelegenheiten - in bestimmten Grenzen - frei regeln, und es durfte auch eine
Rolle in den internationalen Angelegenheiten spielen, aber nur als ein
nachrangiger Teilnehmer, der amerikanische Interessen teilte. Die USA
betrachteten sich als Gewinner des Kalten Krieges und gingen daran, eine
unipolare Welt aufzubauen.
Diese Bewegung beschleunigte sich nach den Ereignissen des 11. September
2001, als die USA sich in einen Weltpolizisten verwandelten, mit allen
Konsequenzen, die wir kennen: das PATRIOT-Gesetz, Invasionen, Bombardierung
von Zivilisten, Folter, Farbenrevolutionen, gezielte Drohnenschläge mit den
Kollateralschäden, etc. Damit verhalfen sie den Terroristen zu ihrem ersten
Sieg, denn es ist ihnen gelungen, unser Leben in einen Alptraum zu
verwandeln.
Heute wird all dies von Rußland in Frage gestellt, genauso wie von anderen
Ländern, die in verschiedenen internationalen Organisationen die halbe
Menschheit vertreten. Aber machen wir uns nichts vor: Genau darum geht es
hier.
In dieser Konfrontation, in der die Hauptfrage nicht die Ukraine oder der
Donbaß ist, sondern die (unipolare oder multipolare) Weltordnung, ist keine
Umkehr mehr möglich. Entweder die USA-NATO-EU gewinnen und Rußland wird sehr
bald unter Kontrolle gebracht, ebenso wie die übrigen BRICS-Staaten und
möglicherweise sogar China, oder die Kontrolle der USA über Europa wird immer
mehr abnehmen, was zum Verschwinden der amerikanischen Hegemonie führen
würde.
Es geht also um sehr viel, und deshalb fuhr die höchste Ebene der
Regierungen von China und Indien am 9. Mai nach Moskau, um bei den Feiern
anläßlich des 70. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges ihre
Unterstützung zu demonstrieren. Man muß auch daran erinnern, welche
entscheidende Rolle Kasachstan und sein Präsident zusammen mit dem russischen
Präsidenten spielte.
Die Bedeutung der Kultur
Warum ist eine multipolare Weltordnung natürlicher? Weil jedes Land seine
eigene Kultur hat und man nicht auf Dauer ein System durchsetzen kann, das der
Kultur eines anderen widerspricht.
Mit Kultur meinen wir hier nicht die schönen Künste oder die Literatur,
sondern das, was Friedrich von Hayek 1983 in seinem Buch Recht, Gesetz und
Freiheit definiert als „eine Tradition erlernter Verhaltensregeln, die
niemals ,erfunden’ wurden und deren Funktion die handelnden Individuen
gewöhnlich nicht verstehen. Es ist sicher gerechtfertigt, von einer
kulturellen Weisheit anstelle einer natürlichen Weisheit zu sprechen.“
Der amerikanische Ethnologe Edward Hall, der als der Vater der Disziplin
der interkulturellen Beziehungen gilt, gibt eine andere Definition: „Kultur
ist ein unsichtbarer Steuerungsmechanismus, der in unserem Denken wirkt.“
Wer von Ihnen schon einmal in einem fremden Land gelebt hat, der hat sicher
Gelegenheiten erlebt, wo das Verhalten einer Person seltsam, überraschend,
unverständlich, unangemessen oder sogar schockierend wirkte. Das kann eine
einfache Bemerkung sein, die Art und Weise, wie man Sie anschaut oder mit
Ihnen redet, oder die Tischmanieren. In der gleichen Art und Weise - und
dessen sind wir uns nicht bewußt - können wir anderen, die in einer anderen
Kultur aufgewachsen sind, seltsam oder unverständlich erscheinen.
Wir alle nehmen unsere „Mutterkultur“ in frühestem Alter auf, von der Zeit
der Geburt bis zum Alter von sieben Jahren. Sie wird uns von den Erwachsenen
eingeflößt, die uns umgeben, meistens von den Eltern oder anderen, die uns
nahestehen. Die „Programmierung des Geistes“ umfaßt Normen, Werte, den Glauben
und Hypothesen über das Leben.
Was wir als „Hypothesen über das Leben“ bezeichnen, ist etwas, was in
unserer Kultur eine zentrale Rolle spielt, aber noch nicht in Worten erklärt
worden ist. Deshalb fällt es uns manchmal schwer, bestimmte Entscheidungen zu
erklären; sie leiten sich aus dem beobachteten Verhalten ab.
Ein Beispiel dieser Hypothesen über das Leben: „Ist der Mensch
grundsätzlich gut?“ oder „Ist der Mensch grundsätzlich schlecht?“
Nur wenige Menschen stellen sich diese Frage, die nichtsdestoweniger
direkte Folgen für unser Verhalten hat. In den Kulturen, in denen man es als
gegebene Tatsache betrachtet, daß der Mensch grundsätzlich gut ist, wird man
offensichtlich dazu tendieren, auf die menschliche Natur zu vertrauen. Die
persönlichen und geschäftlichen Beziehungen werden sich nicht auf Gesetze oder
strenge und detaillierte Regeln stützen, und Meinungsverschiedenheiten werden
direkt beigelegt, anstatt sich auf Dritte oder auf das Justizsystem zu
stützen. Das ist der Fall in der französischen und in der russischen
Kultur.
