Die Einheit von Kalligraphie, Poesie, Malerei und Musik in der
chinesischen Kunst
Von Prof. Ben Wang
Prof. Ben Wang ist Autor, Übersetzer und leitender Dozent des
China-Instituts für Sprachen und Geisteswissenschaften.
Wir reden hier über Dinge, die alt und vergangen sind, aber wie meine
Lieblingsautorin aus England, Muriel Spark, sagt: „Der Ruhm der Vergangenheit
ist die Inspiration für die Zukunft.“ Auch wenn wir über etwas Altes reden,
weiß ich also, daß etwas Neues geboren werden wird. Und wie Tennessee Williams
sagt: „Veilchen im Gebirge haben den Fels gesprengt.“ Das steht auf seinem
Grabstein. Es gibt immer Hoffnung, aber heute sprechen wir über den Ruhm der
Vergangenheit.
Das, worüber ich spreche, wird Literarische Malerei genannt - etwas, was
ganz auf die chinesische Kultur begrenzt ist.
Ich muß vorlesen, weil meine Zeit begrenzt ist - normalerweise rede ich
zwei oder drei Stunden. Aber bevor ich es vergesse, muß ich noch Frau Lynn Yen
von der Stiftung für die Wiederbelebung der klassischen Kultur und natürlich
Dennis (Dennis Speed vom Schiller-Institut) danken, daß sie mich eingeladen
haben, wofür ich sehr dankbar bin. Ich habe sie um mehr Zeit gebeten, und nach
zähen Verhandlungen und viel Argumentieren meinerseits gab man mir zehn
Minuten mehr. (Lachen) Sie wollten mir sogar 20 Minuten geben, aber ich sagte:
„Das wird kaum reichen, denn ich bin ein Meister der Abschweifungen. Wenn ich
das tue, müßt ihr mich stoppen. Aber wenn ihr seht, wie alt ich bin, weiß ich,
daß ihr das nicht tun werdet.“ Trotzdem bitte ich darum - sagt einfach
„stopp!“ und „weiter!“
Schließlich gibt es hier viele andere wundervolle Dinge, so ein
reichhaltiger Abend! Ohne mich bei Frau Yen oder Dennis einschmeicheln zu
wollen: Ich kann mich nicht erinnern, an einer vergleichbaren Veranstaltung
teilgenommen zu haben. In meiner naiven Vorstellung über Vorträge und
Veranstaltungen war ich meistens der einzige Redner, und das Thema war
gewöhnlich Dichtung, Literarische Malerei, Drama, Musik, Theater. Aber Sie
haben ein so reichhaltiges Programm. Die beiden Vorträge eben haben mir den
Atem verschlagen. Und nach dem Tenor fragte ich mich: „Wie soll man nach so
etwas noch sprechen?“ Und meine Stimme... ich bin etwas erkältet, aber sonst
habe ich eine sehr gute Stimme. Fast so gut wie er. (Lachen) Nun, nicht
ganz... aber vielleicht vor 60 Jahren.
Was also ist Literarische Malerei? Sie ist - es klingt, muß ich leider
sagen, für westliche Ohren ziemlich ungewohnt - dreierlei in einem: Dichtung,
Kalligraphie und Malerei. Sie zusammen machen das Genre der Literarischen
Malerei in China aus, die während der Sung-Dynastie entstand, Ende des 10. bis
ins 13. Jahrhundert (960-1280), vor der Yuan-Dynastie. Die Literarische
Malerei erreichte ihren Höhepunkt unter der Patronage eines der
herausragendsten Mandschu-Kaiser, Qianlong (1736-1796) von der Quing-Dynastie
(1644-1911).
An dieser Stelle muß ich etwas klarstellen: Schon lange vor dem Aufkommen
der Literarischen Malerei hatte China 2000 Jahre Kultur und Zivilisation.
