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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Die Macht der Musik erlernen

Der folgende Dialog befaßt sich auf konkrete Art und Weise mit der Macht der Musik. Es wird darin erläutert, warum und wie junge Menschen die Kunst der Belcanto-Stimme erlernen müssen, um sich diese Macht anzueignen. Es handelt sich um einen Auszug aus einem Gespräch zwischen der Exekutivdirektorin der Foundation for the Revival of Classical Culture (Stiftung für die Wiederbelebung der klassischen Kultur) Lynn Yen und der Sopranistin und Gesangspädagogin Carmela Altamura, Initiatorin der Organisation Inter-Cities Performing Arts und des Internationalen Altamura-Caruso-Gesangswettbewerbs.

    Lynn Yen: Wie die englische Sprache inzwischen gesprochen wird, das ist eine Katastrophe.

Carmela Altamura: Es liegt alles im Sprechen! Kunst fängt mit dem Sprechen an!

    Yen: Man hört das sofort, wenn man einfach nur eine Rede von John F. Kennedy anhört und das mit einer beliebigen Rede von heute vergleicht.

Altamura: (Sie beschreibt die Arbeit mit einem ihrer Gesangsschüler.) Er ist ziemlich gut. Er benutzt mich als Resonanzboden. Und ich sage: ,Nein, nein, nein, deine Diktion. Deine Diktion! Du machst das zu angestrengt. Und dann wird dein Kiefer zu steif. Man versteht es nicht. Sprich auf den Vokalen, sprich auf den Vokalen! Beachte die Betonungen! Setze die Betonungen so, wie sie normal fallen.“ Mein Gott, das dauert eine Ewigkeit!

    Yen: So wurden die Umstände geschaffen, unter denen der Verfall der Kultur sich immer mehr beschleunigt.

Altamura: Überall beschleunigt sich der Verfall. Ich bin sehr froh, daß Sie es ansprechen.

    Yen: Unserer Ansicht nach gibt es nur ein wirksames Mittel, um das heute anzupacken.

Altamura: Das ist der Belcanto-Gesang.

    Yen: Richtig. Das ist der einzige Weg.

Altamura: Der einzige.

    Yen: Die jungen Menschen stellen sich nicht dagegen.

Altamura: Aber die Lehrer! Die haben keine Ahnung.

    Yen: Stimmt.

Altamura: Sie haben überhaupt keine Ahnung.

    Yen: Das Gute an der schlechten Situation heute ist, daß im Bildungswesen ein solches Chaos herrscht, daß sie jeden einladen, der auch nur annähernd eine gute Idee hat, worauf die Schüler positiv reagieren... Meiner Überzeugung nach brauchen wir eine Art Grundsatzbeweis, indem man eine Auswahl junger Schüler nimmt und demonstriert, daß wir sie prinzipiell in einer ziemlich kurzen Zeit auf eine höhere Ebene des Ausdrückens einer Idee bringen können.

Altamura: Sie auszudrücken, genau.

    Yen: Und um das zu erreichen, haben wir zunächst damit angefangen, daß die Leute sich mit Händels Messias beschäftigen - nicht weil der Text Englisch ist, sondern weil sie sich, da es ein englischer Text ist, nicht beklagen können, sie wüßten nicht, was der Text bedeutet. Aber ihr gesprochenes Englisch...

Altamura: Die Vokalformation in der Bandbreite der gesprochenen Sprache ist italienisch, egal was man singt.

    Yen: Richtig.

Altamura: Egal in welcher Sprache. Ob das Chinesisch ist oder Japanisch oder Russisch... Alle großen Sänger haben diese Vokalformation. Dazu gehören der Registerwechsel und die Register. Wenn man die Register wechselt, macht man es nicht mehr künstlich. Man macht es im Geist.

    Yen: Aha, ich verstehe.

Altamura: Es ist der Geist, der den Stimmbändern sagt, wieviel Spannung sie brauchen.... Und es muß mühelos aussehen, ganz mühelos. Und der Geist gibt den Stimmbändern, die wirklich winzig sind, Befehl, sich anzuspannen, gerade genug.