Im Gegensatz dazu wird in Kulturen, in denen man vermittelt bekommt, daß
der Mensch grundsätzlich schlecht ist, alles getan, insbesondere im Rechts-
und Justizsystem, um die Menschen daran zu hindern, schlecht zu handeln, und
die menschlichen Beziehungen werden durch Verträge geregelt, die in einer
detaillierten und zwingenden Weise abgefaßt sind. Das ist der Fall in der
amerikanischen Kultur.
Egal welcher Kultur wir angehören, wir werden immer der Überzeugung sein,
daß das System, das in unserem eigenen Land angenommen wurde, das bessere ist,
und daß das andere System unzureichend ist. Außerdem wird jeder Versuch,
Regeln durchzusetzen, die im Widerspruch zu unserer Kultur stehen, ein
psychologisches Unbehagen auslösen - eine Tatsache, die viele Psychosoziologen
als „Kulturschock“ bezeichnen.
Andererseits wird das Unverständnis, das durch ein unerwartetes Verhalten
ausgelöst wird, Mißtrauen auslösen, was wiederum eine Ursache für Aggressionen
ist, die bis zum Krieg führen können.
Nehmen wir als Beispiel die Haltung gegenüber dem Recht:
In der amerikanischen Kultur denkt jeder, daß die Gesetze für alle die
gleichen sein müssen und unter allen Umständen in der gleichen Art und Weise
angewendet werden sollen. Die Strafverfahren sind beispielsweise sehr
formalistisch und berücksichtigen den Kontext nicht.
In der russischen oder der französischen Kultur denken wir natürlich auch
„Gesetz ist Gesetz“ - aber auch, daß ein Gesetz interpretiert werden kann. Auf
allen Ebenen der Hierarchie betrachten die zuständigen Personen es als ihr
Vorrecht, die Gesetze und Regeln zu interpretieren.
Im ersten Fall ist man überzeugt, daß die einzig mögliche Art und Weise,
die Menschen gerecht zu behandeln, darin besteht, alle genau gleich zu
behandeln. Das gilt im zweiten Fall jedoch als ungerecht, denn dort muß man
den Kontext und die Persönlichkeit des Angeklagten berücksichtigen.
Aber wenn wir das französische System von außen betrachten, beispielsweise
aus deutscher Sicht, dann ist da etwas, was als sehr ungerecht erscheint.
Beispielsweise kann nur ein französischer Staatsbürger wissen, wie und unter
welchen Umständen ein französisches Gesetz oder eine französische Regel
interpretiert werden sollte. Ein Deutscher kann, wenn er nicht sehr lange in
Frankreich gelebt hat, nicht erraten, wann und wie ein Gesetz interpretiert
werden sollte, und das bringt ihn gegenüber seinen französischen Konkurrenten
in eine benachteiligte Lage. Andererseits wird er aufgrund dieser
„französischen Art“, die Gesetze zu interpretieren, sehr schnell den Eindruck
bekommen, die Franzosen seien unberechenbar.
Die menschlichen Beziehungen werden also ganz grundlegend von unserer
Kultur geprägt, und Mißachtung der Verhaltensmaßstäbe ist etwas sehr
unbefriedigendes. Wenn die mangelnde Berücksichtigung der Normen unseres
Landes auch noch verbunden ist mit einer herablassenden oder gar arroganten
Haltung, dann wird die Lage sehr schnell unerträglich, ganz besonders, wenn
man im eigenen Land so behandelt wird.
Nur ein multipolares System ist für alle akzeptabel
Wie kann man Akzeptanz für ein System erreichen, das aus einer Reihe von
Regeln, Werten und Überzeugungen einer bestimmten Kultur hervorgeht, in einem
Land, das im Laufe vieler Generationen ein System ganz anderer Art entwickelt
hat - außer mit Gewalt? Und wenn man dazu Gewalt braucht, wie läßt sich dann
die Zustimmung der Bevölkerung gewinnen? Mein Philosophielehrer sagte uns
immer wieder: „Die Anwendung von Gewalt ist ein Zeichen von Schwäche.“ Ein
System, das auf diese Weise durchgesetzt wird, wird notwendigerweise schwach
sein.
Nur ein multipolares System, das durch einen Kodex des internationalen
Rechts geregelt ist, der von allen Ländern anerkannt wird, kann dazu
beitragen, eine Weltordnung zu schaffen, die alle Kulturen in allen Ländern
respektiert, und gleichzeitig eine befriedigende Weltordnung garantieren.
Ich will meine Bemerkungen schließen, indem ich eine Äußerung
paraphrasiere, die Präsident Putin kürzlich gemacht hat: Um eine realistische
und leistungsfähige Außenpolitik aufzubauen (er sprach in dem Fall über die
Wirtschaft), braucht man offensichtlich ein Gehirn - aber auch ein Herz, um
die Konsequenzen seines Handeln für die Menschen zu verstehen. Wenn die
Menschen spüren, daß wir ein Herz haben und den ehrlichen Wunsch, sie
anzuhören, dann werden sie uns vertrauen. Wenn man ihr Vertrauen gewonnen hat,
dann werden sie die Bemühungen, die man von ihnen verlangt, akzeptieren. Sonst
aber werden sie sie nicht akzeptieren, und dann bleibt einem keine andere
Wahl, als sein Vorhaben aufzugeben oder es unter dem Schutz der Gewalt zu
verfolgen - sei es der Polizei oder der Armee.
Es ist bezeichnend, daß in einigen Ländern die Polizeikräfte immer mehr den
Streitkräften ähneln, deren Ausrüstung und Methoden sie übernehmen.