Warum also dauerte so lange, bis die Literarische Malerei entstand? Weil jedes
literarische oder künstlerische Genre wie ein Baby ist. Die Literarische
Malerei ist ein liebenswertes Baby. Woher kommt ein liebenswertes Baby? Von
einem liebenswerten Mann und einer liebenswerten Frau; und die müssen
erwachsen sein, um einander zu finden, zu heiraten und ein Kind zu bekommen.
Denn die Literarische Malerei besteht aus drei Bestandteilen: der Poesie, der
Kalligraphie und der Malerei. Deshalb dauerte es fast 2000 Jahre, bis diese
drei Formen herangereift waren: die Poesie mußte reifen, die Kalligraphie und
die Malerei mußten reifen, und dann schufen diese drei gemeinsam diese
großartige Menage a trois. Sie schufen dieses liebenswerte Baby, das
man die Literarische Malerei nennt. Und deshalb dauerte es so lange!
Alles ist darin enthalten
In der Zeit zwischen 1100 und 500 v.Chr. entstand die erste Sammlung von
300 Gedichten, die frühesten Dichtungen des Menschen in der Weltgeschichte,
das sogenannte Buch der Lieder, es wurde von Arthur Waley ins Englische
übersetzt. Es ist immer noch eine sehr gute Lektüre. Wunderbare Literatur
stirbt nicht, wie der sprichwörtliche alte Soldat, der nie stirbt. Wenn Sie
also auf eine Ausgabe des Buchs der Lieder stoßen, dann sollten Sie sie
auf jeden Fall lesen.
Die Malerei begann erst um etwa 300 v.Chr. Die Kalligraphie reifte. Das
begann mit der gesprochenen Sprache, wurde dann eine Art Siegel, bis hin zur
heutigen Schrift. Und wo wir davon sprechen: Wir müssen hier auf die
besondere, einzigartige Qualität der chinesischen Sprache zurückkommen. Jede
Sprache auf der Welt ist einzigartig. Aber die chinesische Sprache ist
unvergleichlich, denn das gesprochene Chinesisch ist Musik, und das
geschriebene Chinesisch ist Malerei. Und deshalb umfaßt die Literarische
Malerei all dies: Es gibt Töne, also Musik, es gibt Poesie, es gibt
Kalligraphie und es gibt Malerei. Tatsächlich bildet die Malerei den
ergänzenden Aspekt dieses Genres.
Fahren wir fort.
Indem sie die Tiefgründigkeit der Poesie mit der Pracht der Kalligraphie
und der Töne und mit der Rührung der Malerei miteinander verschmelzt, ist die
Literarische Malerei ein bezaubernder Garten der Literatur, der Musik und der
bildenden Kunst - ein Garten, der von den Chinesen und der Welt seit tausend
Jahren hochgeschätzt ist.
Im Mittelpunkt meines Vortrags stehen zwei zeitlose Werke von Qi
Baishi.
Es gibt Hunderte, ja Tausende Werke, aber ich habe nur zwei davon
ausgewählt. Wenn Sie wissen wollen, warum, dann sprechen Sie mit Lynn Yen und
der Stiftung - ich hatte 200 vorbereitet, aber ich darf nur über zwei
sprechen. (Lachen) Ich scherze nur. Jemand hat einmal gesagt: „Immer jemand
anderem die Schuld zuschieben.“
Qi Baishi, bitte behalten Sie diesen Namen im Gedächtnis: Er war der letzte
Titan der Literarischen Malerei. Ich sage oft, mit seinem Abgang, mit seinem
Tod, kam auch der Tod der Literarischen Malerei; denn heute kann niemand auch
nur Gedichte - klassische chinesische Poesie - schreiben. Er ist der
überragende Meister der Literarischen Malerei des 20. Jahrhunderts. Ein
gründliches Studium der Nuancen und der tieferen Symbolik, der ausgezeichneten
Musikalität seiner Gedichte und der Feinheit und Schönheit seiner Kalligraphie
und Gemälde wird uns helfen, bei der Würdigung der chinesischen Kultur den
Genuß zu erhöhen.
