Europa muß die Chancen der Neuen Seidenstraße ergreifen
Die Essener Konferenz des Schiller-Instituts befaßte sich mit
der Notwendigkeit, mit der Geopolitik zu brechen, Afrika zu entwickeln und
wieder auf moderne Technik zu setzen.
Die Perspektiven, die sich durch Chinas Programm der Neuen Seidenstraße für
Deutschland und Europa eröffnen, waren das Thema einer Konferenz des
Schiller-Instituts, die am 21. Oktober mit rund hundert Teilnehmern im Essener
„Haus der Technik“ stattfand. Dazu konnte das Schiller-Institut auch den
Gesandten der chinesischen Botschaft in Berlin, Zhang Junhui, als Redner
begrüßen. Er sprach über den Fortschritt der Neuen Seidenstraße und über den
Wunsch der chinesischen Regierung, dabei enger mit Deutschland
zusammenzuarbeiten, zumal beide Länder die größten Volkswirtschaften an den
beiden Enden der Seidenstraße sind.
Eröffnet wurde die Konferenz von der Vorsitzenden des Schiller-Instituts,
Helga Zepp-LaRouche, später sprach der französische Präsidentschaftskandidat
Jacques Cheminade. Beide betonten, Europa müsse Imperialismus und Geopolitik
aufgeben, und Frankreich und Deutschland sollten am politischen und
wirtschaftlichen Erbe de Gaulles und Adenauers anknüpfen, die die
jahrhundertelangen Kriege und Konkurrenz zwischen beiden Ländern beendeten,
indem sie sich auf Kooperation im Interesse beider Seiten konzentrierten.
Im weiteren Verlauf der Diskussion wurde deutlich, daß Europas Mission
heute darin bestehen muß, zusammen mit China die wirtschaftliche Entwicklung
Afrikas sicherzustellen. Zepp-LaRouche betonte, besonders der deutsche
Mittelstand könne vom Seidenstraßenprogramm „Ein Gürtel, eine Straße“
profitierten, weil diese Unternehmen den Großteil der Innovationen
erschaffen.
Deutsche Experten für Technik, Infrastruktur und Industrie zeigten auf,
warum Deutschland eine Industrienation und führend in Forschung und Innovation
bleiben muß. Sie unterstrichen die verheerenden Folgen des Industrieabbaus und
der mangelnden Investitionen in die Infrastruktur.
China, Europa und die Neue Seidenstraße: Harmonie der Interessen
Helga Zepp-LaRouche begann ihren Vortrag mit einem Überblick über die
aktuellen Gefahren, aber auch die sehr reale Chance eines ganz neuen
Paradigmas auf der Welt, das Präsident Xi als erster vorgeschlagen hat und das
seither von immer mehr Nationen angenommen wird. Die Neue Seidenstraße sei das
größte Industrie- und Infrastrukturprogramm der Geschichte, und Europa dürfe
die Chance der Beteiligung daran nicht verstreichen lassen. Tatsächlich beruhe
Chinas „Wirtschaftswunder“ der letzten 40 Jahre auf den gleichen
realwirtschaftlichen Prinzipien wie das deutsche Wirtschaftswunder der
Nachkriegszeit, die u.a. auf Alexander Hamilton, Friedrich List, Matthew und
Henry Carey zurückgehen.
Diese Prinzipien kommen darin zum Ausdruck, wie China 700 Millionen
Menschen aus der Armut befreit hat. Die Neue Seidenstraße, betonte
Zepp-LaRouche - wie schon zwei Tage zuvor bei der Schwesterkonferenz im
französischen Lyon -, sei mehr als eine Ansammlung von Verkehrsprojekten,
vielmehr hebt die verbesserte Infrastruktur die gesamte Volkswirtschaft der
beteiligten Staaten, darunter landeingeschlossene Länder Asiens, auf eine
höhere Ebene. (Den Text ihres Essener Vortrages finden Sie auf den Seiten
5-7.)
Prof. Shi Ze vom Chinesischen Institut für Internationale Studien gehörte
ebenfalls sowohl in Lyon als auch in Essen zu den Hauptrednern. Er betonte,
die Beteiligung an der Neuen Seidenstraße stehe allen Ländern offen, auch in
Europa, niemand werde diskriminiert. Inzwischen sei die Neue Seidenstraße
keine bloße Idee mehr, wie in dem Augenblick, als Präsident Xi sie verkündete,
sondern sie befinde sich mitten in der Verwirklichung. Dabei herrsche der
Grundsatz „Harmonie in der Vielfalt“ - eine Zusammenarbeit zwischen
verschiedenen Kulturen und Zivilisationen, die allen Beteiligten nutzt.
Deutschland sei Chinas wichtigster Handelspartner in Europa, 2015 erreichte
der gegenseitige Handel ein Volumen von 163 Mrd. Euro, und 1700 chinesische
Unternehmen sind in Deutschland präsent.
