Kunstemotion contra politische Korrektheit
Rede von Eric Larsen auf der Konferenz des Schiller-Instituts am 15. Juni in New York
Eric Larsen ist emeritierter Professor am John Jay College
der Universität der Stadt New York und Buchautor, darunter „A Nation Gone
Blind“ (Eine erblindete Nation) und „The Decline and Fall of the American
Nation“ (Der Niedergang und Fall der amerikanischen Nation).
Ich freue mich, hier zu sein, und bin dankbar, daß Sie mich eingeladen
haben. Ich werde mich so kurz halten als möglich, doch ich möchte hier die
Geschichte von zwei Büchern erzählen, die ich geschrieben habe.
Das jüngere dieser Bücher trägt den Titel The Scull of Yorick
(„Yoricks Schädel“). Es hat einen langen Untertitel; er lautet: „Die Leere
des amerikanischen Denkens in einer Zeit großer Gefahr“, und der
Untertitel zu diesem Untertitel lautet: „Studien über die Vertuschung des
11. September“. Einige Jahre zuvor, 2006, veröffentlichte ich das Buch
A Nation Gone Blind („Eine erblindete Nation“) mit dem Untertitel
„Amerika in einem Zeitalter der Simplifizierung und Täuschung“. Ich möchte
Ihnen zunächst etwas über das erste Buch sagen, dann ein bißchen mehr über
das zweite, und das ganze dann zu einer Geschichte zusammenfassen. Es ist
eine Geschichte über das Lesen.
Ich bin hier auf diesem Podium der Literat, und man könnte meinen, was
ich zu sagen habe, sei eine Art „Fußnote“ zu dem vielen anderen, was hier
gesagt wurde. Aber in dem Fall ist es eine wichtige Fußnote (wie das
Fußnoten oft sind).
Ich denke, das Dilemma, die Sorge mit dem Terror, die Sackgasse, das
Unheil, die Blindheit unseres Landes - das mag jetzt absurd erscheinen -,
aber meiner Ansicht nach ist das alles zum Teil auf die Tatsache
zurückzuführen, daß die Amerikaner die Fähigkeit, richtig zu lesen,
verlernt haben oder daß man ihnen nicht beigebracht hat, richtig zu
lesen.
Als ich in der Grundschule und Mittelschule war, sagten die Lehrer
immer: „Man lernt eine Menge durch das Lesen. Ihr könnt euch in ein fernes
Land versetzen und fremde Völker kennenlernen, ihr könnt ihnen über das
Meer die Hand reichen, und ihr lernt, wie man ein Lagerfeuer macht.“ Aber
als ich dann größer wurde, gelangte ich zu der Überzeugung, daß das Lesen
von Informationen nicht der wahre Grund für das Lesen ist - vor allem
nicht bei dem, was man als Literatur bezeichnet.
Wenn ich jetzt über Literatur rede, dann gehen Sie bitte davon aus, daß
ich von Kunst rede. Nur wenige verstehen, wie man die Künste sinnvoll
nutzt und wozu sie da sind. (Das Schiller-Institut gehört zu den wenigen.)
Ich habe einen langen Absatz vor mir, den ich hier nicht vorlesen werde.
(Obwohl er sehr schön ist; aber trauen Sie keinem Autor, die wollen immer
vorlesen, was sie geschrieben haben!) Jedenfalls stammt das hier von der
Seite 125 in A Nation Gone Blind. Ich habe einen Mann gekannt -
inzwischen haben wir wieder den Kontakt verloren, aber wir kamen dadurch
in Kontakt, daß er mir schrieb, weil ihn meine Seite 125 umgehauen hatte.
Ich nannte ihn immer meinen „Seite-125-Mann“.
Kunstemotion
Und das Entscheidende bei der Antwort auf diese Frage [warum man liest]
ist, daß man nicht wegen der Informationen lesen sollte, sondern wegen der
Erfahrung. Die Frage ist: welche Erfahrung? Und die Antwort lautet: Wenn
man mit einem Kunstwerk zu tun hat und alles gut geht, dann ist man in
etwas drin, was ich „Kunstemotion“ bezeichne. (Das stammt von T.S. Eliot,
er war da der erste, das muß man anerkennen.) Das ist etwas einzigartiges
und für die Menschheit lebenswichtiges: Man benutzt sowohl seinen Geist
als auch seine Emotionen. Und die Kunst ist fast der einzige Ort, an dem
das vom Menschen selbst hervorgebracht werden kann. Es ist mehr oder
weniger das einzige, was so gestaltet werden kann, daß es den vollen
Gebrauch von Geist und Herz gleichzeitig bewirkt.
Wenn man ein Buch liest, und wenn es ein gutes ist und man liest es
richtig und es funktioniert, so daß Kunstemotion entsteht - ich nenne es
manchmal das Fühlen-Denken oder Gedankengefühl oder eben Kunstemotion -,
dann erkennt man, daß man im Universum völlig allein ist.
