Was ist klassische Kultur?
Von Anthony Morss
Der Dirigent Anthony Morss hielt bei der New Yorker Konferenz
des Schiller-Instituts am 7. April den folgenden Vortrag.
Friedrich Schiller, zum Geschichtsprofessor an der Universität Jena
berufen, wählte für seine Antrittsvorlesung das Thema „Was heißt und zu
welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ Mein Thema heute abend lautet:
„Was heißt und zu welchem Ende studiert man – klassische Kultur?“
Klassische Kultur hat drei Bedeutungen:
1. bezogen auf die Kultur der alten Griechen und Römer;
2. jedes Kunstwerk, das uns durch seine Schönheit, Gestalt und vollkommenen
Proportionen an dieses klassische Erbe erinnert; und
3. jede Kunst, die so auffallend großartig ist, daß sie ihren eigenen
Maßstab für jedes zukünftige Urteil schafft.
Daumenregeln zur Einschätzung von Kunstwerken sind wohlbekannt und im
wesentlichen universell anerkannt: das Prinzip der Einheit in der Vielheit und
die Idee, daß man einem Kunstwerk höchster Qualität nichts hinzufügen oder
weglassen kann, ohne seinen Wert zu schmälern.
Die griechische Ästhetik besagte auch, daß die Größe des Kunstwerks im
rechten Verhältnis zu unserer Fähigkeit der Wahrnehmung stehen muß, d.h.,
weder so klein, daß wir seine Bestandteile nicht mehr wahrnehmen können, noch
so groß, daß wir es nicht mehr in seiner Gesamtheit erfassen können. Dies sagt
uns einfach der gesunde Menschenverstand.
Wesentlich für den Wert eines Kunstwerks ist, daß es einen organischen
Eindruck auf uns macht; damit meine ich, daß es den Aufbau und die
Funktionsweise eines großen, komplexen Organismus, wie dem eines Menschen,
überzeugend nachahmen muß, eines Organismus, der aus vielen verschiedenen
Organen und Lebenssystemen besteht, wie den Blut- und Lymphbahnen und der
elektrochemischen Aktivität des Gehirns - alles zu dem Zweck, es dem Menschen
zu ermöglichen, die Vorhaben seiner Wahl zu verwirklichen.
Dieses System kann man als eine Mannigfaltigkeit bezeichnen, und wir alle
sind biologische Mannigfaltigkeiten. Aber es gibt auch mechanische
Mannigfaltigkeiten, wie etwa den Motor eines Automobils mit vielen ergänzenden
Systemen, die alle mit dem Zentralmotor verbunden sind und ihn verstärken. Auf
der einfachsten Ebene ist sogar ein Rohr mit mehreren Queröffnungen eine
Mannigfaltigkeit.
Diese auf komplexe Weise miteinander verbundenen, unterstützenden Systeme
sind ein Spiegelbild der Organisation der äußeren Welt, die sich uns durch die
Wissenschaften enthüllt. Die fundamentale Voraussetzung jeder
wissenschaftlichen Aktivität, wie sie Lyndon LaRouche definiert, ist die, daß
die Organisationsprinzipien des Universums mit der rationalen Struktur des
menschlichen Gehirns übereinstimmen. D.h., wir wissen, daß das Universum
wissenschaftlichen Gesetzen unterliegt, von denen wir einige erkannt haben,
aber die meisten noch nicht kennen. Wenn wir nicht überzeugt wären, daß es
noch viele wissenschaftliche Gesetze gibt, die darauf warten, von uns entdeckt
zu werden, dann würden wir nicht nach ihnen suchen, womit ja die
Wissenschaftler ihr ganzes Leben verbringen. Die Aussage von Herrn LaRouche
ist so offensichtlich wahr, daß sie schon fast eine Tautologie ist, dennoch
ist man von der Brillanz dieser Worte überwältigt.
Wir haben also festgestellt, daß Kunstwerke als nichtlebende Objekte, die
sie nun einmal sind, die Eigenschaften komplexer lebender Organismen zeigen
müssen, mit dem gesamten verwickelten Verwirrspiel ihrer inneren Beziehungen.
Wie sich das in der Praxis auswirkt, das veranschaulicht ein berühmtes langes
Gespräch zwischen Jan Sibelius und Gustav Mahler, die bei ihrem ersten Treffen
auf einem langen gemeinsamen Spaziergang ihre künstlerischen Ideale
beschrieben. Beide Komponisten hatten mehrere Sinfonien komponiert, und Mahler
war natürlich auch einer der beiden berühmtesten Dirigenten der Welt - der
andere war Arthur Nikisch.
Sibelius sagte, am meisten bewundere er an sinfonischen Kompositionen, daß
man von einem sehr eng begrenzten thematischen Material ausgeht und daraus das
ganze übrige Werk entwickelt. Mahler wandte ein: „Nein, nein, es muß wie die
Welt sein - es muß alles umfassen!“ Sibelius wollte eine organische
Entwicklung, Mahler hingegen wollte alles und jedes in das Gebräu hineinwerfen
- formal undiszipliniert.
Am Ende des Spaziergangs fragte Mahler Sibelius liebenswürdigerweise,
welche seiner Sinfonien er für ihn dirigieren solle. Ganz überraschend -
besonders wenn man bedenkt, wie berühmt und einflußreich Mahler war -
antwortete Sibelius: „Keine von ihnen.“ Er konnte sich nicht vorstellen, daß
Mahler verstehen konnte, was seine Sinfonien aussagen sollten.
