Friedrich Schiller Denkmal
Friedrich Schiller



Hauptseite
       

Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Chinas Konfuzius-Offensive

Eine Herausforderung für die Wissensgesellschaft des Westens

Von Manfred Osten

Der folgende Aufsatz wurde uns vom Autoren freundlicherweise zur Verfügung gestellt, er erschien ursprünglich in der Zeitschrift „Die Politische Meinung“ (Nr. 464, Juli 2008, S. 41-46. Manfred Osten war von 1995 bis 2004 Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung.

Hatte der Universalgelehrte Leibniz recht, als er 1692, also vor über 300 Jahren, seinen Korrespondenzpartner in Peking, den Jesuitenpater Grimaldi, mit den Worten ermahnte: „Sie bringen den Chinesen unsere Fähigkeiten. Ich brauche Sie jedoch nicht zu ermahnen, daß die Unseren ihre Überlegenheit nicht völlig einbüßen […] damit die Chinesen […] nicht die Europäer eines Tages verlachen und als ferner nicht mehr notwendige Leute vor die Türe setzen.“

Seltsam aktuelle Worte, wenn man bedenkt, daß China seit Deng Xiaoping (also seit 1978) unaufhörlich Reformen in Richtung Kapitalismus auf den Weg gebracht hat. Und dies in einer notorischen Händlernation, die inzwischen eindeutig zu den Globalisierungsprofiteuren zählt. Denn China verfügt heute über jene drei großen Parameter, die die Wirtschaft boomen lassen wie in keinem anderen Land der Welt: Erstens Kapital, das in China inzwischen investiert ist unter anderen durch westliche Unternehmer und reiche Überseechinesen, vor allem aus Hongkong und Taiwan - China verfügt auf diese Weise inzwischen über Devisen in Höhe von rund 1000 Milliarden US-Dollar und hat Japan als den bislang größten Gläubiger der USA überflügelt;1 zweitens Arbeitskraft - 700 bis 800 Millionen Chinesen sind zurzeit noch bereit, für zwei Dollar pro Tag zu arbeiten. Und drittens Know-how: Zehntausende Chinesen, die unter anderem als Absolventen amerikanischer Eliteuniversitäten bereits in Silicon Valley wirtschaftlich erfolgreich waren, kehren jetzt nach China zurück. In ein Land, das praktisch kaum den Schutz von Urheber- und Patentrechten im westlichen Sinne kennt.

Umfassendes Know-how

Und es ist dieser bei uns im Westen bislang nur wenig wahrgenommene Know-how-Bereich, über den heute gesprochen werden soll. Denn das moderne China besinnt sich jetzt - nach den intellektuellen und wirtschaftlichen Verwüstungen der Kulturrevolution unter Mao Tse-tung (1966 bis 1977) und im Namen übrigens einer aus Deutschland importierten Ideologie - auf seinen einzigartigen kulturellen Vorteil. Nämlich die Tatsache, daß es die älteste und singuläre Hochkultur der Welt ist, die nicht unterging oder zu einem kleinen heutigen Staat erodierte wie zum Beispiel die Hochkulturen Ägyptens oder Griechenlands.

Das heißt, China (zusammen mit Indien) ist auf dem Wege, nicht nur die internationalen Wirtschaftsbeziehungen seit Jahren zu verändern und den Westen immer stärker unter Reformdruck zu setzen. China beginnt inzwischen auch jene Domäne zu seinen Gunsten zu verändern, in der sich der Westen bislang als überlegen betrachtet hat: den Know-how- Bereich der Bildung, Wissenschaft, Forschung und Hochtechnologie.

Europa betrachtet diese Umwälzungen bislang leider nur aus der Zaungast-Perspektive. Im Strategiepapier der Bundesregierung zur Zielsetzung der deutschen EU-Präsidentschaft, das derzeit unter Diplomaten zirkuliert, taucht zum Beispiel das Wort Asien nicht ein einziges Mal auf! Obgleich sich China inzwischen öffentlich zu einer Renaissance jener bis heute ungebrochen wirkmächtigsten Staats- und Gesellschaftslehre bekannt hat, die in Ostasien seit über 2500 Jahren unter dem Namen Konfuzianismus lebendig ist. Eine Staats- und Gesellschaftslehre, die in China mit dem allgemein präsenten Bewußtsein verbunden ist, daß es noch bis zum 17. Jahrhundert die technologisch fortschrittlichste Nation der Welt war. Diesen Status gilt es jetzt wieder zu erreichen durch Rückgriff auf eine 2500 Jahre alte Erkenntnis des Philosophen Konfuzius: daß nämlich das Lernen, daß die Bildung das höchste Gut ist in einem rohstoffarmen Land.