Qi Baishi
Qi Baishis künstlerische Welt erhebt den Alltag zu romantischer Poesie. Von
ländlicher Herkunft, als Bauer geboren, schuf Qi Baishi Werke, die von einem
Gefühl der Nähe zum Land erfüllt sind. Das ist sehr schön eingefangen in
seinen treffenden Darstellungen von Krabben, Fischen, wilden Blumen und
Vögeln, neben anderen scheinbar bedeutungslosen Naturobjekten. In diese
Gemälde eingefügt sind seine Gedichte und Kalligraphie, die beide von höchster
Meisterschaft und reichem Geist geprägt sind.
Qi Baishis hochentwickelter Sinn für die Farbenpracht der Natur, den er
nutzt, um über die Liebe, das Leben, Erinnerungen und die Vergänglichkeit von
Schönheit und Kunst zu reflektieren, ist sein bester Reisepaß in die
Unsterblichkeit.
Betrachten wir nun seine beiden Werke, die ich als den Hauptgang dieses
Festmahls bezeichnen würde.
Dies ist eine Zeichnung von Zaunwinden, und dieser
Grashüpfer ist braun - hellbraun, was bedeutet, daß er sehr alt ist, denn
junge Grashüpfer sind ganz grün. Erst wenn sie sehr alt werden - wie ich -,
verblaßt die Farbe, bis sie schließlich weißlich wird. Dieser Grashüpfer ist
also nicht dunkel - Grashüpfer sind niemals dunkel, wenn sie noch sehr jung
sind, sind sie grün -, er ist hellbraun. Und die Zaunwinden sind tief violett,
zwischen violett und burgunderrot. Das ist die Zaunwinde. Das ist also das
Gemälde.
Was ist die Bedeutung?
Die großen chinesischen Künstler wandeln auf dem schmalen Grat zwischen
Ähnlichkeit und Unähnlichkeit. Sähen ihre Gemälde exakt wie die reale Sache
aus, wäre es zuviel, zu nahe am Realismus. Sie müssen den Realismus überwinden
und einen magischen Illusionismus erreichen. So ist auch dies zwischen
Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, zwischen Realismus und magischem Illusionismus.
Der Grashüpfer kommt aus dem Busch der Zaunwinde. Bekanntlich öffnet sich die
Zaunwinde nur am Morgen, und wenn die Sonne den Zenit erreicht, am Mittag,
verwelkt sie.
Achten Sie darauf, wohin der Grashüpfer sich wendet: Er senkt seinen Kopf
nach Westen. Die chinesische Kunst ist stark beeinflußt von der indischen
Kunst. Deshalb hat es mich bewegt, als ich vorhin das Gedicht von Tagore
hörte, obwohl ich kein Sanskrit verstehe. Dichtung und Schönheit können das,
sogar wenn man die Sprache nicht versteht. Wenn man beispielsweise eine Oper
anhört, versteht man nicht immer, was gesungen wird, aber man kann die Musik
genießen.
Für die Chinesen ist der Westen das Nirwana. Wir nennen es die „Welt der
äußersten Glückseligkeit“. Das bedeutet also, daß der Grashüpfer alt ist, er
hat all sein Glück und seine gesunden, goldenen Tage erlebt, und nun geht er
nach Westen, ins Nirwana - einfach gesagt, in den Tod.
Und es stehen zwei Gedichtzeilen da, siebensilbige Zeilen.
Die beliebtesten Poesieformen im Chinesischen sind entweder fünfsilbig oder
siebensilbig, das heißt also, entweder fünf Zeichen je Zeile oder sieben
Zeichen je Zeile. Die chinesische Sprache ist eine einsilbige Sprache: Jedes
Zeichen, jedes Wortzeichen hat nur eine Silbe; wenn ich also sage,
siebensilbig, dann bedeutet das sieben Zeichen pro Zeile.
