Friedrich Schiller Denkmal
Friedrich Schiller




Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

     Konferenz in Paris, Juni 2015   

Aufbau einer multipolaren Welt: ein kultureller Ansatz

Von Denys Pluvinage

Denys Pluvinage ist Berater des Französisch-Russischen Dialogs in Paris.

Ich wurde lange Zeit durch einen zwanghaften Drang behindert, Antworten auf alle Fragen zu finden, die sich mir im Leben stellten. Aber nach einer 30jährigen Karriere in sechs verschiedenen Ländern, inmitten von Völkern, deren Kulturen ganz anders waren als meine eigene, habe ich gelernt, daß wir, wenn wir keine Antworten finden können, einfach lernen müssen, mit den Fragen zu leben; daß die notwendigen Antworten sich mit der Zeit einstellen würden; aber vor allem, daß es sinnlos ist, anderen unsere Antworten aufzwingen zu wollen.

Es gibt jedoch einige allgemeine Prinzipien, die uns leiten müssen, um unser Handeln legitim und effizient zu machen. Im Rahmen dieser allgemeinen Prinzipien kann man etwas aufbauen, auch wenn man noch nicht alle Antworten auf alle Fragen hat.

Das momentan größte Problem, das eine Debatte ausgelöst hat, unseren Staatsführern große Sorge bereitet und so viel Gewalt und Zerstörung ausgelöst hat, ist die Frage der Weltordnung. Diese Frage ist in der Geschichte der Menschheit neu. In der Vergangenheit begann ein Souverän einfach einen Krieg gegen seine Nachbarn, um seine Macht zu erweitern und Reichtümer zu gewinnen, aber die technischen Mittel, die ihm zur Verfügung standen, ließen ihn nicht an eine grenzenlose Ausweitung seiner Herrschaft denken.

Aber das Ausmaß der Ambitionen wuchs mit der Zeit und mit den technischen Mitteln, wie beispielsweise dem Schiffsbau, der es England erlaubte, ein Kolonialreich von enormer geographischer Ausdehnung aufzubauen. Heute erlauben es die technischen Mittel, die den größten Staaten zur Verfügung stehen, von einer unbegrenzten Hegemonie zu träumen.

Die bipolare Organisation, die vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion herrschte, bot der Welt ein gewisses Gleichgewicht. Man denkt hier gleich an das „Gleichgewicht des Schreckens“, aber das ging noch viel weiter. Jeder Pol war ein Hindernis für die hegemonialen Aspirationen des anderen - nicht nur militärisch, sondern auch im Bereich der Ideen und in der Politik, denn jede Seite bot mindestens theoretisch eine Alternative zur Politik der anderen. In jedem Land hatten die Menschen, wenn nicht die Wahl, so doch einen Bezugspunkt. Unter den Nationen bestand tatsächlich eine Wahl, denn jeder Block war bereit, die Länder, die sich ihm anschlossen, in der einen oder anderen Weise zu belohnen. So waren die beiden Hauptmächte in ihren Optionen eingeschränkt.

Mit dem Verschwinden der Sowjetunion verschwand auch dieses Gleichgewicht, und in diesem Kontext muß man Wladimir Putins Bemerkungen über die, wie er sagte, „geopolitischen Katastrophe“ des Verschwindens der Sowjetunion betrachten. Die Russische Föderation war fast 15 Jahre lang eine schwache Macht, sowohl wirtschaftlich als auch politisch. Gleich von 1992 an sahen die Vereinigten Staaten die Sowjetunion so, wie sie Deutschland und Japan am Ende des Zweiten Weltkriegs gesehen hatten: Rußland konnte seine inneren Angelegenheiten - in bestimmten Grenzen - frei regeln, und es durfte auch eine Rolle in den internationalen Angelegenheiten spielen, aber nur als ein nachrangiger Teilnehmer, der amerikanische Interessen teilte. Die USA betrachteten sich als Gewinner des Kalten Krieges und gingen daran, eine unipolare Welt aufzubauen.

Diese Bewegung beschleunigte sich nach den Ereignissen des 11. September 2001, als die USA sich in einen Weltpolizisten verwandelten, mit allen Konsequenzen, die wir kennen: das PATRIOT-Gesetz, Invasionen, Bombardierung von Zivilisten, Folter, Farbenrevolutionen, gezielte Drohnenschläge mit den Kollateralschäden, etc. Damit verhalfen sie den Terroristen zu ihrem ersten Sieg, denn es ist ihnen gelungen, unser Leben in einen Alptraum zu verwandeln.

Heute wird all dies von Rußland in Frage gestellt, genauso wie von anderen Ländern, die in verschiedenen internationalen Organisationen die halbe Menschheit vertreten. Aber machen wir uns nichts vor: Genau darum geht es hier.