Intellektuelle Renaissance

Konkret bedeutet dies, daß China zurzeit eine intellektuelle Renaissance erlebt, die durchaus vergleichbar ist mit der Aufbruchstimmung der europäischen Renaissance im 16. Jahrhundert. Denn in China - mit demnächst 1,4 Milliarden Menschen - haben in den letzten 20 Jahren von 250 Millionen Grundschülern über fünf Millionen die horrend schwierigen Aufnahmeprüfungen an den Universitäten bestanden. Ein gnadenloses Aufnahmeverfahren rekrutiert auf diese Weise ein ständig wachsendes Heer gut ausgebildeter Arbeitskräfte. China hält hierbei weltweit auch den Rekord an Studenten, denen ein Studium im Ausland ermöglicht wurde. Dies gilt vor allem für Studierende in den USA und in Großbritannien, wo Chinesen schon seit Jahren den größten Anteil an ausländischen Studierenden stellen.

China hat diese Entwicklung gefördert und genau verfolgt. Und es beginnt jetzt, seit etwa zehn Jahren, diese Auslandsstudenten wieder an China zu binden durch massives Werben mit Fördermöglichkeiten im Inland. China ist hierbei erfolgreich auf dem Wege, den akademischen Braindrain, vor allem nach den USA, umzukehren: Von den 600.000 chinesischen Auslandsstudenten der letzten 20 Jahre sind inzwischen fast 200.000 nach China zurückgekehrt als sogenannte hai gui. Wobei hai das chinesische Wort für das Meer ist. Und gui steht für Zurückkehren, aber auch für die Schildkröte. Womit sich die Vorstellung verbindet, daß der an chinesischen Ufern geborene Nachwuchs im amerikanischen Meer aufwächst, um dann ans Heimatufer zurückzukehren. Mit dem Zusatz, daß zahlreiche chinesische hai gui inzwischen immer wieder auch kurzfristig in die USA zurückkehren, um die neuesten Forschungsergebnisse dann nach China zu transferieren. Das bekannteste staatliche Werbeprogramm für die Rückgewinnung dieser akademischen Meeresschildkröten ist das sogenannte Hundred Talents Program, das den im Ausland befindlichen chinesischen Eliten unter anderem höhere Gehälter, eine Wohnung und bis zu 200.000 Euro für das Zusammenstellen von Forschungsteams anbietet. Wobei es das vorrangige Ziel chinesischer Eliteuniversitäten ist, Ergebnisse der Grundlagenforschung rasch umzusetzen und akademische Eliteforscher in erfolgreiche Unternehmer zu verwandeln. Auch dies geschieht inzwischen mit großem Erfolg zahlreicher Spin-off-Unternehmen.

In diesem Zusammenhang sei auch hingewiesen auf die Alexander-von-Humboldt-Stiftung in Bonn, die inzwischen zunehmend mehr Stipendien für einen Forschungsaufenthalt in Deutschland an junge chinesische Elitewissenschaftler verleiht, da diese sich qualitativ und quantitativ gegenüber Stipendienbewerbern aus anderen Nationen immer wieder erfolgreich durchsetzen.

Das Ergebnis ist jedenfalls eine rapide wachsende Wissensgesellschaft in einem Land, das inzwischen noch einen weiteren Weltrekord im Know-how-Bereich aufweisen kann. In keinem anderen Land steigen zurzeit so sprunghaft die privaten Bildungsausgaben und -rücklagen wie in China. Nach Expertenschätzungen gaben chinesische Eltern über 90 Milliarden Dollar aus für die Ausbildung ihrer Kinder. Über 50 Prozent chinesischer Teenager gaben nach jüngsten Meinungsumfragen eine erfolgreiche Karriere als höchstes Lebensziel an.

Förderung im Kindesalter

Die Leistungs- und Motivationsgrundlagen für diese ehrgeizigen Zielsetzungen werden in China - anders als im Westen - bewußt im frühestmöglichen Kindesalter - also in der Zeit größtmöglicher Plastizität des menschlichen Gehirns - gelegt. Das heißt, es gilt bereits bis zum dritten und vierten Lebensjahr mehrere Hundert chinesischer Ideogramme zu beherrschen, um die Aufnahmeprüfung für einen guten, nach Möglichkeit privaten Kindergarten zu bestehen. Denn der Trend weg vom staatlichen zum privaten Kindergarten setzt sich in China unvermindert fort. Entsprechend teure Kindergartenplätze werden ohne Zögern bezahlt - nach Angaben amerikanischer Unternehmen sogar in einigen Fällen bis zu 10.000 Dollar im Jahr.