Dazu ließe sich sehr viel sagen, aber grundsätzlich erkennt jeder, daß
er allein ist, und daß unsere Augen die Fenster sind, durch die man
hinausschaut. Man selbst ist drinnen und die Welt ist da draußen, und man
sieht sie nur dadurch. Vielleicht auch durch die Ohren und die Nase, aber
jedenfalls durch die Sinne. Und das ist das Gefühl des Alleinseins, das
ist die Erfahrung, die zentrale Erfahrung, die man beim Lesen macht.
Nun möchte ich Ihnen eine kurze Passage vorlesen:
„Diese einfache, rudimentäre Sache, das Erlebnis der Kunst oder die
Kunstemotion“ - man könnte es, wie ich schon sagte, auch als gefühltes
Verständnis oder bewußtes Fühlen bezeichnen - „macht uns die Existenz des
sinngebenden Ichs bewußt.“ Das heißt, die Erkenntnis, daß man lebt!
Natürlich spürt man auch bei einem guten Essen, daß man lebt, aber
dabei gibt es keine intensive Vereinigung von Geist und Herz. Es ist eher
der Bauch, der sagt: „Mensch, ist das gut!“
Mit anderen Worten, man erkennt die einzigartige, lebenswichtige
Bedeutung, die Unverzichtbarkeit des Ichs als Eingangstor zu allen anderen
Erfahrungen, zumindest zu allen Erfahrungen, die etwas bedeuten.
Ich wurde in dieser Weise erzogen. Und im College lernte ich alles
darüber. Ich begann, die großen Schriftsteller zu betrachten und studierte
sie, und ich wollte selbst einer werden. Ich dachte, ich sei auf dem Weg
dahin. Ich wollte Romane schreiben und habe das auch getan - „Der
Niedergang und Fall der amerikanischen Nation“ ist ein Roman, kein
Sachbuch.
Und dann kam... die politische Korrektheit
Aber eines Tages, im Jahr 1991 - ich glaube, es war der 17. September,
ich weiß es nicht mehr genau - merkte ich, daß die literarische Welt um
mich herum tot war. Es war eine persönliche Erfahrung dafür, wie sie starb
und wie sich zeigte, daß die Kunstemotion die amerikanische Leserschaft
innerhalb und außerhalb der akademischen Welt nicht mehr
interessierte.
An die Stelle der Kunstemotion und der Bedeutung des Verständnisses vom
Ich und seiner Beziehung zum Universum und allen anderen Ichs traten vier
Worte: Rasse, Klasse, Geschlecht und ethnische Identität. Es kam die
politische Korrektheit. Und sie ist seither nie verschwunden. Und ich
mache sie weitgehend dafür verantwortlich, daß der 11. September vertuscht
wurde.
Ich wandte mich damals an eine alte Zeitschrift, in der ich Jahre zuvor
schon etwas publiziert hatte, dem North American Review - der
ältesten vierteljährlichen Literaturzeitschrift in den USA, die von Thomas
Jefferson gegründet wurde. Ich war stolz, daß etwas von mir darin
erschienen war. Und ich dachte, geh doch mal hin und schau, ob die auch
die Pest geholt hat. Und tatsächlich, so war es. In der Mitteilung des
Herausgebers las ich: „The North American Review ist die älteste
Literaturzeitschrift in Amerika, 1815 gegründet, und eine der
angesehensten. Wir interessieren uns für qualitativ hochwertige Poesie,
Romanliteratur und Sachliteratur über alle Themen, aber vor allem
interessieren wir uns für Werke, die sich mit den zeitgenössischen Sorgen
und Angelegenheiten Nordamerikas befassen, insbesondere in Bezug auf
Umwelt, Geschlecht, Rasse, Klasse und Ethnie“!
Soso! Ich frage: Wo bleibt das übrige Leben? Wo ist alles andere? Es
erinnert mich an Orwell, Sie wissen vielleicht: „Alle Tiere sind gleich
geschaffen, aber einige Tiere sind gleicher als die anderen.“ Hier heißt
es: „über alle Themen, solange sie... [politisch korrekt sind]“
An dieser Stelle muß ich noch eine Metapher erwähnen, weil sie mir
gefällt: „Das Zeitalter der Simplifizierung“ - so nenne ich das - „ist
real, und die Verwechselung von Denken und Fühlen ist real, wenn dort, wo
das Denken wichtiger sein sollte, wie z.B. im Klassenzimmer, zuerst das
Fühlen kommt.“ (Ich rate den Kindern heute: Geht nicht aufs College. Sucht
euch lieber kluge Menschen und lest mit ihnen.) „Im Klassenzimmer haben
[heutzutage] die Gefühle Vorrang. Und wo das Gefühl Vorrang haben sollte,
so wie in dem entscheidenden lebendigen Keim, der ein literarisches Werk
inspiriert [ist es umgekehrt]“.
