Schönheit ist eine politische Notwendigkeit
Helga Zepp-LaRouche sprach am 13. Januar im
LPAC-TV-Videoprogramm „Ein Neues Paradigma für die Menschheit“ mit Megan Beets
über die politische Bedeutung der Schönheit.
Megan Beets: Wir befinden uns in einer äußerst ominösen
globalen strategischen Lage. Das globale Finanzsystem ist jetzt in die Phase
seines endgültigen Zusammenbruchs eingetreten, und ohne den Schutz von
Franklin Roosevelts [Trennbankengesetz] Glass-Steagall müssen wir mit der
totalen Enteignung der Bevölkerung und steigenden Sterberaten rechnen. Wir
haben im Falle Griechenlands und in verschiedenen Teilen der Vereinigten
Staaten schon gesehen, wie so etwas abläuft. Und das ist genau das, wovor ihr
- du und dein Ehemann - gewarnt habt: Wenn kein völlig neues System kommt,
dann steht der Welt eine Phase des Absturzes in ein finsteres Zeitalter
bevor.
Das geht Hand in Hand mit einer wirklichen Eskalation der Kriegsgefahr, man
sieht das an den zunehmenden Provokationen gegen China, so wie gerade diese
Woche in der Situation um Korea. Die Welt steckt wirklich in einer
dramatischen Eskalation. Wir müssen in den kommenden Tagen und Wochen
entscheiden, in welche Richtung die Welt gehen will.
Und wie ihr, du und dein Ehemann, gesagt habt: Es gibt keinen pragmatischen
Weg aus der Krise. Herr LaRouche hat oft gesagt, daß man die Menschheit nur
retten kann, indem man das Britische Empire auflöst. Und du selbst hast es oft
so formuliert, daß die Menschheit beschließen muß, mit dem gegenwärtigen
System zu brechen und in ein völlig neues Paradigma einzutreten, das auf
vollkommen neuen Prinzipien beruht.
Ich denke, die Bevölkerung spürt das allgemein immer stärker, daß die
Menschheit den Weg, auf dem wir uns bisher befunden haben, nicht weitergehen
kann, und daß etwas neues notwendig ist. Aber es fällt den Menschen oft
schwer, auch nur im Ansatz darüber nachzudenken, was dieses neue System sein
kann, wie es aussehen könnte oder sollte: welche Prinzipien sind wirksam
genug, um die Menschheit in eine schönere neue Zukunft zu führen?
Die wesentlichen Ideen Schillers
Dafür sind, denke ich, die Ideen von Friedrich Schiller wesentlich, ganz
besonders für unser amerikanisches Publikum, dem er fast völlig unbekannt ist.
Du bist ja mit Schiller schon seit deiner Jugend sehr gut vertraut, und ein
großer Teil deines Denkens und deiner erfolgreichen politischen Arbeit in den
letzten Jahrzehnten baut auf seinen Ideen auf. Das ist der Grund, weshalb ich
dich heute eingeladen habe und damit die Diskussion eröffnen möchte.
Nur noch ein paar Bemerkungen, um Schiller für unser Publikum einzuordnen:
Friedrich Schiller wurde 1759 in Deutschland in der Nähe von Stuttgart
geboren. Er starb 1805, noch jung, in Weimar. Viele kennen ihn vielleicht
durch sein großartiges Gedicht An die Freude, das Beethoven in seiner
berühmten 9. Sinfonie vertont hat. Aber Schiller war mehr als ein Dichter, und
darauf werden wir wohl gleich noch eingehen. Er war auch ein großer
Dramatiker, ein großer Historiker und ein großer Denker - und auch, wie du
einmal gesagt hast, ein Psychologe.
Was mir in allen seinen Werken am meisten auffällt, ist die unbeirrbare
Entschlossenheit, mit der Schiller an der Idee festhält, daß es nicht nur
möglich, sondern sogar notwendig ist, eine moralische, gerechte und gute
Gesellschaft zu schaffen, damit die Menschheit erwachsen werden kann. Und wenn
man den heutigen Kriegszustand - den Kampf zwischen dem Wahnsinn des heutigen
finsteren Zeitalters und der Renaissance - als eine Art Pubertät der
Menschheit betrachtet, dann kann die Menschheit wirklich diesen Zustand hinter
sich lassen und erwachsen werden.