Diese sehr frühe Förderung ist in China inzwischen routinemäßig verbunden mit gezieltem frühkindlichen Erwerb englischer Sprachkenntnisse und einer starken Ausbildung musischer Kompetenz vor allem durch Ballett- und Klavierunterricht. Dieser hohe intellektuelle Wettbewerbsdruck setzt sich von der Kindheit an fort und kulminiert in den dreitägigen rigorosen Aufnahmeprüfungen der Universitäten. Eine Prüfungstradition, die zum festen Kanon des Konfuzianismus spätestens seit der Han-Zeit (seit zweihundert Jahren vor Christus) zählt. Seit Jahrtausenden hatten in China auf diese Weise junge Menschen auch aus der Provinz die Chance, aufzusteigen in die Sphären der kaiserlichen Macht und Verwaltung.

So, wie bei den Herausforderungen Chinas als Wirtschaftsmacht der Einwand naheliegt, daß diese Entwicklung konterkariert werden könnte unter anderem durch große ökologische und soziale Probleme, so sehr liegt gegenüber dem chinesischen Lern- und Erziehungsdrill auch der Einwand nahe, daß es sich hierbei um ein stark hierarchisches System mit möglichen Streßfolgen und geringem kreativen Reflexionsvermögen handelt. Aber auch diesem Einwand, der letztlich für die gesamte konfuzianisch geprägte Region Asiens gilt, begegnet China bereits seit Ende der 1990er Jahre mit einem umfassenden und gezielten Bildungsreform-Programm. Es ist geplant, die erkannten Nachteile bis spätestens 2010 zu korrigieren durch neue Curricula, neue Schulbücher und stärker diskurs- und dialogorientierten Englischunterricht unter der Mitwirkung angelsächsischer Reformpädagogen.

Studium in China

Ähnlich ehrgeizige reform-orientierte Lehrpläne unter Mitwirkung ausländischer Professoren verfolgen bereits seit einiger Zeit die beiden Eliteuniversitäten mit Vorbildfunktion für weitere 30 Spitzenuniversitäten des Landes: die Beida- und die Tsinghua-Universität in Peking. Beide Universitäten folgen dem Prinzip amerikanischer Eliteuniversitäten und damit auch letztlich der Denkschrift Wilhelm von Humboldts: daß ein für die akademische Elitebildung optimales Zahlenverhältnis angestrebt werden sollte von einem Professor mit wenig mehr als zehn Studenten. Mit der Folge, daß jährlich unter riesengroßem Andrang nur 2000 Studenten in die Tsinghua-Universität und 3000 Studenten in die Beida-Universität aufgenommen werden. Geplant ist außerdem durch das sogenannte Projekt 211 des Bildungsministeriums von 1993, die Zahl der bisherigen Eliteuniversitäten um weitere 100 Schwerpunktuniversitäten zu erweitern. Sie alle sind konzipiert nach dem Vorbild der Harvard University in Boston und sollen im Laufe des 21. Jahrhunderts zu den besten Universitäten der Welt zählen.

Das Studium an den chinesischen Eliteuniversitäten wird seit etwa einem halben Jahrzehnt noch ergänzt durch eine Springflut von MBA (Master of Business Administration)-Programmen mit nahezu 200 post-universitären Studiengängen. Ein karriereförderndes Zusatzstudium mit nicht unerheblichen Kosten (maximal 20.000 Euro), dem sich inzwischen weit über 10.000 chinesische Akademiker unterwerfen. Die effizienteste und nachhaltigste Ergänzung dieser akademischen Eliteförderung und Forschung repräsentiert die Akademie der Wissenschaften mit dem ehemaligen Forschungsstipendiaten der AvH-Stiftung Yongxiang Lu an der Spitze. Als Präsident gehört er mit einem 700 Mitglieder umfassenden Gremium zu den wissenschaftlichen Vordenkern der scientific community Chinas. Ein in jedem Betracht elitärer Zirkel mit insgesamt 120 Instituten, 20.000 Forschern und 60.000 Beschäftigten. Es gilt ausschließlich das Leistungsprinzip, die Mehrheit der Beschäftigten ist unter 45 Jahre alt, und statt der üblichen dauernden Mittelkürzungen westlicher Forschungsinstitute haben sich inzwischen die staatlichen Zuschüsse in den letzten Jahren verdoppelt - ganz abgesehen von Gewinnen, die der Akademie aus erfolgreichen Spinn-off-Unternehmen zufließen.