In dieser Konfrontation, in der die Hauptfrage nicht die Ukraine oder der Donbaß ist, sondern die (unipolare oder multipolare) Weltordnung, ist keine Umkehr mehr möglich. Entweder die USA-NATO-EU gewinnen und Rußland wird sehr bald unter Kontrolle gebracht, ebenso wie die übrigen BRICS-Staaten und möglicherweise sogar China, oder die Kontrolle der USA über Europa wird immer mehr abnehmen, was zum Verschwinden der amerikanischen Hegemonie führen würde.

Es geht also um sehr viel, und deshalb fuhr die höchste Ebene der Regierungen von China und Indien am 9. Mai nach Moskau, um bei den Feiern anläßlich des 70. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges ihre Unterstützung zu demonstrieren. Man muß auch daran erinnern, welche entscheidende Rolle Kasachstan und sein Präsident zusammen mit dem russischen Präsidenten spielte.

Die Bedeutung der Kultur

Warum ist eine multipolare Weltordnung natürlicher? Weil jedes Land seine eigene Kultur hat und man nicht auf Dauer ein System durchsetzen kann, das der Kultur eines anderen widerspricht.

Mit Kultur meinen wir hier nicht die schönen Künste oder die Literatur, sondern das, was Friedrich von Hayek 1983 in seinem Buch Recht, Gesetz und Freiheit definiert als „eine Tradition erlernter Verhaltensregeln, die niemals ,erfunden’ wurden und deren Funktion die handelnden Individuen gewöhnlich nicht verstehen. Es ist sicher gerechtfertigt, von einer kulturellen Weisheit anstelle einer natürlichen Weisheit zu sprechen.“

Der amerikanische Ethnologe Edward Hall, der als der Vater der Disziplin der interkulturellen Beziehungen gilt, gibt eine andere Definition: „Kultur ist ein unsichtbarer Steuerungsmechanismus, der in unserem Denken wirkt.“

Wer von Ihnen schon einmal in einem fremden Land gelebt hat, der hat sicher Gelegenheiten erlebt, wo das Verhalten einer Person seltsam, überraschend, unverständlich, unangemessen oder sogar schockierend wirkte. Das kann eine einfache Bemerkung sein, die Art und Weise, wie man Sie anschaut oder mit Ihnen redet, oder die Tischmanieren. In der gleichen Art und Weise - und dessen sind wir uns nicht bewußt - können wir anderen, die in einer anderen Kultur aufgewachsen sind, seltsam oder unverständlich erscheinen.

Wir alle nehmen unsere „Mutterkultur“ in frühestem Alter auf, von der Zeit der Geburt bis zum Alter von sieben Jahren. Sie wird uns von den Erwachsenen eingeflößt, die uns umgeben, meistens von den Eltern oder anderen, die uns nahestehen. Die „Programmierung des Geistes“ umfaßt Normen, Werte, den Glauben und Hypothesen über das Leben.

Was wir als „Hypothesen über das Leben“ bezeichnen, ist etwas, was in unserer Kultur eine zentrale Rolle spielt, aber noch nicht in Worten erklärt worden ist. Deshalb fällt es uns manchmal schwer, bestimmte Entscheidungen zu erklären; sie leiten sich aus dem beobachteten Verhalten ab.

Ein Beispiel dieser Hypothesen über das Leben: „Ist der Mensch grundsätzlich gut?“ oder „Ist der Mensch grundsätzlich schlecht?“

Nur wenige Menschen stellen sich diese Frage, die nichtsdestoweniger direkte Folgen für unser Verhalten hat. In den Kulturen, in denen man es als gegebene Tatsache betrachtet, daß der Mensch grundsätzlich gut ist, wird man offensichtlich dazu tendieren, auf die menschliche Natur zu vertrauen. Die persönlichen und geschäftlichen Beziehungen werden sich nicht auf Gesetze oder strenge und detaillierte Regeln stützen, und Meinungsverschiedenheiten werden direkt beigelegt, anstatt sich auf Dritte oder auf das Justizsystem zu stützen. Das ist der Fall in der französischen und in der russischen Kultur.

Im Gegensatz dazu wird in Kulturen, in denen man vermittelt bekommt, daß der Mensch grundsätzlich schlecht ist, alles getan, insbesondere im Rechts- und Justizsystem, um die Menschen daran zu hindern, schlecht zu handeln, und die menschlichen Beziehungen werden durch Verträge geregelt, die in einer detaillierten und zwingenden Weise abgefaßt sind. Das ist der Fall in der amerikanischen Kultur.

Egal welcher Kultur wir angehören, wir werden immer der Überzeugung sein, daß das System, das in unserem eigenen Land angenommen wurde, das bessere ist, und daß das andere System unzureichend ist. Außerdem wird jeder Versuch, Regeln durchzusetzen, die im Widerspruch zu unserer Kultur stehen, ein psychologisches Unbehagen auslösen - eine Tatsache, die viele Psychosoziologen als „Kulturschock“ bezeichnen.