Allerdings ist diese Vorstellung für die heute lebenden Menschen, besonders
in der transatlantischen Welt, so weit entfernt von dem, was sie um sich herum
erleben, daß es ihnen schwer fällt, sich auch nur vorzustellen, daß das
überhaupt möglich sein soll.
Wie wir dem Finsteren Zeitalter entkommen können
Helga Zepp-LaRouche: Nun, aus meiner Sicht denke ich,
Friedrich Schiller hat dieses Menschenbild wunderschön entwickelt. Ich kenne
keinen Denker auf der Welt, in irgendeiner Kultur, der ein schöneres Bild von
dem entworfen hat, was der Mensch sein kann. Und angesichts der
Tatsache, daß wir in einem finsteren Zeitalter leben, wie du schon richtig
erwähnt hast, in dem Barbarei und Verfall herrschen, ist das wohl das
unmittelbar notwendige Gegenmittel dagegen.
Zu Schillers Zeit scheiterte leider die Französische Revolution in Europa.
Es gab die Amerikanische Revolution, und das war es, wonach alle großen
Republikaner strebten. Sie hofften, daß sie das oligarchische
Gesellschaftssystem in Europa umstürzen und statt dessen ein System nach dem
Vorbild der Amerikanischen Revolution gründen könnten. Der Anfang der
Französischen Revolution ging hoffnungsvoll in diese Richtung, aber dann
setzte sich der Terror der Jakobiner durch, und die Hoffnung verschwand. Und
an diesem Punkt schrieb Schiller die Ästhetischen Briefe, denn er
fragte sich: Wie kann es sein, daß solch eine Chance, ein Moment voller
Möglichkeiten, vertan wurde? Und er entwickelte dann die Idee der ästhetischen
Erziehung des Menschen, denn seine Antwort war: „Der freigebige Augenblick
findet ein unempfängliches Geschlecht.“ Die objektiven Voraussetzungen einer
politischen Veränderung waren gegeben, aber die moralischen Voraussetzungen
fehlten, und deshalb kam er zu dem Schluß: „Alle Verbesserung im Politischen
soll von Veredlung des Charakters ausgehen.“
Und das ist eine meiner tiefsten Überzeugungen für die Gegenwart, daß es
unmöglich ist, die politische Lage zu verbessern, wenn man die Menschen nicht
zu besseren Menschen macht. Denn sonst könnte es zwar andere demokratische
Arrangements, andere Koalitionen geben, aber solange die Menschen schlechter
werden - und derzeit werden sie schlechter -, führt der Vektor der Entwicklung
abwärts.
Daher fragt Schiller in den Ästhetischen Briefen: Aber wie kann sich
unter den Einflüssen einer barbarischen Staatsverfassung der Charakter
veredeln - und das ist sicherlich der heutige Zustand - und wenn die Massen
verkommen sind? Und auch das ist heute der Zustand.
Klassische Kunst zur Veredelung der Menschen
Er gelangt dann zu der für einige Menschen sehr überraschenden Antwort, der
einzige Weg, die Menschen dazu zu bringen, daß sie sich selbst veredeln, sei
die klassische Kultur. Und das ist genau der Schluß, zu dem auch wir gelangt
sind: Wenn man nicht an das höhere Selbstverständnis des menschlichen Geistes
appelliert, das jeder Mensch haben kann, dann kann man keinen Erfolg
haben.
Das war eine weitere Idee Schillers. Er sagte: „Jeder individuelle Mensch,
kann man sagen, trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen,
idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen
seinen Abwechselungen überein zu stimmen, die große Aufgabe seines Daseins
ist.“
Und ich finde, das ist auch eine sehr schöne Antwort auf die Frage: Warum
sind wir hier? Warum sind wir auf dem Planeten Erde? Was ist der Zweck unserer
Existenz?
Uns selbst soweit zu veredeln, daß wir dem idealischen Menschen in uns so
ähnlich wie möglich werden, und dies dann dazu nutzen, den Fortschritt der
Menschheit insgesamt voranzutreiben - das ist eines der anderen Ziele, von
denen Schiller schreibt, beispielsweise in seiner wunderschönen Schrift
Über die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon, wo er sagt, der Zweck der
Menschheit ist Fortschreitung. Das ist sehr einfach...
Beets: ... aber das ist heute sehr umstritten...