Wenn man das Gemälde betrachtet, ist man überwältigt von der Mischung aus
Zartheit, Auserlesenheit und meisterhafter Pinselführung. Trotzdem liegt das
eigentlich Wichtige nicht in dem Bild, nicht in dem Grashüpfer oder der
Zaunwinde, sondern diese dienen alle als Ergänzung zu dem Gedicht.
Das Gedicht besteht also aus den beiden Zeilen. Und was bedeutet es? Es
lautet: „Deinen Rinderzieher nehmen, Elsterbrücke überschreiten.“ Und die
zweite Zeile: „Damals zwei Tempel, aber frostfrei.“ Was soll das heißen?
Vielleicht sagen die Nichtchinesen, die Leute im Westen, deshalb manchmal:
„Red kein Chinesisch mit mir!“, wenn sie sagen wollen: Was soll das heißen?
(Lachen.) Es entzieht sich dem Verständnis, wenn man kein Chinesisch versteht
- das hier ist aber klassisches Chinesisch.
Der Künstler spricht direkt. Er ist der Grashüpfer! Der Grashüpfer
übernimmt die Rolle des Dichters. Er ist also gerade hier herausgekrochen, und
er spricht zu der Zaunwinde. Er sagt: Ich habe dich benutzt, du hast mir
geholfen, du bist die Rinderzieher-Blume. Die Zaunwinde heißt im Chinesischen
„Rinderzieher-Blume“. Und warum nennen die Chinesen die Zaunwinde
„Rinderzieher-Blume“? Weil die Zaunwinde nur dann blüht und sich nur dann
öffnet, wenn die Sonne aufgeht, sie beginnt in der frühen Dämmerung, sich zu
öffnen. Das ist die Zeit, wenn die chinesischen Bauern das Zugtier
herausholen, den Wasserbüffel, um ihre Felder zu bearbeiten.
Die Chinesen sagten also: Diese Blume sollte Rinderzieher-Blume genannt
werden, weil sie die Rinder ruft, aufzuwachen und uns zu helfen, sie zieht sie
zur Arbeit auf dem Feld. „Rinder-Zieher“ - in Großbuchstaben geschrieben - ist
also der Name der Zaunwinde im Chinesischen.
Also: Ich habe dich gebraucht, meine liebe Rinderzieher-Blume, und du hast
mir geholfen, über die Elsterbrücke zu kommen.
Hier gibt es noch mehr folkloristische und auch literarische Anspielungen.
Die Elster ist verbunden mit einer sehr traurigen chinesischen Geschichte, die
der von Romeo und Julia ähnelt. Sie handelt von einem unglücklichen Paar, das
unter einem schlechten Stern stand. Sie können sich nur einmal im Jahr
treffen. Die Frau ist ein himmlisches Wesen, sie ist eine Weberin im
Himmelspalast. Sie kommt auf die Erde und trifft diesen Hirtenjungen, der auf
seine Kühe aufpaßt; er ist also ein Rinderhirte - so etwas wie ein Cowboy. Und
sie verlieben sich, aber weil sie ein Himmelswesen ist, wird sie zurückgerufen
zum König des Himmelspalastes, und sie können sich nie wieder treffen. Aber
ein alter Büffel hat Mitleid mit ihnen, und als er stirbt, sagt er dem
Hirtenjungen: Du warst so gut zu mir, und ich mag dieses Mädchen, dieses
Himmelswesen, das du geheiratet hast und das in den Himmelspalast zurückkehren
mußte. Wenn ich sterbe, sollst du mir das Fell abziehen. Und wenn du dich in
jedem Jahr am siebten Tag des siebten Monats in dieses Fell hüllst, dann
kannst du fliegen. Und so will ich dir helfen, in den Himmel zu fliegen, daß
du deine Geliebte treffen kannst.“
Und auch die Elstern haben Mitleid mit den beiden unglücklichen Liebenden.
Am Himmel ist die Milchstraße, dieser Fluß, den man den Silbernen Fluß nennt.