Höchste Priorität des Lernens

Man muß die eben erwähnten - bei uns wenig bekannten - Hintergrundinformationen zur Know-how-Entwicklung in China kennen, um ermessen zu können, welche kultur- und bildungspolitischen Dimensionen sich seit Anfang 2006 hinter einer außenkulturpolitischen Initiative Chinas verbergen. Die Rede ist von der geplanten Errichtung von über 100 Konfuzius-Instituten weltweit bis 2010. Sie sind mitkonzipiert als Wegbereiter chinesischen Denkens unter anderem im Sinne jener bereits erwähnten höchsten Priorität des Lernens, die seit 2500 Jahren das geistige Rückgrat der chinesischen Hochkultur bildet. Als geistiges Transmissionsband soll hierbei das Erlernen der chinesischen Sprache dienen mit der Zielsetzung, daß 2010 über 100 Millionen Menschen außerhalb Chinas die chinesische Sprache erlernen sollen. Inzwischen hat im April 2006 auch das erste Konfuzius-Institut in Deutschland bereits seine Tore in Berlin geöffnet. Inzwischen hat sich die Zahl der in Deutschland eröffneten Konfuzius-Institute auf sieben erhöht, und zwar an der FU Berlin, an den Universitäten Erlangen/Nürnberg, Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg, Leipzig und im Chinesischen Zentrum Hannover e. V. Vier weitere Konfuzius-Institute sollen in Kürze eröffnet werden, und zwar in Trier, Duisburg, Heidelberg und Freiburg.2

Und Konfuzius? Kann er als Namenspatron seiner Institute im Westen auf eine Renaissance hoffen? Wenn Goethe im dritten Buch des Wilhelm Meister bemerkt, daß jedes Staatswesen auf dem Familienwesen gründet, so entspricht diese Einsicht grundsätzlich auch der Sozial- und Staatslehre des Konfuzius, die ihrerseits konsequent auf den Gesetzen eines familienbezogenen Gemeinsinns ruht. Da im Westen - aus politischen und ideologischen Gründen - die sozialen Tugenden der Familie inzwischen weitgehend an den (zunehmend zahlungsunfähigen) Wohlfahrtsstaat delegiert worden sind, hat der Konfuzianismus möglicherweise die Chance, dem Westen auf diesem Feld neue Optionen anzubieten.

Besonders überzeugend erweist sich jedenfalls in China - wie bereits angedeutet - der familien- und nachwuchsbezogene Gemeinsinn im Bereich der Bildung mit der höchsten konfuzianischen Priorität des Lernens. Gerade hier zeigen sich Besonderheiten, die unser eigenes Bildungssystem in vielerlei Betracht als Herausforderung verstehen könnte. Hierzu zählt das hohe Verantwortungsbewußtsein der Eltern als primär allein zuständiger Referenzadresse für die Entwicklung hoher Lern- und Leistungsbereitschaft der Kinder. Das heißt, anstelle der notorischen westlichen Forderung nach der Zuständigkeit und Verantwortung des Staates gilt in China die alte Einsicht der Weimarer Klassik: „Man könnte erzogene Kinder gebären, wenn die Eltern erzogner wären.“

Aus der höchsten Priorität des Lernens folgt außerdem in China und im gesamten konfuzianisch geprägten Raum Ostasiens etwas, was im westlichen Bildungssystem aus politischen und ideologischen Gründen weitgehend verschwunden ist: das hohe soziale Ansehen des Lehrers. Und damit der gesamte hieraus resultierende Kanon wichtiger Bildungsparameter und Sekundärtugenden, der jetzt auch bei uns wieder diskutiert wird: Disziplin, Vorbildfunktion, Respekt, Höflichkeit und Dankbarkeit.

Wichtig ist außerdem in China das Bildungsbewußtsein, daß in einem rohstoff-, energie- und nahrungsmittelarmen Land allein die Investition in die Köpfe zählt. Das heißt die Erkenntnis, daß hohe Anteile des Bruttosozialprodukts für Bildung, Wissenschaft und Grundlagenforschung als entscheidender Motor für Beschäftigung und Produktion, für die Schaffung intelligenter neuer Berufe und Produkte verstanden werden. Ein für den westlichen Betrachter hierbei besonders auffälliges Resultat ist die Tatsache, daß in China die Durchschnittszahl an Schulstunden pro Jahr und Kind doppelt so hoch ist wie zum Beispiel in Deutschland (nur 625 Stunden).