Zepp-LaRouche: O ja! Ich begeistere mich noch immer genauso
für Schiller wie zu der Zeit, als ich noch ein Schulmädchen war.
Die unveräußerlichen Rechte der Menschen
Beets: 1984 hast du das Schiller-Institut gegründet, und
dessen Gründungsdokument war die „Erklärung der unveräußerlichen Rechte aller
Menschen“, eine nur ganz leicht veränderte Version der amerikanischen
Unabhängigkeitserklärung. Seit jener Zeit hast du mit dem Schiller-Institut in
Ländern rund um die Welt ein gewaltiges politisches und kulturelles Werk
angeführt, nicht bloß in den Ländern der sogenannten westlichen Welt.
Vielleicht kannst du etwas darüber sagen, wie wichtig es ist, daß das
Schiller-Institut und seine politische Arbeit sich auf Schiller stützen, und
was dadurch eröffnet wurde?
Zepp-LaRouche: Die Idee hinter dem Schiller-Institut war, ein
Institut zu gründen, um die auswärtigen Beziehungen, die Beziehungen zwischen
den Staaten zu verbessern, weil ich den Eindruck hatte, daß die Beziehungen
zwischen den Ländern schrecklich sind. Sie beruhen auf Unterwanderung,
Putschen, gewaltsamen Interventionen und allen möglichen anderen schrecklichen
Dingen. Und ich war überzeugt, daß der einzige Weg zu einer der Würde des
Menschen wirklich angemessenen Außenpolitik der ist, daß man an die besten
Traditionen des anderen Landes anknüpft.
Mit anderen Worten: In den Beziehungen zu Amerikanern will ich mich auf
Lincoln beziehen oder auf John Quincy Adams oder einige andere große
Präsidenten. Wenn sich die Menschen auf Deutschland beziehen, dann möchte ich
nicht, daß sie die Geschichte auf die zwölf Jahre am tiefsten Punkt beziehen,
sondern daß sie an die Höhepunkte denken, an Cusanus, an Kepler, an Leibniz,
Schiller, Beethoven. Und bei allen anderen Ländern ist es dasselbe. Als ich
dann darüber nachdachte, welcher Mensch am besten wäre, um dieser Idee einen
Namen zu geben, entschied ich mich für Friedrich Schiller.
Ich denke also, daß diese Idee der ästhetischen Erziehung des Menschen die
absolut wichtigste Zutat der heutigen Weltpolitik ist - genauso wie schon zu
seiner Zeit.
Aristoteles überwinden
Beets: Möchtest du noch mehr über die ästhetische Erziehung
sagen? Was bedeutet sie, und ist Schiller der einzige, der davon spricht?
Zepp-LaRouche: Nicht ganz. Die Idee der ästhetischen
Erziehung hat sich langsam entwickelt. Sie war eigentlich die Antwort auf
Aristoteles. Aristoteles sagte, der Schauspieler solle auf die Bühne gehen und
dort seinen Gefühlen Ausdruck geben. Wenn er eine wütende Person spielt, dann
sollte er wütend sein, wenn er eine traurige Person spielt, sollte er traurig
sein. Daraus entwickelte sich die Schule der Rhetorik, die sagte: Es muß nicht
wahr sein, es muß nur überzeugend sein. (Wenn man sich die heutige Politik
anschaut - ich will hier nicht gewisse Präsidentschaftskandidaten in den
Vereinigten Staaten namentlich nennen, aber sie tun genau das: Sie peitschen
die Leute emotional enorm auf, und die Menschen fallen darauf herein.) Wie
verwendet man Rhetorik, um an das Gefühl der Menschen zu appellieren? Doch
wahr muß es nicht sein.
Die ästhetische Erziehung war genau das Gegenteil: Ihr Ziel ist die
Entwicklung des inneren Menschen, die innere Ausrichtung auf Freiheit der
Seele. Man muß die Menschen so erziehen, daß sie schöne Seelen werden.
Als ich eine junge Frau oder noch ein Mädchen war, war ich von dieser Idee
der schönen Seele schon ganz fasziniert. Ich schaute mich um und sah, daß die
meisten Mädchen sich viel Gedanken über ihr Äußeres machten, wieviel Make-up
sie verwenden sollten etc., und die Jungen darüber, wieviel Bizeps sie haben
sollten oder was auch immer. Aber wer kümmerte sich um die Schönheit ihrer
Seele?