Die Stärken bei der Kooperation liegen im internationalen Austausch und im
Produktionssektor. Chinesische Effizienz mit deutscher Wertarbeit zu verbinden
und das „Made in China“ mit „Made in Germany“ in Einklang zu bringen - das sei
das Ziel der Seidenstraßenpolitik. Der Bau von Straßen und Pipelines und die
Modernisierung der Landwirtschaft entlang der gesamten Seidenstraße schaffe
Chancen für die deutschen Unternehmen. China wolle auch die langen Erfahrungen
Frankreichs und Deutschlands mit der Urbanisierung nutzen, während 75% der
europäischen Bevölkerung in städtischen Zentren leben, sind es in China nur
52,6%.
Shi, der seit mehreren Jahren in Europa und in China eng mit dem
Schiller-Institut zusammenarbeitet, dankte dem Institut ausdrücklich für seine
Bemühungen zur Förderung der Seidenstraße und des Dialogs der Kulturen.
In Bezug auf die Kultur verwies Helga Zepp-LaRouche besonders auf die
Übereinstimmungen der konfuzianischen Tradition in China, die heute wieder
systematisch gefördert wird, mit den Höhepunkten der europäischen Kultur, wie
sie Nikolaus von Kues beispielhaft verkörperte. Es sei jetzt dringend
notwendig, die multilateralen Beziehungen auf dieser Ebene zu etablieren und
sich von dem bisher vorherrschenden Konfrontationskurs abzuwenden.
Europas Aufgabe, Afrika zu entwickeln
Über die Realität vor Ort in Afrika und die Bedeutung von Chinas Programm
„Gürtel und Straße“ für den Kontinent sprach der äthiopische Generalkonsul aus
Frankfurt/Main, Mehreteab Mulugeta Haile. Er gab einen umfassenden Überblick
über die auf Infrastrukturaufbau gestützte wirtschaftliche
Entwicklungsstrategie, die sein Land seit 25 Jahren mit erstaunlichem Erfolg
vorantreibt.
China liefert Äthiopien dabei entscheidende Unterstützung, u.a. durch
zinsgünstige Kredite. Dank chinesischer Unternehmen und Kooperationsabkommen
wurde gerade am 5. Oktober die erste Bahnstrecke zwischen der Hauptstadt Addis
Abeba und dem Hafen Dschibuti eröffnet, womit sich der Transport äthiopischer
Im- und Exporte von sieben Tagen auf nur noch zehn Stunden verkürzt. Dies ist
nur das erste Teilstück eines geplanten landesweiten Bahnnetzes, das Äthiopien
mit allen Nachbarstaaten verbinden soll. Chinas Unterstützung bei anderen
Infrastrukturprojekten, u.a. zur Stromerzeugung, verschafft nicht nur
Äthiopien Vorteile, sondern trägt auch durch Vernetzung zur Integration der
Volkswirtschaften der Region bei.
Die Diskussion nach Konsul Mehreteabs Vortrag drehte sich insbesondere
darum, daß Europa gemeinsam mit China zur Entwicklung Afrikas beitragen muß,
da dies die einzige Möglichkeit ist, die starke Migrationswelle nach Europa -
die viele Todesopfer fordert - zu beenden.
Jacques Cheminade erklärte auf Prof. Shis Anregung hin, Frankreich und
Deutschland müßten sich dies zur gemeinsamen Aufgabe machen. Helga
Zepp-LaRouche fügte hinzu, man solle auch Italien prominent einbeziehen, zumal
Regierungschef Matteo Renzi kürzlich die Neue Seidenstraße unterstützte und
sich gegen neue Rußland-Sanktionen stellt. Shi Ze schlug vor, da es bisher
noch keine institutionelle Zusammenarbeit gebe, zur Förderung dieser neuen
Orientierung einen geeigneten neuen Mechanismus einzurichten.
Generalkonsul Mehreteab unterstützte die Vorschläge nachdrücklich. Afrika
habe kein Interesse mehr an „Entwicklungshilfe“, die unter dem Vorwand von
„Menschenrechten“ etc. an politische Bedingungen geknüpft wird. Afrika brauche
Kapitalinvestitionen, Technologietransfer und Infrastrukturinvestitionen. Er
zitierte das alte Sprichwort: „Gebt uns keinen Fisch, bringt uns lieber das
Fischen bei.“ Europa solle Chinas Beispiel folgen, das Investitionen,
Technologie und günstige Kredite zu international üblichen Bedingungen
bereitstelle.
Dagegen leihen IWF und Weltbank, wie Zepp-LaRouche betonte, Ländern der
Dritten Welt nur Geld, um Schulden im internationalen Bankensystem zu
bezahlen, anstatt in reale Projekte für wirtschaftliches Wachstum zu
investieren.
Cheminade erinnerte daran, daß bereits ein vordringliches Projekt auf dem
Tisch liegt, zu dessen Finanzierung und Verwirklichung Europa und China viel
beitragen können, nämlich die Wiederauffüllung des Tschadsees. Die beste
Methode dafür sei das Transaqua-Projekt zur Umleitung eines kleineren Teils
des Wassers im Kongobecken in den Tschadsee. Die Konferenzteilnehmer brachten
zum Ausdruck, daß sie sich dafür einsetzen werden, dieses Vorhaben bald zu
verwirklichen.