Ein Künstler muß die Fähigkeit besitzen, die Natur nachzuahmen - man könnte
fast sagen, sie täuschend echt zu fälschen. Von einem klassischen griechischen
Maler namens Appelles wird berichtet, er habe Weintrauben so realistisch
gemalt, daß zwei Vögel in den Raum geflogen kamen und an den Trauben
herumpickten und erstaunt waren, daß es da gar nichts „zu beißen“ gab.
Aber eine vollkommen naturgetreue Kopie der Objekte ist nicht das, was wir
von Malern erwarten. Dafür haben wir die Photographie. Wir brauchen Maler, die
schöne Aspekte von Gegenständen und Menschen sehen, verstehen und zeigen, die
wir mit unseren eigenen Augen nicht sehen könnten.
Die Durchbrüche, die wir anstreben
Einer meiner Lieblingsmaler in dieser Hinsicht ist der hochverehrte
chinesische Landschaftsmaler Fan Kuan aus der Zeit der nördlichen
Song-Dynastie (um 1000 n.Chr.). Fan Kuan entwickelte so überzeugende
unterschiedliche Pinselstriche, daß er alle unterschiedlichen
Vegetationsformen wie Zweige, Tannennadeln usw. so zeichnen konnte, daß man
über ihn sagte, er besitze dieselbe intensive Kreativität wie die Natur
selbst. Aber betrachten Sie einmal sein Meisterwerk Reisende zwischen
Flüssen und Bergen.
Man kann hier sehen, warum das chinesische Wort für Landschaftsmalerei
wörtlich übersetzt „Berg-Wasser-Malerei“ heißt. In diesem Fall ist der hohe
Berg nicht nur realistisch gemalt, so wie es auch jede Photographie der
Topographie dieser Gegend zeigen würde, sondern die ganze Szenerie ist auch
erfüllt von einer geheimnisvollen Kraft, was auf eine zutiefst geistige Sicht
der Natur weist. Hier hat die Malerei das Persönliche hinter sich gelassen und
ist mit etwas viel Höherem verbunden.
Was hofft unsere Foundation for the Rivival of Classical Culture (Stiftung
für die Wiederbelebung der klassischen Kultur) zu erreichen, indem sie die
großen Werke der organischen Kunst studiert und aufführt? Neue Sinfonien im
Stil von Beethoven oder Brahms? Nein, das ist unmöglich, denn diese Werke
waren, auch wenn sie Produkte höchst individueller Persönlichkeiten sind,
nichtsdestoweniger auch Produkte der kulturellen Matrix und Atmosphäre ihrer
Zeit. Würde man eine neue Pastoralsinfonie wie die Beethovens schreiben, dann
wäre das Resultat künstlich und ohne Leben. Was wir anstreben, wenn wir die
großen Werke der Vergangenheit studieren, ist, uns von ihnen inspirieren zu
lassen, um etwas ebenso Organisches und Lebendiges für unsere Zeit zu
schaffen.
Es gibt dafür ein wichtiges historisches Vorbild, die Entstehung der Oper
in Italien am Ende des 16. Jahrhunderts. 30 Jahre lang studierte eine
Gesellschaft von Dichtern, Musikern, Sängern und gelehrten Herren unter der
Leitung des Grafen Bardi in Florenz, wie man das antike griechische Drama
wiederaufleben lassen könnte. Aus ihrer Beschäftigung damit wußten sie, daß
diese Schauspiele mindestens zum Teil gesungen und getanzt wurden, oder zum
Teil zu einer Hintergrundmusik deklamiert wurden, so wie Homers Sagen im
Altertum jahrhundertelang gesungen oder von der Leier begleitet vorgetragen
wurden.
Über die Tanzschritte konnten sie einiges aus den bemalten Vasen schließen.
Aber in Bezug auf die Musik kamen sie nicht weiter. Es gibt nur etwa 40
überlieferte Fragmente der alten griechischen Musik, und nur eine einzige
vollständige Zeile. Und die gelehrten Herren der Florentiner Camerata - d.h.
Bruderschaft - konnten die notierte Musik nicht lesen und deshalb auch keinen
Gebrauch von den überlieferten Fragmenten machen - was sich meines Erachtens
als ein großer Vorteil erwies. Die antike griechische Musik, nur unisono in
Oktaven und ohne irgendwelche Harmonien, war dem Repertoire der europäischen
polyphonen Meisterwerke der Hochrenaissance weit unterlegen. So begann der
Versuch, die Musik der griechischen Dramen neu zu erschaffen, mit einer
hochentwickelten musikalischen Sprache, aber anstelle des kontrapunktischen
Satzes, in dem viele Stimmen zusammen singen, kam es nun darauf an, wie die
Stimmen der Figuren des Dramas sich abwechseln (obwohl es für die griechischen
Chöre auch fünfstimmige Madrigale gab).
So haben diese gelehrten Herren in dem Versuch, die griechischen Dramen der
Antike getreu zu reproduzieren, etwas ganz anderes, aber ebenso Großartiges
geschaffen: die ersten Opern! Solche Durchbrüche sind es, die wir mit der
Stiftung anstreben.
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