Schiller hat die Vorstellung, daß man nicht bloß seinen Geist, den
Intellekt erziehen kann, sondern - durch die Schönheit - auch seine Emotionen.
Und wenn man schließlich dieses Ziel erreicht und einer schönen Seele
nahekommt, dann kann man seinen Emotionen blind vertrauen, weil sie uns
niemals etwas anderes sagen werden, als uns die Vernunft raten würde. Seine
Definition einer schönen Seele ist es, daß es eine Person ist, für die
Freiheit und Notwendigkeit, Pflicht und Neigung ein und dasselbe sind. Und
später sagt er, der einzige Mensch, für den dieser Zustand gegeben ist, ist
das Genie. Aber er sagt auch, daß jeder Mensch ein Genie werden kann. Und das
ist das eigentlich Schöne.
Republikanismus contra Oligarchie
Dies ergab sich aus seiner zutiefst antioligarchischen Überzeugung. Er war
meines Wissens einer der ersten, wenn nicht der erste überhaupt, der zwischen
dem oligarchischen System und einem republikanischen System unterschieden
hat.
Ich erwähnte schon seine Schrift über Solon und Lykurg, worin er Solons
Staatsmodell beschreibt, das auf dem Naturrecht und auf dem gemeinsamen
Interesse der Menschen als Orientierung der Menschheit beruht, und dies mit
Sparta vergleicht, dem oligarchischen Modell, wo eine kleine Elite die Massen
unterdrückt. Er hatte die Vorstellung, daß die Oligarchie verschwinden wird,
wenn jeder Mensch sich zu einer schönen Seele entwickelt, weil die Menschen
dann selbst denken und sich selbst lenken.
Das fehlt den meisten Menschen heute. Die Menschen haben vollkommen
vergessen, sich selbst zu regieren, selbst zu denken - es gibt keine innere
Freiheit. Die Menschen beschweren sich über alle möglichen äußeren Tyranneien
und Diktaturen usw., aber die größte Tyrannei ist meiner Meinung nach die
Unfähigkeit, sich selbst zu lenken.
Wie ich schon sagte, ich kenne niemanden, der sich so sehr mit der Idee der
inneren Freiheit befaßt hat. Und Schiller definiert Schönheit als Freiheit in
der Erscheinung, und ich denke, daß dies für heute äußerst wichtig ist.
Beets: Kannst du noch etwas mehr zu der Freiheit in der
Erscheinung sagen?
Zepp-LaRouche: Seine Vorstellung von Schönheit war weit
entfernt von den sinnlichen Eindrücken. Er sagte, es müsse einen Zustand der
Schönheit geben, der im Grunde eine Idee ist, die in der Vernunft gründet.
Eine Idee geht nicht aus der Destillation der Sinneseindrücke hervor, wie die
englischen Aufklärer behaupten. Die englische Aufklärung hatte im Grunde die
Vorstellung, der Mensch würde als eine tabula rasa geboren, und wenn
man mit dem Kopf gegen die Wand rennt, dann sei das ein Sinneseindruck, aus
dem man dann eine geistige Vorstellung entwickelt. Ziemlich lächerlich.
Schiller sagt dagegen: Nein, man muß eine Vorstellung von Schönheit haben,
und wenn man etwas Schönes in der Realität findet, was mit ihr übereinstimmt,
dann ist das ein glückliches Zusammentreffen. Aber das bedeutet nicht, daß
diese Idee der Schönheit aus den Sinneseindrücken hervorgeht. Und die Idee der
harmonischen Entwicklung, die Idee der Freiheit in der Erscheinung, stimmt
genau damit überein.
Man muß wissen, daß in den 1790er Jahren, als Schiller viele seiner
ästhetischen Schriften verfaßte, Kants Gedanken sehr verbreitet waren. Kant
hatte die Vorstellung, daß man ein moralisches Gesetz braucht - den
sogenannten kategorischen Imperativ, daß man anderen nichts antun soll, was
man nicht selbst erleiden will - und daß man Regeln braucht, denen die
Menschen gehorchen müssen.
