Warum wir die klassische Kultur brauchen
Rede von Anthony Morss auf der Konferenz des Schiller-Instituts am 15.
Juni in New York
Anthony Morss ist Musikalischer Direktor und Chefdirigent der
Operngesellschaft New Jersey Association of Verismo Opera.
Ich möchte heute drei wichtige Fragen stellen und sie beantworten so gut
ich kann. Erstens, warum müssen wir die klassische Kultur wieder zu ihrem
früheren Glanz erheben? Warum müssen wir das gerade jetzt tun? Und warum
veranstalten wir eine Sommerakademie für Musik und Wissenschaft?
Der Wert der klassischen Kultur liegt besonders in ihrem reichen Bestand an
erhebenden und Lebenskraft spendenden Kulturschätzen. Aber wir brauchen sie
auch, ganz besonders heutzutage, als Gegengewicht gegen die erschreckende
Gewaltverherrlichung in unserer Pop- und Unterhaltungskultur.
In Romanen und Filmen wurden schon immer Auseinandersetzungen zwischen gut
und böse vorgeführt, mit Gewaltszenen am Ende, wenn es zum Showdown kommt.
Aber solche Verbrecher und Monster wie heute hat man in früheren Zeiten nie
aufgefahren. Viele dieser Monster ähneln dem Tyrannosaurus Rex, und die
Verbrecher hinterlassen fast immer einen viel bleibenderen Eindruck als die
Helden. In den Batman-Filmen beispielsweise kommen Joker und Pinguin immer
davon, und sie sind widerlich bunt und viel unterhaltsamer als der graue,
lakonische Batman. Man beachte auch, daß das intellektuelle Niveau
buchstäblich das von Comics ist, die ursprünglich für Kinder gedacht waren,
aber jetzt auch auf verdummte Erwachsene zugeschnitten sind.
In der Star-Wars-Serie (Krieg der Sterne) gibt es zwar auch
einige einfallsreiche Elemente, besonders im ersten Film mit seinem
tiefgründigen mythischen Widerhall, aber der Eindruck, der sich am Ende der
Serie beim Zuschauer am dauerhaftesten einprägt, sind die bedrohlichen
Atemgeräusche von Darth Vader. Er prägt sich in unser Gedächtnis ein und
überwiegt dabei mühelos die guten Charaktere.
Manche Filme führen uns das Ende der Welt vor: den schrecklich
realistischen Untergang der Titanic, reihenweise den Einsturz von
Wolkenkratzern in Manhattan und Attacken völlig verrückter Mörder, ganz zu
schweigen von Vampiren, Werwölfen und Zombies - letztere drei sind dieser Tage
sehr beliebt.
Die zahllosen Videospiele versetzen die Spieler in ein Kriegsgebiet, wo sie
töten müssen, um nicht selbst getötet zu werden. Diese Spiele sind unmittelbar
vom Ausbildungsvideo des britischen Militärs abgeleitet, das dazu dient, dem
Soldaten den letzten Rest an Mitleid abzugewöhnen, der ihn davon abhalten
könnte, einen feindlichen Soldaten auf dem Schlachtfeld zu töten. Diese
Videospiele haben große Bedeutung im Zusammenhang mit den zahlreichen
Amokläufen an amerikanischen Schulen, fast alle Todesschützen waren süchtig
nach solchen Spielen. Einige von ihnen konnten sich durch diese Spiele sogar
eine außerordentliche Treffsicherheit aneignen. Geistig gesunde Kinder können
die Spiele natürlich spielen, ohne daß es sie verrückt macht, aber man muß
jedenfalls zugeben, daß diese Spiele kein gesundes Verhalten fördern.
All dies Negative schafft ein niederschmetterndes, bedrückendes Umfeld, in
dem unsere Kinder aufwachsen. Wir müssen ihnen eine zuträglichere Sicht des
Lebens bieten - mit Mitleid, Loyalität, Edelmut, Liebe und Schönheit. Genau
das tut die klassische Kultur.
Ein geordnetes Universum
Hochinteressant ist, daß die klassische Kultur nicht auf positive Emotionen
und Ereignisse begrenzt ist. Sie behandelt auch negative Gefühle und tragische
Situationen, weil sie das Herzeleid ebenso umfassen muß wie die Freude. Sie
muß eben für die Gesamtheit des menschlichen Befindens sprechen.
Aber sie führt diese negativen Situationen, wie düster sie auch erscheinen
mögen, in einer Sprache der Schönheit vor. Mozart hat das sehr schön erklärt,
er schrieb in einem seiner Briefe, die Musik könne große Tragödien und extreme
Gefühlszustände ausdrücken, aber dieser Ausdruck selbst dürfe niemals häßlich
werden. Die Sprache müsse musikalisch gemäßigt, organisch und logisch sein. So
schreibt Mozart eine Arie für eine komische Figur namens Osmin in seiner
Entführung aus dem Serail, der vor mörderischer Wut schäumt und brüllt,
und die Arie bringt das sicherlich auch zum Ausdruck, aber zusätzlich ist sie
sowohl sehr komisch als auch schön!
In Donizettis Lucia d Lammermoor wird die Heldin Lucia in der
Hochzeitsnacht wahnsinnig, weil man sie gezwungen hat, die Verlobung mit dem
Mann, den sie liebt, zu lösen, und einen Bräutigam zu heiraten, der ihrer
Familie politisch genehm ist. Diese berühmte „Wahnsinnsszene“ zeigt Lucia
außer sich vor Gram und höchst mitleidenswert. Wenn das gut gespielt wird, ist
es sehr bewegend. Aber die Orchesterbegleitung schreitet im wesentlichen in
gleichmäßigen viertaktigen Phrasen voran, und diese rationale, organische
Kompositionssprache wird eingesetzt, um die Wildheit des außer Kraft gesetzten
Verstandes auszugleichen und zu erlösen. Das Endresultat ist zutiefst bewegend
und wirklich schön. Ein Komponist außerhalb der klassischen Tradition hätte
Lucias zielloses Umherirren mit realistischer, schroffer Musik gemalt, was
wohl ihren erbärmlichen Zustand überzeugend beschrieben hätte, aber nur um den
Preis, daß keine schöne Musik hervorgerufen wird.