Eine kräftige Portion Technikbegeisterung
Die Essener Zuhörer genossen eine willkommene Auszeit von der technik- und
industriefeindlichen „grünen“ Ideologie, die in der deutschen Öffentlichkeit
vorherrscht. Die vier weiteren deutschen Redner neben Helga Zepp-LaRouche
befaßten sich damit, wie Deutschland am Aufbau der Neuen Seidenstraße
mitwirken und gleichzeitig selbst vom neuen Paradigma profitieren kann.
Prof. Reinhart Poprawe, Direktor des Fraunhofer-Instituts für Lasertechnik
an der Technischen Universität Aachen und Ehrenprofessor der
Tsinghua-Universität in Beijing, erläuterte den raschen Wandel in Chinas
Wirtschaft. China ist heute nicht mehr der Hauptproduzent von Billigwaren für
die Welt, sondern macht sehr schnelle Fortschritte in verschiedenen
Pionierbereichen der Forschung, wo es Deutschland, Japan und die USA eingeholt
hat. Poprawe zufolge ist Deutschland mit seinem Programm „Industrie 4.0“ in
einer guten Ausgangsposition, um mit Chinas ehrgeizigem Programm „China 2020“
zu kooperieren.
Prof. Dieter Ameling, ehemaliger Präsident der Wirtschaftsvereinigung
Stahl, der etliche hohe Positionen in der deutschen Stahlindustrie innehatte,
beschrieb die Perspektive einer engen Zusammenarbeit zwischen der Eisen- und
Stahlindustrie in Deutschland und China, das inzwischen ein großer
Stahlerzeuger geworden ist. Ameling warnte aber auch eindringlich, wenn die
deutsche Regierung ihre energiefeindliche Politik beibehalte, werde die
energieintensive Industrie in andere Länder abwandern, wo der Strompreis nicht
durch eine „Energiewende“ künstlich überteuert wird. Heute koste der Strom in
Deutschland schon doppelt soviel wie in den USA und 50% mehr als in
Frankreich. Er kritisierte auch polemisch die verbreitete Sichtweise, die
CO2-Emissionen seien am Klimawandel schuld.
Prof. Reinhold Meisinger von der Technischen Hochschule Nürnberg, der auch
seit vielen Jahren an der Tongji-Universität in Shanghai tätig ist, berichtete
ausführlich über die revolutionäre Magnetbahntechnik des Transrapid, die in
Deutschland entwickelt wurde und in Shanghai kommerziell genutzt wird, in
Deutschland aber praktisch aufgegeben wurde. Ein Teil der neuen
Schnellbahnstrecken in China sei so angelegt, daß zukünftig darauf auch
Magnetbahnen verkehren können. Allerdings wäre der Stromverbrauch eines
landesweiten Magnetbahnnetzes in China viel zu hoch für „erneuerbare“
Energien, deshalb baue China seine Stromerzeugung aus Wasser- und Kernkraft
stark aus. Seine fortgeschrittenen Studenten an der Tongji-Universität hätten
den brennenden Wunsch, neue Magnetbahnen zu konstruieren, die in der Zukunft
in China fahren sollen, berichtete Meisinger.
Willy Pusch berichtete von dem Projekt der von ihm vertretenen
„Bürgerinitiative im Mittelrheintal gegen Umweltschäden durch die Bahn e.V.“
für einen Güterbahntunnel zur Umgehung des Mittelrheintals, eines wesentlichen
Teils der Bahnstrecke Rotterdam-Genua. Der vorgeschlagene 118 km lange
Westerwald-Taunus-Tunnel - doppelt so lang wie der neue Gotthardtunnel in der
Schweiz - könnte bis zu viermal mehr Fracht bewältigen als die heutige, sehr
alte Bahnstrecke. Gleichzeitig wäre es eine enorme Entlastung der Bürger im
Rheintal zwischen Bonn und Mainz, die vor allem nachts unter dem
unerträglichen Lärm der Güterzüge leiden.
Musikalisch eingeleitet wurden die beiden Sitzungen der Konferenz vom Gu
Feng Ensemble, bestehend aus den chinesischen Musikerinnen Lini Gong (Gesang),
Ya Dong (an der Pipa, der chinesischen Laute) und Zhenfang Zhang (an der Erhu,
der chinesischen Spießgeige), die mehrere traditionelle chinesische
Instrumentalstücke und Lieder vortrugen: Jin she kuang wu („Tanz der goldenen
Schlange“), Mo li hua („Jasminblüte“), Xiao beilou („kleiner Tragekorb“) und
Song wo yizhi meiguihua (Schenk mir eine Rose). Höhepunkt ihrer Darbietungen
war Franz Schuberts „Ständchen“, das für diese Konferenz eigens für die
Begleitung durch die chinesischen Instrumente arrangiert worden war und zum
ersten Mal in dieser Form aufgeführt wurde - eine praktische Vorführung des
Dialogs der Kulturen, den die Verwirklichung der Neuen Seidenstraße fördern
soll.
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