Friedrich Schiller Denkmal
Friedrich Schiller



Hauptseite
       

Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Die Bedeutung von Schumanns Liederzyklus „Dichterliebe“

Interview mit John Sigerson, Musikalischer Direktor des Schiller-Instituts in den USA

    Dennis Speed: Welche Bedeutung hat Schumanns Liederzyklus Dichterliebe in der Musikgeschichte? Warum hast du dieses Werk ausgesucht, um es in der Konferenz des Schiller-Instituts in Manhattan am 7. April vorzutragen?

John Sigerson: Der Zyklus Dichterliebe ist nur eine der Früchte in dem Füllhorn von Robert Schumanns „Liederjahr“ 1840. In den Jahren davor hatte Schumann vor allem Klaviermusik komponiert, häufig Sammlungen von Stücken, die man auch Zyklen ohne Worte nennen könnte. In einem davon zitiert er sogar ausdrücklich das Eröffnungsthema eines der ersten wirklichen Liederzyklen, nämlich Beethovens An die ferne Geliebte, der 24 Jahre früher entstanden war. In der Zwischenzeit hatte der Beethoven-Bewunderer Franz Schubert seine beiden berühmten Zyklen Die schöne Müllerin und Winterreise komponiert.

Was jedoch Schumanns Dichterliebe besonders auszeichnet, das ist die unglaubliche Einheit der Wirkung, die er mit nur 16 Liedern erreicht, von denen einige nicht einmal eine Minute lang sind. Von der ersten Note im ersten Lied an - übrigens ein cis - gibt es eine ununterbrochene poetische Spannungskette, die nicht nachläßt, bis die letzte Note verklungen ist; interessanterweise ist das ein des, also auf dem Klavier die gleiche Note wie die erste, aber mit einer grundlegend veränderten Bedeutung, die den gesamten Zyklus zusammenhält.

Als man mich bat, auf der Konferenz zu singen, dachte ich gleich an einen Liederzyklus, nicht nur ein oder zwei Lieder, weil ich die Veranstaltung nicht mit entspannender Unterhaltung beenden wollte, sondern mit einer echten moralischen Herausforderung im Sinne des übergreifenden Zwecks der Konferenz. Dieser war nämlich, die Teilnehmer zu ermutigen, politische und moralische Verantwortung dafür zu übernehmen, daß die Menschheit nicht nur als Gattung überlebt, sondern auch eine lebenswerte Zukunft hat. In der Dichterliebe muß der Dichter bzw. Sänger sich in die dunklen Ecken seiner Seele begeben, bevor er schließlich im letzten Lied in der Lage ist, über sich selbst zu lachen und, wie es dort heißt, die „alten bösen Lieder zu begraben“.

    Speed: Die Dichterliebe wird häufig als Beispiel für die romantische Schule poetischer und musikalischer Komposition bezeichnet. Warum betonst du, daß es in Wirklichkeit eher das genaue Gegenteil ist?

Sigerson: Nun, dazu sollte man als erstes verstehen, daß die Musik, anders als es die Geschichtsbücher sagen, nicht in „Perioden“ geteilt ist, die sich durch verschiedene „Stile“ auszeichnen. Wie Friedrich Schiller in seiner berühmten Antrittsvorlesung über die Universalgeschichte erklärt, ist die Geschichte nicht bloß eine Abfolge von Perioden oder Ketten von Ereignissen, sondern sie ist das Zeugnis eines jahrtausendelangen Kampfes zwischen dem schöpferischen Impuls des Menschen, der ihn grundsätzlich von den Tieren unterscheidet, auf der einen Seite, und auf der anderen Seite den oligarchischen Institutionen und Individuen, die darauf bestehen, daß der Mensch im Grunde nur ein Tier ist, also seine Kreativität eingedämmt werden muß, sobald sie diese Institutionen bedroht.

Deshalb ist die klassische Musik kein Stil, sondern, wie Lyndon LaRouche es nennt, eine „Weltanschauung“, deren oberste Priorität die menschliche Kreativität ist. Sie ist ein Mittel, den Menschen zu veredeln, ihn froher und produktiver zu machen, indem er universelle Prinzipien - Prinzipien eines sich entwickelnden, lebenden Universums - entdeckt und beherrscht.

Der Poet Heinrich Heine, der den Text der Dichterliebe gedichtet hat, entwickelte sich selbst zu einem Gelehrten dieser Weltanschauung, und in seinem größeren Werk Die Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland weist er darauf hin, daß die „Romantische Schule“ in Wahrheit von dem Philosophen Immanuel Kant hervorgebracht wurde, der behauptete, wahre Kreativität sei im Grunde nicht wißbar, und Menschen seien notwendigerweise Sklaven ihrer Emotionen, die nur durch gesellschaftliche Regeln oder Maximen eingeschränkt würde. Mit anderen Worten, der Mensch sei im wesentlichen ein dressierbares Tier.