Ein anderes Beispiel für klassische „Erlösung“ zutiefst negativer Gefühle:
Denken Sie daran, wie Chopin tiefste Melancholie in fließende Lieblichkeit
verwandelt. Die klassische Tradition erlaubt uns, zu erkennen, daß das
Universum, wie es auch an der Oberfläche erscheinen mag, im Innern völlig
geordnet ist.
Das Anti-Klassische: Strawinsky
Vielleicht können wir ein deutlicheres Bild der klassischen Kultur
gewinnen, wenn wir uns mit etwas beschäftigen, was außerhalb davon steht, was
ihren Idealen entgegengesetzt ist. Ein größeres Werk, nach allgemein
übereinstimmender Einschätzung sogar das wichtigste und einflußreichste
Musikstück des 20. Jahrhunderts, ist Strawinskys Frühlingsopfer (Le
Sacre de Printemps). Es ist ein Ballett, das die Riten des alten,
heidnischen Rußland darstellt, was in dem Ritualmord an einem unschuldigen
Mädchen gipfelt. Das Opfer wird den grausamen heidnischen Göttern gebracht, um
eine gute Ernte sicherzustellen.
Für uns wäre es das Abstoßendste, was eine Gesellschaft tun kann, wenn sie
einen unschuldigen Bürger umbringt. Aber dieses Ballett spielt in einer
entlegenen Zeit des Primitiven und der barbarischen Finsternis, unberührt von
den Schranken der modernen Zivilisation und anderen religiösen
Überzeugungen.
Das Opfer dieses Sündenbocks ist somit in Wirklichkeit ein Opfer an die
Ignoranz und Furcht des barbarischen Stammes.
Nach allen ethischen Maßstäben sollte einen diese Geschichte abstoßen. Aber
so wird es überhaupt nicht dargestellt. Das Primitive war zu der Zeit, als
dieses Werk komponiert wurde, 1913, in Europa sehr in Mode, und es war in den
Künsten sehr verbreitet, allen voran bei Picasso. Das Primitive galt als
lebensstrotzend, bewundernswürdig, eine frische Brise.
Strawinsky schuf im Frühlingsopfer eine Welt verzaubernder Farben
mit radikal neuen Klängen, faszinierenden Harmonien und Rhythmen, die man nie
zuvor gehört hatte - alles, um den Hörer in die Atmosphäre einer uralten,
furchterregenden Gesellschaft zu locken, die bequemerweise frei von allen
Beschränkungen und jedem individuellen Gewissen war.
Es ist der Mensch als Masse in seiner abstoßendsten Form, gezwungen, an
Stammesbräuchen teilzunehmen, ein Vorfahr der schrecklichsten Formen des
mörderisch aggressiven Menschen als Masse unter dem Banner des
Nationalsozialismus und Kommunismus später im selben Jahrhundert.
Der kühnste Effekt des ganzen Stückes kommt am Ende, und das betrifft den
Rhythmus. Dazu ein kleiner Exkurs: „Rhythmus“ bezieht sich auf ein Schema von
Betonungen, welches die Erwartung schafft, daß dieses Schema sich wiederholen
wird. Das Schema erfordert Ausnahmen, Betonungen auf schwachen Taktzeiten und
gegen den Takt, sogenannte Synkopen, um für Abwechslung zu sorgen. Alle diese
Ausnahmen, diese Variationen und Abweichungen vom erwarteten Schema, bringen
Energie in die Musik. Für den Zuhörer muß das Schema häufig genug bekräftigt
werden, aber es muß auch genug Ausnahmen geben, damit Energie entsteht.
Ein Beispiel: Bei den großen Swing-Bands der 30er und 40er Jahre, in meiner
Jugend, sah man, wie die Spieler der verschiedenen Sektionen ständig mit Knien
und Füßen im Takt wippten, während sie dauernd Synkopen gegen den Takt
spielten, was in einem bewegten Tempo immer enorm viel Energie schuf, und auch
bei den Zuhörern starke, fröhliche Gefühle auslöste, so daß jedermann
aufstehen und tanzen wollte.
Bis zum letzten Teil von Strawinskys Frühlingsopfer, der Danse
Sacrale, ist das Publikum völlig im Bann der Rhythmen und vibriert damit. Aber
dann geschieht etwas Unerhörtes. Die immer mächtigeren Rhythmen werden so
unregelmäßig, daß das Publikum keinen Grundschlag mehr spüren kann, wie sehr
es sich auch bemüht. Jeder Sinn rhythmischer Erwartung und individueller
Kontrolle verschwindet. Wir alle werden hilflose Gefangene völlig unfaßbarer
Rhythmen, wenn das Opfer stirbt.
Diese Ästhetik begräbt die Individualität und macht das Publikum nicht bloß
zu Zuschauern, sondern zu willigen Komplizen des Ritualmords.
Die klassische Kultur hingegen fördert die Verantwortung des einzelnen und
ein tieferes Verständnis der Welt um ihn herum, im Gegensatz zu den tyrannisch
aufgezwungenen Bräuchen und Aberglauben primitiver Stammesgesellschaften.
Ich danke Ihnen.
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