Und die Elstern kommen in Schwärmen und legen sich in den Fluß, der nicht so
tief ist, und so kann der Hirtenjunge über ihre Körper laufen wie über eine
Brücke und so zu seiner Geliebten gelangen.
So lautet diese Geschichte.
Er sagt also: Meine liebe Zaunwinde, ich habe dich einst gebraucht, um über
die Elster-Brücke zu gelangen.
Aber was war damals mit den beiden Tempeln meines Kopfes? Mit den „beiden
Tempeln“ sind nämlich keine buddhistischen Tempel gemeint, sondern die beiden
Schläfen. Dort wächst das weiße Haar zuerst - wie bei mir. Es verbleicht
normalerweise als erstes an den Schläfen. „Aber damals war auf den beiden
Tempeln noch kein Frost.“ Warum wird das Haar des Chinesen weiß? Es wird weiß,
weil uns der Himmel Frost ins Haar schickt. Das bezieht sich also auf das
weiße Haar.
Worum geht es nun in dem Gemälde? Es ist die Erinnerung an die verlorene
Liebe, an das verlorene Glück, an goldene, gesundere Tage, an alles, was
verloren ist - aber einst gab es Liebe, es gab Schönheit, und sie sind es
wert, sich daran zu erinnern. Anstatt also zu weinen oder zu lamentieren,
statt einer schwermütigen Trauerbotschaft über diese Erinnerung nutzt der
Künstler diese sehr diskrete Weise, auszudrücken, woran er denkt.
Denken Sie daran, daß alle großen Künstler niemals vergessen, daß der
eigentliche Gegenstand aller Kunst immer der Mensch ist. So spinnen sie aus
poetischer Phantasie und großem Mitgefühl liebende, berührende und leuchtende
Werke. Dieser großartige chinesische Meister der Malerei, der Kalligraphie und
der Poesie ist da keine Ausnahme: Mit dieser scheinbar menschenlosen
Komposition bezieht er sich hier auf alle Erinnerungen des menschlichen
Geistes.
Die Hoffnung des großen Künstlers
Kommen wir nun schnell zum Finale. Es ist eines der charakteristischsten
Werke und eines der Meisterwerke Qi Baishis, würde ich sagen. 1948, nach dem
Chinesisch-Japanischen Krieg, als China acht Jahre lang unter einer
beispiellosen Invasion und den Grausamkeiten eines barbarischen Krieges
gelitten hatte, folgte unmittelbar darauf der Bürgerkrieg zwischen den
Kommunisten und den Nationalisten. Was konnte Qi Baishi tun, erfüllt von den
schmerzlichen Empfindungen und Gefühlen über das, was um ihn herum geschah? Er
war ja nur ein Künstler, kein Politiker und kein großer Militär. Was konnte er
tun gegen die schlechten Zeiten, in denen er lebte, jahrein, jahraus,
jahrzehntelang?
In seiner Verzweiflung und Trauer komponierte er dieses Gemälde. Man sieht zwei Küken, und er läßt bewußt den Schwanz des
einen Kükens (links) weg, was die Komposition dieses Bildes noch etwas
interessanter macht. Es ist sozusagen weniger pedantisch.
Sehen Sie, wie beide einander anstarren? Das ist meisterliche Pinselarbeit.
Und hier sieht man den Regenwurm, um den die beiden kämpfen.
Hat er wirklich nur zwei Küken gemalt, um uns zu unterhalten? Nein, denn
hier ist der Kern der Sache: Die vier Schriftzeichen sind des Pudels Kern. Die
beiden anderen Zeichen sind seine Signatur, sein literarischer Künstlername
war „Weißer Stein“. Das erste Zeichen bedeutet „weiß“, das andere „Stein“. Für
den Chinesen bedeutet weiß Reinheit und der Stein oder Fels bedeutet Ausdauer
und Tapferkeit.