Neurologischer Vorteil

Hinzu kommt der inzwischen durch neurowissenschaftliche Untersuchungen bestätigte Vorteil, daß beim frühkindlichen Erlernen der chinesischen Symbol- und Tonhöhensprache eine doppelte frühe Kompetenz erworben wird: eine hohe Sprach- und Lesefähigkeit, und dies im notwendigen Verbund mit hoher frühkindlicher Leistungs- und Motivationsbereitschaft. Das heißt, man nutzt in China - anders als bei uns - die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse über die Zeit der größten frühkindlichen Lernfähigkeit des Gehirns in der sogenannten emotionalen Phase bis zum dritten und vierten Lebensjahr. Vor allem werden neuronale Vernetzungen musischer und rationaler Art gefördert durch frühe Konzentrationsleistungen, erstens durch die Notwendigkeit korrekten Schreibens und zweitens durch intensive Gehörschulung für die fünf Tonhöhen der chinesischen Hochsprache. Drittens durch hohe Anforderungen an die Fähigkeit schneller Worterkennung als Bedingung einer guten Lesefähigkeit und viertens durch die Entwicklung einer guten Memorierfähigkeit aufgrund neuronaler Bildung von Langzeit-Engrammen beim Schreiben der Ideogramme mit der Hand.

Die eben erwähnten Vorzüge des Konfuzianismus als geistiges Rückgrat der alten chinesischen Hochkultur sind übrigens in Deutschland schon vor 300 Jahren vom eingangs erwähnten Universalgelehrten Leibniz erkannt worden. Ähnliches gilt für Goethe, der bereits 1813 seinem Freund Knebel offenbarte: „Ich hatte mir dieses wichtige Land (China) gleichsam aufgehoben und abgesondert, um mich im Falle der Not […] dorthin zu flüchten.“ Nach der Vorstellung von Leibniz wäre diese Flucht allerdings gar nicht nötig gewesen - wenn man denn seinen Ratschlägen gefolgt wäre. Denn er hatte in seiner 1697 erschienenen Novissima Sinica (Das Neueste von China) bereits gefordert, daß die westliche Belehrungsgesellschaft dringend transformiert werden müsse in eine Lerngesellschaft in Sachen China. Er hatte daher kurzerhand gefordert, daß China Missionare in den Westen entsende „zur richtigen Anwendung und Praxis des Verhaltens der Menschen untereinander“. Leibniz hatte in der Novissima Sinica sogar für Chinesisch als Weltsprache der Wissenschaft plädiert und selbst einen Schlüssel zum leichteren Erlernen der chinesischen Schrift entworfen.

Bildungsnotstand in Deutschland

Aber auch für Leibniz gilt unverändert das Wort Nietzsches über Goethe: Er ist „in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen“. Obgleich Leibniz folgenlos geblieben ist, sollten wir uns heute bewußt sein, daß es inzwischen in China mit Deutschland vertraute Intellektuelle gibt, die sich kritisch über unser Bildungssystem und dessen Ergebnisse äußern. Etwa in dem Sinne, daß auch wir im Zuge der 68er-Revolte eine Kulturrevolution realisiert haben mit dem Ergebnis einer vierzigjährigen Leistungs- und Elitenverweigerung als Folge eines bis heute andauernden Bildungsnotstandes. Und mit dem Ergebnis, daß Deutschland heute mit achtzehn Prozent gering qualifizierten Arbeitskräften in der OECD-Statistik an allerletzter Stelle figuriert. Womit sich die Frage stellt: Was können wir tun?

Ein erster Schritt wäre sicherlich die Einsicht, daß auch wir der Bildung wieder höchste Priorität zukommen lassen sollten. Hierbei sollte Bildung nicht nur verstanden werden als Bologna-Prozeß-beschleunigter Erwerb von Zukunftskompetenz ohne Herkunftskenntnisse. Bildung sollte sich vielmehr zunehmend auch wieder verstehen als gedächtnisgestützte Urteilskraft. Nur so haben wir Chancen, dem ironischen Wort des Karl Kraus zu entkommen, der bereits Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zum Thema Bildung feststellte: „Das Niveau ist sehr hoch. Es steht bloß keiner drauf.“


Anmerkung

1. Diese Zahl entspricht dem Stand von 2008; heute belaufen sich Chinas Devisenreserven umgerechnet auf mehr als 3000 Mrd. $.

2. Heute sind es 14 Konfuzius-Institute, ein Akademisches Konfuzius-Institut sowie Confuzius Classrooms an drei Gymnasien in Rinteln, Schnepfenthal und Staufen. (siehe http://www.konfuzius-institut-heidelberg.de/de/das-konfuzius-institut/konfuzius-institute-in-deutschland/)