Chinas Konfuzius-Offensive
Eine Herausforderung für die Wissensgesellschaft des Westens
Von Manfred Osten
Der folgende Aufsatz wurde uns vom Autoren freundlicherweise
zur Verfügung gestellt, er erschien ursprünglich in der Zeitschrift „Die
Politische Meinung“ (Nr. 464, Juli 2008, S. 41-46. Manfred Osten war von 1995
bis 2004 Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung.
Hatte der Universalgelehrte Leibniz recht, als er 1692, also vor über 300
Jahren, seinen Korrespondenzpartner in Peking, den Jesuitenpater Grimaldi, mit
den Worten ermahnte: „Sie bringen den Chinesen unsere Fähigkeiten. Ich brauche
Sie jedoch nicht zu ermahnen, daß die Unseren ihre Überlegenheit nicht völlig
einbüßen […] damit die Chinesen […] nicht die Europäer eines Tages verlachen
und als ferner nicht mehr notwendige Leute vor die Türe setzen.“
Seltsam aktuelle Worte, wenn man bedenkt, daß China seit Deng Xiaoping
(also seit 1978) unaufhörlich Reformen in Richtung Kapitalismus auf den Weg
gebracht hat. Und dies in einer notorischen Händlernation, die inzwischen
eindeutig zu den Globalisierungsprofiteuren zählt. Denn China verfügt heute
über jene drei großen Parameter, die die Wirtschaft boomen lassen wie in
keinem anderen Land der Welt: Erstens Kapital, das in China inzwischen
investiert ist unter anderen durch westliche Unternehmer und reiche
Überseechinesen, vor allem aus Hongkong und Taiwan - China verfügt auf diese
Weise inzwischen über Devisen in Höhe von rund 1000 Milliarden US-Dollar und
hat Japan als den bislang größten Gläubiger der USA überflügelt;1
zweitens Arbeitskraft - 700 bis 800 Millionen Chinesen sind zurzeit noch
bereit, für zwei Dollar pro Tag zu arbeiten. Und drittens Know-how:
Zehntausende Chinesen, die unter anderem als Absolventen amerikanischer
Eliteuniversitäten bereits in Silicon Valley wirtschaftlich erfolgreich waren,
kehren jetzt nach China zurück. In ein Land, das praktisch kaum den Schutz von
Urheber- und Patentrechten im westlichen Sinne kennt.
Umfassendes Know-how
Und es ist dieser bei uns im Westen bislang nur wenig wahrgenommene
Know-how-Bereich, über den heute gesprochen werden soll. Denn das moderne
China besinnt sich jetzt - nach den intellektuellen und wirtschaftlichen
Verwüstungen der Kulturrevolution unter Mao Tse-tung (1966 bis 1977) und im
Namen übrigens einer aus Deutschland importierten Ideologie - auf seinen
einzigartigen kulturellen Vorteil. Nämlich die Tatsache, daß es die älteste
und singuläre Hochkultur der Welt ist, die nicht unterging oder zu einem
kleinen heutigen Staat erodierte wie zum Beispiel die Hochkulturen Ägyptens
oder Griechenlands.
Das heißt, China (zusammen mit Indien) ist auf dem Wege, nicht nur die
internationalen Wirtschaftsbeziehungen seit Jahren zu verändern und den Westen
immer stärker unter Reformdruck zu setzen. China beginnt inzwischen auch jene
Domäne zu seinen Gunsten zu verändern, in der sich der Westen bislang als
überlegen betrachtet hat: den Know-how- Bereich der Bildung, Wissenschaft,
Forschung und Hochtechnologie.