Überwindung der Verrohung der Bevölkerung
Diese Vorstellung empörte Schiller. Er sagt, wir lieben unsere Freiheit so
sehr, daß wir uns gar nicht erst mit den Prozeduren befassen wollen, mit denen
ein Mensch sich selbst zwingt, moralisch zu sein. „O je, ich muß moralisch
sein!“ Da gehen Menschen in die Kirche und sagen, ich muß moralisch sein - und
am Montag verhalten sie sich dann wieder genauso schweinisch wie am
Samstag.
Er dagegen sagt, im Grunde sollte es die innere Überzeugung sein, die einen
leitet. Und die Schönheit ist sowohl sinnlich - da sie ja offensichtlich den
Sinnen gefällt -, aber sie ist auch eine Emotion, die aus der Vernunft geboren
ist. Und er war überzeugt, daß eine Kunst, die nicht schön ist, gar nicht als
Kunst bezeichnet werden sollte, weil es keine Kunst ist. Nur wenn etwas schön
ist, erhebt es die Menschen. Und ich sehe das genauso. Diese Ansicht ist heute
nicht sehr populär, aber ist stimme damit durchaus überein.
Beets: Richtig, es widerspricht sehr den verbreiteten
Ansichten. Aber ich denke, das führt uns noch zu etwas anderem, woran ich
dachte. Was du sagst und was Schiller sagt, ist, daß jeder in der Gesellschaft
einen Grad des Genies anstreben und erreichen kann, und daß in jedem das
Potential steckt, daß seine Impulse mit dem Guten und mit der Vernunft
übereinstimmen.
Das erscheint wohl als eine ziemlich unmögliche Vorstellung, wenn man sich
in der heutigen Gesellschaft umschaut. Aber ich denke, was du hier in Bezug
auf die Kunst und die Kultur im allgemeinen angesprochen hast, das ist eine
Aufgabe der Gesellschaft. Es ist etwas, was als ein Selbstverständnis in einer
ganzen Kultur und in einem ganzen Volk geteilt wird, und es vermittelt ein
Verständnis, auf welchem Weg man die Masse des Volkes auf diese Ebene hinauf
erziehen kann.
Zepp-LaRouche: Ich denke, die große Kunst ist sehr, sehr
wichtig, weil wir heute eine Kultur haben, die stets vom Häßlichen zum noch
Häßlicheren voranschreitet. Jedesmal, wenn man meint, jetzt sei der absolute
Tiefstpunkt erreicht, erfindet irgendein perverser Satanist etwas noch
schlimmeres.
Ich denke, daß das Absicht ist. Das gehört zu einem oligarchischen System
dazu. Im Römischen Reich gab es das gleiche mit dem Zirkus und dem
Amphitheater, wo die Christen den Löwen zum Fraß vorgeworfen wurden oder die
Gladiatoren kämpften. Und der Kaiser fragte das Publikum, ob der Unterlegene
leben oder sterben sollte, und dann konnte man mit einem Zeichen des Daumens
darüber entscheiden, ob die Person getötet wurde. Und das hat man bewußt so
gemacht, um die Bevölkerung in die Verrohung einzubeziehen, denn wenn sie an
einem solchen Mord - und das war es ja faktisch - beteiligt waren, dann wurden
die Menschen schlimmer und lenkbarer.
In der großen klassischen Kunst hingegen - in der Musik ist das ganz
offensichtlich, aber auch in der großen Dichtung, in der Malerei, in der
Architektur, im Städtebau, in praktisch jeder Kunstform - spricht man die
Fähigkeiten des menschlichen Geistes an, wo die Kreativität angesiedelt ist.
Deshalb haben auch die großen Wissenschaftler - ich kenne da keine Ausnahme -
immer selbst musiziert, und die Musik förderte ihre Fähigkeit, Hypothesen zu
bilden.
Denn Kreativität besteht darin, daß man über etwas nachdenken muß, was bis
dahin noch gar nicht existiert hat. Man muß dazu den eigenen Geist in einen
spielerischen Zustand versetzen, in dem man bereit ist, über etwas
nachzudenken, was in dem bestehenden Wissenskörper noch nicht enthalten ist.
Man folgt den großen Kompositionen in der Musik oder studiert große klassische
Dramen oder betrachtet ein Gedicht - klassische Gedichte, nicht bloß Dadaismus
oder irgendwelche willkürlichen Phrasen. Große klassische Poesie ist äußerst
wichtig.