Die vier Zeichen lauten ta ri hu xiang. Das Zeichen ta
bedeutet im modernen Chinesisch „er“; aber im klassischen Chinesisch
bedeutet es „der andere“ oder „ein anderer“. „Eines anderen Tages“ - ri
bedeutet Tag, das Bild dafür ist die aufgehende Sonne, es kommt von der Sonne
- alle chinesischen Schriftzeichen sind von einem Bild abgeleitet. Also „eines
anderen Tages“. xiang zeigte ursprünglich das auf einen Baum gerichtete
Auge eines chinesischen Bauern, er ist fasziniert von dem Baum, er will
wissen, wie alt der Baum ist, was für ein Baum es ist, und ob er sich dazu
eignet, ihn zu verfeuern oder Möbel daraus herzustellen. Von da ausgehend
erhielt xiang die Bedeutung „zueinander“ oder „miteinander“, eine
gegenseitige Beziehung. Meine Übersetzung dafür lautet „zueinander“. hu
bedeutet rufen, es beruht auf dem Mund. Er ruft also: „Halloooo!“ Wie drückt
er dieses „Hallooooo!“ aus, den langen Nachklang? Indem er einen Strich ganz
herumführt. Wenn man dieses Zeichen schreibt, zieht man diesen Strich
normalerweise nur bis hierher, etwas in die Höhe. Aber er führt ihn ganz
herum.
Das bedeutet: 1948, als der Bürgerkrieg tobte, war er untröstlich. Im
Grunde sagt er nun: Kommunistischer Nationalist oder nationalistischer
Kommunist, ihr kämpft jetzt um China. Aber erinnert euch daran, daß wir alle
Chinesen sind. Eines Tages, so hoffe ich, eines Tages, wenn der Sturm kommt
oder der Schneesturm oder Regen, dann wirst du zu einem großen Hahn
herangewachsen sein, ebenso wie ich. Wir sind Brüder, wir sind Geschwister,
wir sind zusammen aufgewachsen. Jetzt sind wir sehr unwissend, wie sind kleine
Kinder, wir streiten uns um einen Regenwurm. Aber eines Tages, wenn wir
erwachsen sind, egal an welchem Tage, und du aus dem Nachbardorf in drei
Kilometern Entfernung rufst, werde ich es hören, und ich werde rufen. Ich
werde sagen: „Hallo, mein Bruder, bis du auch noch da?“ Und der andere Hahn
wird antworten: „Ja, ich bin auch noch da, und ich wünsche dir alles Gute. Wir
sind also immer noch Geschwister. Wir bleiben Geschwister.
Das ist die Hoffnung des großen Künstlers, sein Mitgefühl, seine
Leidenschaft, sein Wunsch, daß die beiden Parteien, die sich im Krieg
befanden, zu einem Frieden gelangen. Vielleicht nicht mehr zu seinen
Lebzeiten, aber eines Tages, wenn sie beide erwachsen geworden sind. Und
tatsächlich hat sich der Präsident von Taiwan mit dem Präsidenten der
Volksrepublik China getroffen, und ich denke, Qi Baishis Traum hat sich
erfüllt.
Er nutzt also sein Gemälde, um über Politik zu sprechen, über den Krieg,
über die menschlichen Kämpfe und Konflikte - den schrecklichen, blutigen
Krieg. Aber er nutzt dazu Schönheit und Kunst und Poesie.
Ich weiß, ich habe schon überzogen, ich muß also schnell zum Ende kommen.
Ich möchte noch etwas anderes sagen, was mein Favorit Tennessee Williams,
meiner Meinung nach der größte Dichter und Dramatiker Amerikas, gesagt hat:
„Welche Werkzeuge haben wir, welche Worte, Bilder, Farben, Musik, Ritzereien
auf unseren einsamen Höhlen?“ Ich denke, wenn Qi Baishi diese Worte gehört
hätte, hätte er Williams vollkommen zugestimmt.
Vielen Dank.
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