Andererseits wird das Unverständnis, das durch ein unerwartetes Verhalten ausgelöst wird, Mißtrauen auslösen, was wiederum eine Ursache für Aggressionen ist, die bis zum Krieg führen können.

Nehmen wir als Beispiel die Haltung gegenüber dem Recht:

In der amerikanischen Kultur denkt jeder, daß die Gesetze für alle die gleichen sein müssen und unter allen Umständen in der gleichen Art und Weise angewendet werden sollen. Die Strafverfahren sind beispielsweise sehr formalistisch und berücksichtigen den Kontext nicht.

In der russischen oder der französischen Kultur denken wir natürlich auch „Gesetz ist Gesetz“ - aber auch, daß ein Gesetz interpretiert werden kann. Auf allen Ebenen der Hierarchie betrachten die zuständigen Personen es als ihr Vorrecht, die Gesetze und Regeln zu interpretieren.

Im ersten Fall ist man überzeugt, daß die einzig mögliche Art und Weise, die Menschen gerecht zu behandeln, darin besteht, alle genau gleich zu behandeln. Das gilt im zweiten Fall jedoch als ungerecht, denn dort muß man den Kontext und die Persönlichkeit des Angeklagten berücksichtigen.

Aber wenn wir das französische System von außen betrachten, beispielsweise aus deutscher Sicht, dann ist da etwas, was als sehr ungerecht erscheint. Beispielsweise kann nur ein französischer Staatsbürger wissen, wie und unter welchen Umständen ein französisches Gesetz oder eine französische Regel interpretiert werden sollte. Ein Deutscher kann, wenn er nicht sehr lange in Frankreich gelebt hat, nicht erraten, wann und wie ein Gesetz interpretiert werden sollte, und das bringt ihn gegenüber seinen französischen Konkurrenten in eine benachteiligte Lage. Andererseits wird er aufgrund dieser „französischen Art“, die Gesetze zu interpretieren, sehr schnell den Eindruck bekommen, die Franzosen seien unberechenbar.

Die menschlichen Beziehungen werden also ganz grundlegend von unserer Kultur geprägt, und Mißachtung der Verhaltensmaßstäbe ist etwas sehr unbefriedigendes. Wenn die mangelnde Berücksichtigung der Normen unseres Landes auch noch verbunden ist mit einer herablassenden oder gar arroganten Haltung, dann wird die Lage sehr schnell unerträglich, ganz besonders, wenn man im eigenen Land so behandelt wird.

Nur ein multipolares System ist für alle akzeptabel

Wie kann man Akzeptanz für ein System erreichen, das aus einer Reihe von Regeln, Werten und Überzeugungen einer bestimmten Kultur hervorgeht, in einem Land, das im Laufe vieler Generationen ein System ganz anderer Art entwickelt hat - außer mit Gewalt? Und wenn man dazu Gewalt braucht, wie läßt sich dann die Zustimmung der Bevölkerung gewinnen? Mein Philosophielehrer sagte uns immer wieder: „Die Anwendung von Gewalt ist ein Zeichen von Schwäche.“ Ein System, das auf diese Weise durchgesetzt wird, wird notwendigerweise schwach sein.

Nur ein multipolares System, das durch einen Kodex des internationalen Rechts geregelt ist, der von allen Ländern anerkannt wird, kann dazu beitragen, eine Weltordnung zu schaffen, die alle Kulturen in allen Ländern respektiert, und gleichzeitig eine befriedigende Weltordnung garantieren.

Ich will meine Bemerkungen schließen, indem ich eine Äußerung paraphrasiere, die Präsident Putin kürzlich gemacht hat: Um eine realistische und leistungsfähige Außenpolitik aufzubauen (er sprach in dem Fall über die Wirtschaft), braucht man offensichtlich ein Gehirn - aber auch ein Herz, um die Konsequenzen seines Handeln für die Menschen zu verstehen. Wenn die Menschen spüren, daß wir ein Herz haben und den ehrlichen Wunsch, sie anzuhören, dann werden sie uns vertrauen. Wenn man ihr Vertrauen gewonnen hat, dann werden sie die Bemühungen, die man von ihnen verlangt, akzeptieren. Sonst aber werden sie sie nicht akzeptieren, und dann bleibt einem keine andere Wahl, als sein Vorhaben aufzugeben oder es unter dem Schutz der Gewalt zu verfolgen - sei es der Polizei oder der Armee.

Es ist bezeichnend, daß in einigen Ländern die Polizeikräfte immer mehr den Streitkräften ähneln, deren Ausrüstung und Methoden sie übernehmen.