Europa betrachtet diese Umwälzungen bislang leider nur aus der
Zaungast-Perspektive. Im Strategiepapier der Bundesregierung zur Zielsetzung
der deutschen EU-Präsidentschaft, das derzeit unter Diplomaten zirkuliert,
taucht zum Beispiel das Wort Asien nicht ein einziges Mal auf! Obgleich sich
China inzwischen öffentlich zu einer Renaissance jener bis heute ungebrochen
wirkmächtigsten Staats- und Gesellschaftslehre bekannt hat, die in Ostasien
seit über 2500 Jahren unter dem Namen Konfuzianismus lebendig ist. Eine
Staats- und Gesellschaftslehre, die in China mit dem allgemein präsenten
Bewußtsein verbunden ist, daß es noch bis zum 17. Jahrhundert die
technologisch fortschrittlichste Nation der Welt war. Diesen Status gilt es
jetzt wieder zu erreichen durch Rückgriff auf eine 2500 Jahre alte Erkenntnis
des Philosophen Konfuzius: daß nämlich das Lernen, daß die Bildung das höchste
Gut ist in einem rohstoffarmen Land.
Intellektuelle Renaissance
Konkret bedeutet dies, daß China zurzeit eine intellektuelle Renaissance
erlebt, die durchaus vergleichbar ist mit der Aufbruchstimmung der
europäischen Renaissance im 16. Jahrhundert. Denn in China - mit demnächst 1,4
Milliarden Menschen - haben in den letzten 20 Jahren von 250 Millionen
Grundschülern über fünf Millionen die horrend schwierigen Aufnahmeprüfungen an
den Universitäten bestanden. Ein gnadenloses Aufnahmeverfahren rekrutiert auf
diese Weise ein ständig wachsendes Heer gut ausgebildeter Arbeitskräfte. China
hält hierbei weltweit auch den Rekord an Studenten, denen ein Studium im
Ausland ermöglicht wurde. Dies gilt vor allem für Studierende in den USA und
in Großbritannien, wo Chinesen schon seit Jahren den größten Anteil an
ausländischen Studierenden stellen.
China hat diese Entwicklung gefördert und genau verfolgt. Und es beginnt
jetzt, seit etwa zehn Jahren, diese Auslandsstudenten wieder an China zu
binden durch massives Werben mit Fördermöglichkeiten im Inland. China ist
hierbei erfolgreich auf dem Wege, den akademischen Braindrain, vor
allem nach den USA, umzukehren: Von den 600.000 chinesischen Auslandsstudenten
der letzten 20 Jahre sind inzwischen fast 200.000 nach China zurückgekehrt als
sogenannte hai gui. Wobei hai das chinesische Wort für das Meer
ist. Und gui steht für Zurückkehren, aber auch für die Schildkröte.
Womit sich die Vorstellung verbindet, daß der an chinesischen Ufern geborene
Nachwuchs im amerikanischen Meer aufwächst, um dann ans Heimatufer
zurückzukehren. Mit dem Zusatz, daß zahlreiche chinesische hai gui
inzwischen immer wieder auch kurzfristig in die USA zurückkehren, um die
neuesten Forschungsergebnisse dann nach China zu transferieren. Das
bekannteste staatliche Werbeprogramm für die Rückgewinnung dieser akademischen
Meeresschildkröten ist das sogenannte Hundred Talents Program, das den
im Ausland befindlichen chinesischen Eliten unter anderem höhere Gehälter,
eine Wohnung und bis zu 200.000 Euro für das Zusammenstellen von
Forschungsteams anbietet. Wobei es das vorrangige Ziel chinesischer
Eliteuniversitäten ist, Ergebnisse der Grundlagenforschung rasch umzusetzen
und akademische Eliteforscher in erfolgreiche Unternehmer zu verwandeln. Auch
dies geschieht inzwischen mit großem Erfolg zahlreicher
Spin-off-Unternehmen.
In diesem Zusammenhang sei auch hingewiesen auf die
Alexander-von-Humboldt-Stiftung in Bonn, die inzwischen zunehmend mehr
Stipendien für einen Forschungsaufenthalt in Deutschland an junge chinesische
Elitewissenschaftler verleiht, da diese sich qualitativ und quantitativ
gegenüber Stipendienbewerbern aus anderen Nationen immer wieder erfolgreich
durchsetzen.