Man muß es sich vorstellen, wie wundervoll Gott uns geschaffen hat, daß wir so etwas können. Und der Geist hört die Note, das ist der Grund, warum ich alle Schüler das langsam üben lasse, damit ihr Herz da drin verfeinert und entwickelt wird. Alle wollen schnell singen - Fast Food. Ich sage Ihnen: „Moment mal! Moment! Gebt doch euren Muskeln eine Chance.“

Wenn man das Intervall von c nach d singt, ist das nur eine kurze Distanz. Aber wenn man ein Intervall von c nach a singt, die Sexte, dann ist das länger. Es braucht mehr Zeit. Auch für das Gehirn. Man braucht Zeit, das auszudrücken, alles dauert länger. (Sie singt das Intervall zweimal auf unterschiedliche Weise.) Deshalb plazieren sie (heutige Sänger) die Abstände nicht gut. Sie plazieren die Melodien nicht richtig. Daran erkennt man immer, wer wirklich professionell ist. Die Sänger müssen Instrumentalisten werden und die Instrumentalisten Sänger.

    Yen: Genau.

Altamura: Bitte vergeben Sie mir, wenn ich Sie mit alledem langweile, aber ich sehe, daß ihr auf dem richtigen Weg seid.

    Yen: Nein, das ist sehr wichtig. Schauen Sie, wir schleichen uns quasi an die Leute heran. Wir wollen nicht einfach sagen - weil das so auch nicht wirklich stimmt -: „Leute, ihr seid alle hoffnungslos ungebildet.“ Wir möchten, daß die Menschen die Erfahrung machen: „Wir können es viel besser.“ Und wenn man es besser macht und besser klingt...

Altamura: Es geht um die Qualität. Die Qualität! Jede Stimme, alles, was Gott geschaffen hat, hat eine eigene innere Qualität, wenn sie richtig ausgebildet wird. Ob es Lieder sind, Oratorien, ob Oper, Operette, wir suchen immer nach der besten Qualität, die man produzieren kann. Und die meisten heute treffen die Tonhöhe nur ungefähr. Sie singen, aber nie wirklich in der präzisen Tonhöhe. Immer nur angenähert. Das macht mich wahnsinnig! (Sie singt einige ungenaue Intervalle vor.) Mensch, Leute! Das macht mich wahnsinnig! Alles nur angenähert. Aber es ist nichts angenähert! Die Achse, die die Welt zusammenhält, dreht sich mathematisch. Alles ist geordnet.

    Yen: Dazu kommt das Konzept der Resonanz in der richtigen Stimmung, deshalb hat Verdi dafür gekämpft. Wenn man das als Prinzip im Geist eines Schülers verankern kann, dann und nur dann kann er das Konzept der Wahrheit wirklich verstehen.

Altamura: Aber wissen Sie ..., wir müssen ihnen das Herausragende beibringen. Denn sie verlangen viel zuwenig von sich. Wir müssen die Latte höher legen. Heute wird so ein Müll als Kunst toleriert. In Wirklichkeit ist das doch nur eine Ausrede, um Aufmerksamkeit zu erregen.

    Yen: Es ist furchtbar. Man sieht es an der Carnegie Hall, am Lincoln Center... Dort ist es sogar am schlimmsten.

Altamura: Und das ist schockierend!

    Yen: Dort wird die Latte immer tiefer gelegt. Und das Publikum hat keine Ahnung.

Altamura: Es kann nicht zwischen Vergnügen, Unterhaltung und Kunst unterscheiden. Das sind drei völlig verschiedene Dinge. Man kann von allen angetan sein, aber wo auch immer muß es herausragend sein. Und dann gibt es da den schmalen Pfad des Herausragenden in der wahren Kunst. Das erfordert viel Zeit und lange Vorbereitung. Viele fühlen sich berufen, aber nur wenige sind es. Denn das erfordert außergewöhnlich viel Liebe. Und man muß sich von der Idee verabschieden, daß man es bequem hat und Geld hat und all das. Das kommt dann von selbst. Gott gibt uns die Mittel, das zu erreichen, wozu er uns berufen hat. Solange wir ehrlich suchen... „Sucht als erstes das Königreich Gottes, und alles andere wird euch zufallen.“ Das Herausragende, das ist das Königreich... Man soll den Schülern keine Angst machen, aber man muß die Latte immer höher legen, Tag für Tag, immer ein bißchen höher. Sie ersteigen den Berg und merken es gar nicht! Und dann schauen sie plötzlich zurück und denken: „Bin ich das wirklich?“