Schumann kannte und schätzte nicht nur Heines Gedichte, sondern auch seine politischen und philosophischen Schriften, und wenn man Heines Gedichte und Schumanns Vertonungen richtig versteht, wird sich bestätigen, daß es hier um nicht weniger als um diesen grundsätzlichen Konflikt geht, den ich gerade beschrieben habe.

Metapher und Ironie

    Speed: Lyndon LaRouche betont besonders das Polemische dieser Musik, er sagt, wenn die Aufführung gut und das Publikum aufmerksam ist, dann wird es mit Lachen oder mit großer Irritation reagieren, aber nicht gleichgültig bleiben.

Sigerson: Nun, wenn es nur polemisch wäre und sonst nichts, dann wäre es keine Kunst. Genauer läßt es sich vom Standpunkt der Metapher her betrachten, d.h. der ironischen Gegenüberstellung von Elementen, die „im Kleinen“ scheinbar nicht zusammenpassen, die aber eine Bewegung oder besser eine Emotion erzeugen, die zur Entdeckung einer höheren moralischen Wahrheit hinführen. Und wie Schiller betont, muß all das in Schönheit gekleidet sein, weil man in gewissem Maße die Häßlichkeit des Alltags ausblenden muß, um die Seelen der Menschen zu erheben.

Diese Art der Metapher ist das Prinzip hinter J.S. Bachs Kontrapunkt, den viele seiner Zeitgenossen sehr abstoßend fanden und der von der heutigen sog. Popularmusik völlig abgelehnt wird. Aber nicht nur das: Selbst die beste Musik von Bach, Beethoven, Schubert, Schumann und Brahms verliert völlig ihre „Schlagkraft“, wenn sie mit einer anderen Einstellung aufgeführt wird. Deshalb ist ein so großer Teil der Aufführungen, die heute unter die Rubrik Klassik fallen, so geisttötend langweilig.

Im 20. Jahrhundert gab es eine Person, die das gut verstand und sich deshalb einigen Ärger einhandelte, der Dirigent und Komponist Wilhelm Furtwängler. Für ihn existierte keine Trennung zwischen dem sich entwickelnden Universum und dem denkenden, kreativen menschlichen Geist. Seine Musik war so beeindruckend, daß sogar Adolf Hitler Angst vor ihm hatte.

    Speed: Schumann und Heine waren befreundet, ebenso wie mit Felix Mendelssohn, dessen Schwester Fanny und einigen anderen, die die Künstlergruppe bildeten, die Schumann die „Davidsbündler“ nannte. Was bringt die Dichterliebe als Projekt über ihre Weltsicht zum Ausdruck? Gab es weitere Werke dieser Art, von Schumann und Heine oder anderen?

Sigerson: Ja, das war ein ausgedehnter Kreis von Freunden und Mitarbeitern, zu dem übrigens auch Friedrich List gehörte, der Ökonom des Amerikanischen Systems, der einige Jahre Schumanns Nachbar in Leipzig war. Dann tauchte eines Tages der junge Johannes Brahms vor Schumanns Türe auf und wurde ebenfalls Teil der Familie. Zusammen mit Schumanns Ehefrau Clara widmeten sie alle ihr Leben der Musik, bzw. der Kommunikation tiefgehender Gedanken und Prinzipien. Sie waren strikte Gegner von Musik, welche nur neuartige Effekte bietet, wie sie von den oligarchischen Kreisen jener Zeit gefördert wurde, mit ihren ersten „Rockstars“ wie dem Geigenakrobaten Niccolo Paganini und dem Klavierzertrümmerer Franz Liszt.

Und was andere Werke angeht, da gibt es natürlich viele! Ein anderes meiner Lieblingsstücke ist Schumanns allererster Liederzyklus, sein Opus 24, ebenfalls eine Reihe von Vertonungen dessen, was Heine gern seine „kleinen giftigen Gedichte“ nannte. Ein anderer Dichter, von dessen Werken Brahms viele vertonte, war Eduard Mörike, der weniger bekannt ist, der aber zu Helga Zepp-LaRouches Lieblingsdichtern gehört. Und Brahms liebte es besonders, sich eines Stückes zweitrangiger romantischer Dichtung anzunehmen und es streng klassisch zu behandeln. Sein Liederzyklus Die schöne Magellone ist dafür ein gutes Beispiel.

Und ich möchte hinzufügen, daß Furtwängler manchmal das gleiche tat: das berühmteste Beispiel ist seine Aufnahme von Tschaikowskis 6. Sinfonie, der Pathétique, aus dem Jahr 1938. Als der junge Lyndon LaRouche diese Aufnahme hörte, als er gerade am Ende des Zweiten Weltkriegs in Indien stationiert war, war er überwältigt davon, wie Furtwängler es schaffte, das Werk komplett von allen „seifenopernartigen“ Elementen zu befreien und es durch ironische Gegenüberstellungen auf die Ebene des Klassischen im Schillerschen Sinn zu erheben.