Das Ergebnis ist jedenfalls eine rapide wachsende Wissensgesellschaft in
einem Land, das inzwischen noch einen weiteren Weltrekord im Know-how-Bereich
aufweisen kann. In keinem anderen Land steigen zurzeit so sprunghaft die
privaten Bildungsausgaben und -rücklagen wie in China. Nach
Expertenschätzungen gaben chinesische Eltern über 90 Milliarden Dollar aus für
die Ausbildung ihrer Kinder. Über 50 Prozent chinesischer Teenager gaben nach
jüngsten Meinungsumfragen eine erfolgreiche Karriere als höchstes Lebensziel
an.
Förderung im Kindesalter
Die Leistungs- und Motivationsgrundlagen für diese ehrgeizigen
Zielsetzungen werden in China - anders als im Westen - bewußt im
frühestmöglichen Kindesalter - also in der Zeit größtmöglicher Plastizität des
menschlichen Gehirns - gelegt. Das heißt, es gilt bereits bis zum dritten und
vierten Lebensjahr mehrere Hundert chinesischer Ideogramme zu beherrschen, um
die Aufnahmeprüfung für einen guten, nach Möglichkeit privaten Kindergarten zu
bestehen. Denn der Trend weg vom staatlichen zum privaten Kindergarten setzt
sich in China unvermindert fort. Entsprechend teure Kindergartenplätze werden
ohne Zögern bezahlt - nach Angaben amerikanischer Unternehmen sogar in einigen
Fällen bis zu 10.000 Dollar im Jahr.
Diese sehr frühe Förderung ist in China inzwischen routinemäßig verbunden
mit gezieltem frühkindlichen Erwerb englischer Sprachkenntnisse und einer
starken Ausbildung musischer Kompetenz vor allem durch Ballett- und
Klavierunterricht. Dieser hohe intellektuelle Wettbewerbsdruck setzt sich von
der Kindheit an fort und kulminiert in den dreitägigen rigorosen
Aufnahmeprüfungen der Universitäten. Eine Prüfungstradition, die zum festen
Kanon des Konfuzianismus spätestens seit der Han-Zeit (seit zweihundert Jahren
vor Christus) zählt. Seit Jahrtausenden hatten in China auf diese Weise junge
Menschen auch aus der Provinz die Chance, aufzusteigen in die Sphären der
kaiserlichen Macht und Verwaltung.
So, wie bei den Herausforderungen Chinas als Wirtschaftsmacht der Einwand
naheliegt, daß diese Entwicklung konterkariert werden könnte unter anderem
durch große ökologische und soziale Probleme, so sehr liegt gegenüber dem
chinesischen Lern- und Erziehungsdrill auch der Einwand nahe, daß es sich
hierbei um ein stark hierarchisches System mit möglichen Streßfolgen und
geringem kreativen Reflexionsvermögen handelt. Aber auch diesem Einwand, der
letztlich für die gesamte konfuzianisch geprägte Region Asiens gilt, begegnet
China bereits seit Ende der 1990er Jahre mit einem umfassenden und gezielten
Bildungsreform-Programm. Es ist geplant, die erkannten Nachteile bis
spätestens 2010 zu korrigieren durch neue Curricula, neue Schulbücher und
stärker diskurs- und dialogorientierten Englischunterricht unter der
Mitwirkung angelsächsischer Reformpädagogen.