Wenn man ein literarisches Werk verfaßt, sollte man nicht von einem
Konzept, einer Frage oder einem gesellschaftlichen Problem wie Rasse oder
Klassen ausgehen. Nein! Es sollte ein kleines Element des Lebens sein,
über das der Schriftsteller einfach schreiben muß. Das Thema ist nicht das
erste! Sondern der Impuls des Lebens muß zuerst kommen. Der kann natürlich
zu einem Thema führen, sicher. Aber entscheidend ist, ob erst das Pferd
oder der Wagen kommt. „Der entscheidende lebendige Keim, der ein
literarisches Werk inspiriert, wird abgelöst von Abstraktionen, die an
seiner Stelle die Führung übernehmen, wie ein Zugpferd, das auf eine
Rosenknospe tritt.“ Sie wissen wohl, die Hufe von Zugpferden, wie ich sie
als Kind gekannt habe, sind groß wie Teller, und wenn so ein armes Tier
auf eine Rosenknospe trat, dann war`s das!
Es gibt also die Kunst, aber wir haben sie verloren. Wie wirkt sich das
auf die Bildung aus? Nun, es wirkt sich folgendermaßen auf die Bildung
aus: Es gibt jetzt an den Universitäten eine Klasse von Leuten, die ich
die „Neuen Professoren“ nenne. Die Leute meinen, ich mag die nicht, bloß
weil sie jung sind und ich alt bin. Aber ich denke, so ist es nicht. Viele
von ihnen sind sehr nett. Aber sie sehen nichts und sie fühlen nichts. Sie
reden über Ethnien und so weiter, und mehr ist da nicht.
Diese Neuen Professoren, wenigstens im literarischen Teil der
Geisteswissenschaften - es gilt auch für die Kunst, die Musik ist dem
vielleicht entkommen, weil sie die reinste der Künste ist - bilden ihre
Studenten nicht, es ist eher so, als würden sie ihnen die Augen
ausstechen. Sie machen sie passiv und mechanisch, statt sie mit ihrer
Fähigkeit und ihrem Talent zu einer umfassenden und autonomen Intelligenz
zu ermutigen und zu stärken. Das ist die Art von Intelligenz, die wir
brauchen, wenn es eine entsprechend intelligente Nation geben soll.
An der Schmerzgrenze
Es gibt noch mehr Dinge, die in The Scull of Yorick angesprochen
werden, aber das ist das Thema. Und als das Buch herauskam, sagte man mir:
Du mußt eine Internetseite anlegen und das bekannt machen. Ich war der
einzige in unserem Land, der es bekannt gemacht hat! Es gab überhaupt
keine Besprechungen, niemand mochte es. Die von der New York Times
haßten es, obwohl ihnen meine beiden vorherigen Bücher gut, sogar sehr gut
gefallen hatten. Aber das war zuviel, das überstieg die Schmerzgrenze, die
Wahrheit wurde zu offen ausgesprochen. Das war es wohl, was mit The
Scull of Yorick los war.
Ich habe die Webseite, aber ich konnte nicht mehr tun, als dort meinen
Zorn über all die blinden Leute auszulassen, die ich in den Künsten und in
den Nachrichten, in den Informationen und den Medien sah - alle, von Amy
Goodman bis Thomas Friedman und Frank Rich. So schrieb ich Aufsatz einen
Aufsatz nach dem anderen. Und etliche davon sind hier in The Scull of
Yorick gesammelt.
Es ist immer wieder die gleiche Geschichte, aber enorm studiert und
institutionalisiert. Ich weiß nicht, wie viele der Größen, die wir
tagtäglich in den Zeitungen und Büchern lesen, selbst wissen, daß sie
lügen und wie viele von ihnen es nicht wissen. Vor Gott ist das ohne
Belang, denke ich, aber in den menschlichen Beziehungen ist es sicher von
Belang.
Jedenfalls ist der Anfang von A Nation Gone Blind heute noch
wahrer als damals. Ich habe das Fernsehen angesprochen - ich wollte das
eigentlich nicht, aber ich mußte es tun. Man kommt nicht drum herum. Und
wenn es um die von Medien durchtränkte Kultur geht, dann ist das Thema die
Lüge.
Mein persönliches Amerika beginnt ungefähr 1947. Ich wurde 1941
geboren, und ab 1946-47 nahm ich bewußt wahr, und ich habe noch einige
Erinnerungen an damals. Und ich bin sehr dankbar für diese Erinnerungen,
denn die Massenmedien haben das Land für immer verändert. Aber diese 60
Jahre, die uns das Neue Amerika gebracht haben, haben uns auch eine
praktisch perfekte sozio-politische Kultur der Lügen und des Lügens
gebracht. Diese Kultur baut auf einem Fundament der Lüge auf, ist von
Wänden der Lüge umgeben und wird von einem Dach der Lügen gedeckt.
Und jetzt trifft uns die größte aller dieser Lügen, sie nimmt uns
unsere Freiheiten und unsere Verfassung, unsere Republik und unsere
Rechte. Und der einzige Weg, dagegen zu kämpfen, und der einzige Weg, wie
wir es überhaupt bekämpfen können, der fängt mit dem „ich“ an: zu
erkennen, daß man mitten drin ist, ganz allein, daß ich ganz allein mitten
drin bin, und daß die Initiative von jedem kleinen Flämmchen kommen wird,
das dann auf alle anderen Flammen wirkt.
Das wäre das, was ich zu sagen habe. Vielen Dank für Ihre Zeit.
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