Studium in China
Ähnlich ehrgeizige reform-orientierte Lehrpläne unter Mitwirkung
ausländischer Professoren verfolgen bereits seit einiger Zeit die beiden
Eliteuniversitäten mit Vorbildfunktion für weitere 30 Spitzenuniversitäten des
Landes: die Beida- und die Tsinghua-Universität in Peking. Beide Universitäten
folgen dem Prinzip amerikanischer Eliteuniversitäten und damit auch letztlich
der Denkschrift Wilhelm von Humboldts: daß ein für die akademische
Elitebildung optimales Zahlenverhältnis angestrebt werden sollte von einem
Professor mit wenig mehr als zehn Studenten. Mit der Folge, daß jährlich unter
riesengroßem Andrang nur 2000 Studenten in die Tsinghua-Universität und 3000
Studenten in die Beida-Universität aufgenommen werden. Geplant ist außerdem
durch das sogenannte Projekt 211 des Bildungsministeriums von 1993, die Zahl
der bisherigen Eliteuniversitäten um weitere 100 Schwerpunktuniversitäten zu
erweitern. Sie alle sind konzipiert nach dem Vorbild der Harvard University in
Boston und sollen im Laufe des 21. Jahrhunderts zu den besten Universitäten
der Welt zählen.
Das Studium an den chinesischen Eliteuniversitäten wird seit etwa einem
halben Jahrzehnt noch ergänzt durch eine Springflut von MBA (Master of
Business Administration)-Programmen mit nahezu 200 post-universitären
Studiengängen. Ein karriereförderndes Zusatzstudium mit nicht unerheblichen
Kosten (maximal 20.000 Euro), dem sich inzwischen weit über 10.000 chinesische
Akademiker unterwerfen. Die effizienteste und nachhaltigste Ergänzung dieser
akademischen Eliteförderung und Forschung repräsentiert die Akademie der
Wissenschaften mit dem ehemaligen Forschungsstipendiaten der AvH-Stiftung
Yongxiang Lu an der Spitze. Als Präsident gehört er mit einem 700 Mitglieder
umfassenden Gremium zu den wissenschaftlichen Vordenkern der scientific
community Chinas. Ein in jedem Betracht elitärer Zirkel mit insgesamt 120
Instituten, 20.000 Forschern und 60.000 Beschäftigten. Es gilt ausschließlich
das Leistungsprinzip, die Mehrheit der Beschäftigten ist unter 45 Jahre alt,
und statt der üblichen dauernden Mittelkürzungen westlicher
Forschungsinstitute haben sich inzwischen die staatlichen Zuschüsse in den
letzten Jahren verdoppelt - ganz abgesehen von Gewinnen, die der Akademie aus
erfolgreichen Spinn-off-Unternehmen zufließen.
Höchste Priorität des Lernens
Man muß die eben erwähnten - bei uns wenig bekannten -
Hintergrundinformationen zur Know-how-Entwicklung in China kennen, um ermessen
zu können, welche kultur- und bildungspolitischen Dimensionen sich seit Anfang
2006 hinter einer außenkulturpolitischen Initiative Chinas verbergen. Die Rede
ist von der geplanten Errichtung von über 100 Konfuzius-Instituten weltweit
bis 2010. Sie sind mitkonzipiert als Wegbereiter chinesischen Denkens unter
anderem im Sinne jener bereits erwähnten höchsten Priorität des Lernens, die
seit 2500 Jahren das geistige Rückgrat der chinesischen Hochkultur bildet. Als
geistiges Transmissionsband soll hierbei das Erlernen der chinesischen Sprache
dienen mit der Zielsetzung, daß 2010 über 100 Millionen Menschen außerhalb
Chinas die chinesische Sprache erlernen sollen. Inzwischen hat im April 2006
auch das erste Konfuzius-Institut in Deutschland bereits seine Tore in Berlin
geöffnet. Inzwischen hat sich die Zahl der in Deutschland eröffneten
Konfuzius-Institute auf sieben erhöht, und zwar an der FU Berlin, an den
Universitäten Erlangen/Nürnberg, Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg, Leipzig und
im Chinesischen Zentrum Hannover e. V. Vier weitere Konfuzius-Institute sollen
in Kürze eröffnet werden, und zwar in Trier, Duisburg, Heidelberg und
Freiburg.2
Und Konfuzius? Kann er als Namenspatron seiner Institute im Westen auf eine
Renaissance hoffen? Wenn Goethe im dritten Buch des Wilhelm Meister bemerkt,
daß jedes Staatswesen auf dem Familienwesen gründet, so entspricht diese
Einsicht grundsätzlich auch der Sozial- und Staatslehre des Konfuzius, die
ihrerseits konsequent auf den Gesetzen eines familienbezogenen Gemeinsinns
ruht. Da im Westen - aus politischen und ideologischen Gründen - die sozialen
Tugenden der Familie inzwischen weitgehend an den (zunehmend
zahlungsunfähigen) Wohlfahrtsstaat delegiert worden sind, hat der
Konfuzianismus möglicherweise die Chance, dem Westen auf diesem Feld neue
Optionen anzubieten.
Besonders überzeugend erweist sich jedenfalls in China - wie bereits
angedeutet - der familien- und nachwuchsbezogene Gemeinsinn im Bereich der
Bildung mit der höchsten konfuzianischen Priorität des Lernens. Gerade hier
zeigen sich Besonderheiten, die unser eigenes Bildungssystem in vielerlei
Betracht als Herausforderung verstehen könnte. Hierzu zählt das hohe
Verantwortungsbewußtsein der Eltern als primär allein zuständiger
Referenzadresse für die Entwicklung hoher Lern- und Leistungsbereitschaft der
Kinder. Das heißt, anstelle der notorischen westlichen Forderung nach der
Zuständigkeit und Verantwortung des Staates gilt in China die alte Einsicht
der Weimarer Klassik: „Man könnte erzogene Kinder gebären, wenn die Eltern
erzogner wären.“
Aus der höchsten Priorität des Lernens folgt außerdem in China und im
gesamten konfuzianisch geprägten Raum Ostasiens etwas, was im westlichen
Bildungssystem aus politischen und ideologischen Gründen weitgehend
verschwunden ist: das hohe soziale Ansehen des Lehrers. Und damit der gesamte
hieraus resultierende Kanon wichtiger Bildungsparameter und Sekundärtugenden,
der jetzt auch bei uns wieder diskutiert wird: Disziplin, Vorbildfunktion,
Respekt, Höflichkeit und Dankbarkeit.
Wichtig ist außerdem in China das Bildungsbewußtsein, daß in einem
rohstoff-, energie- und nahrungsmittelarmen Land allein die Investition in die
Köpfe zählt. Das heißt die Erkenntnis, daß hohe Anteile des
Bruttosozialprodukts für Bildung, Wissenschaft und Grundlagenforschung als
entscheidender Motor für Beschäftigung und Produktion, für die Schaffung
intelligenter neuer Berufe und Produkte verstanden werden. Ein für den
westlichen Betrachter hierbei besonders auffälliges Resultat ist die Tatsache,
daß in China die Durchschnittszahl an Schulstunden pro Jahr und Kind doppelt
so hoch ist wie zum Beispiel in Deutschland (nur 625 Stunden).
Neurologischer Vorteil
Hinzu kommt der inzwischen durch neurowissenschaftliche Untersuchungen
bestätigte Vorteil, daß beim frühkindlichen Erlernen der chinesischen Symbol-
und Tonhöhensprache eine doppelte frühe Kompetenz erworben wird: eine hohe
Sprach- und Lesefähigkeit, und dies im notwendigen Verbund mit hoher
frühkindlicher Leistungs- und Motivationsbereitschaft. Das heißt, man nutzt in
China - anders als bei uns - die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse über die
Zeit der größten frühkindlichen Lernfähigkeit des Gehirns in der sogenannten
emotionalen Phase bis zum dritten und vierten Lebensjahr. Vor allem werden
neuronale Vernetzungen musischer und rationaler Art gefördert durch frühe
Konzentrationsleistungen, erstens durch die Notwendigkeit korrekten Schreibens
und zweitens durch intensive Gehörschulung für die fünf Tonhöhen der
chinesischen Hochsprache. Drittens durch hohe Anforderungen an die Fähigkeit
schneller Worterkennung als Bedingung einer guten Lesefähigkeit und viertens
durch die Entwicklung einer guten Memorierfähigkeit aufgrund neuronaler
Bildung von Langzeit-Engrammen beim Schreiben der Ideogramme mit der Hand.
Die eben erwähnten Vorzüge des Konfuzianismus als geistiges Rückgrat der
alten chinesischen Hochkultur sind übrigens in Deutschland schon vor 300
Jahren vom eingangs erwähnten Universalgelehrten Leibniz erkannt worden.
Ähnliches gilt für Goethe, der bereits 1813 seinem Freund Knebel offenbarte:
„Ich hatte mir dieses wichtige Land (China) gleichsam aufgehoben und
abgesondert, um mich im Falle der Not […] dorthin zu flüchten.“ Nach der
Vorstellung von Leibniz wäre diese Flucht allerdings gar nicht nötig gewesen -
wenn man denn seinen Ratschlägen gefolgt wäre. Denn er hatte in seiner 1697
erschienenen Novissima Sinica (Das Neueste von China) bereits
gefordert, daß die westliche Belehrungsgesellschaft dringend transformiert
werden müsse in eine Lerngesellschaft in Sachen China. Er hatte daher
kurzerhand gefordert, daß China Missionare in den Westen entsende „zur
richtigen Anwendung und Praxis des Verhaltens der Menschen untereinander“.
Leibniz hatte in der Novissima Sinica sogar für Chinesisch als
Weltsprache der Wissenschaft plädiert und selbst einen Schlüssel zum
leichteren Erlernen der chinesischen Schrift entworfen.
Bildungsnotstand in Deutschland
Aber auch für Leibniz gilt unverändert das Wort Nietzsches über Goethe: Er
ist „in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen“. Obgleich
Leibniz folgenlos geblieben ist, sollten wir uns heute bewußt sein, daß es
inzwischen in China mit Deutschland vertraute Intellektuelle gibt, die sich
kritisch über unser Bildungssystem und dessen Ergebnisse äußern. Etwa in dem
Sinne, daß auch wir im Zuge der 68er-Revolte eine Kulturrevolution realisiert
haben mit dem Ergebnis einer vierzigjährigen Leistungs- und Elitenverweigerung
als Folge eines bis heute andauernden Bildungsnotstandes. Und mit dem
Ergebnis, daß Deutschland heute mit achtzehn Prozent gering qualifizierten
Arbeitskräften in der OECD-Statistik an allerletzter Stelle figuriert. Womit
sich die Frage stellt: Was können wir tun?
Ein erster Schritt wäre sicherlich die Einsicht, daß auch wir der Bildung
wieder höchste Priorität zukommen lassen sollten. Hierbei sollte Bildung nicht
nur verstanden werden als Bologna-Prozeß-beschleunigter Erwerb von
Zukunftskompetenz ohne Herkunftskenntnisse. Bildung sollte sich vielmehr
zunehmend auch wieder verstehen als gedächtnisgestützte Urteilskraft. Nur so
haben wir Chancen, dem ironischen Wort des Karl Kraus zu entkommen, der
bereits Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zum Thema Bildung feststellte:
„Das Niveau ist sehr hoch. Es steht bloß keiner drauf.“
Anmerkung
1. Diese Zahl entspricht dem Stand von 2008; heute belaufen sich Chinas
Devisenreserven umgerechnet auf mehr als 3000 Mrd. $.
2. Heute sind es 14 Konfuzius-Institute, ein Akademisches
Konfuzius-Institut sowie Confuzius Classrooms an drei Gymnasien in Rinteln,
Schnepfenthal und Staufen. (siehe http://www.konfuzius-institut-heidelberg.de/de/das-konfuzius-institut/konfuzius-institute-in-deutschland/)
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