Man denke nur an den Unterschied zwischen Prosa und einem Gedicht. Die
Bedeutung des Gedichts liegt nicht in der Prosa, es zwingt deinen Geist, eine
höhere Ebene der Ideen zu schaffen - jenes Ungreifbare, das keine Masse und
keine Dimension hat, aber wirksam ist. Ideen sind das Wirksamste im Universum
überhaupt. Die große Kunst ist das, was den Geist in die Lage versetzt, diese
wunderschönen Dinge zu denken, die man Ideen nennt.
Beets: Ich habe gerade Humboldts Bericht Über Schiller und
den Gang seiner Geistesentwicklung gelesen, und er spricht darin über den
Moment im Gedicht, an dem man nicht mehr mit der Bedeutung der Worte
argumentieren kann. Man kann nur noch den Sprung der Hypothese zu dem neuen
Konzept vollziehen, über das gesprochen wird. Das können nur die Poesie und
die Kunst.
Zepp-LaRouche: Ja.
Empfindungsvermögen
Beets: Ich möchte folgendes fragen: In den Ästhetischen
Briefen beschreibt Schiller ein Konzept, das es in der englischen Sprache
in dieser Form nicht gibt; das deutsche Wort lautet
Empfindungsvermögen. Kannst du uns Amerikaner über dieses Konzept
aufklären?
Zepp-LaRouche: Schiller sagt an anderer Stelle auch, die
meisten Menschen in der modernen Zeit - also schon vor 200 Jahren - seien wie
verkrüppelte Pflanzen. Wer sich je als Gärtner versucht hat, der weiß
wahrscheinlich, daß die Pflanzen, wenn sie zu viel Licht bekommen, lang und
dünn werden. Wenn sie zuviel Dünger erhalten, dann sterben sie, genauso wie
wenn sie zuviel Wasser oder zuwenig Wasser bekommen.
Eine solche „verkrüppelte Pflanze“ ist also eine Person, die vielleicht
einen Aspekt des Potentials ihrer Persönlichkeit entfaltet hat, aber nicht in
einer harmonischen Entwicklung. Solche Leute haben vielleicht Fertigkeiten in
einem Gebiet, sie mögen gute Ingenieure sein oder gute Wissenschaftler, oder
gut in dem, was immer sie sind; aber sie sind nicht fähig, die gesamte
Menschenwelt in ihr eigenes Wesen aufzunehmen, geschweige denn das
Universum.
Dazu braucht man das, was Schiller das Empfindungsvermögen nennt. (Ich habe
mich bemüht, einen guten englischen Ausdruck dafür zu finden, aber ich kann es
nur in vielen Worten und nicht in einem einzelnen Begriff ausdrücken.) Ich
würde das als die Gesamtheit der Fähigkeit des Geistes und der Seele
bezeichnen, die Welt in sich aufzunehmen. Schiller sagt, die Entwicklung
dieser Fähigkeit sei die wichtigste Notwendigkeit seiner Zeit. Und wenn er
sich heute umschaute, dann würde er sagen: Mein Gott, es heute noch viel
wichtiger!
Daher denke ich, daß das Ziel der Entwicklung dieser Qualität heute
wirklich eine Herausforderung für uns alle ist.
In gewissem Sinne hatte das schon Lessing zum Ausdruck gebracht, der eine
Generation früher lebte und die deutsche Klassik vorbereitete. Er schrieb in
seinen Schriften zur ästhetischen Erziehung, die wichtigste menschliche
Eigenschaft sei das Mitleid, was in etwa in die gleiche Richtung geht. Und er
sagt, die Menschen sollten sich große klassische Dramen anhören und anschauen,
weil die unsere Gefühle erziehen, weil man dort größere Fragen als sonst im
Alltag im unmittelbaren Umfeld erleben kann.
Schiller schrieb diesen wunderschönen Aufsatz Die Schaubühne als
moralische Anstalt betrachtet. Er sagt darin, wenn ein einfacher Mensch,
vielleicht ein Bäcker oder ein Frisör, ins Theater geht und dort sieht, wie
sich das große Schicksal der Menschheit auf der Bühne abspielt, und wenn das
Schauspiel gut geschrieben ist, dann wird der Zuschauer sich mit der Figur auf
der Bühne identifizieren und auf diese Weise ein größerer Mensch sein als im
Alltag. Auf diese Weise könne man in spielerischer Art und Weise die Emotionen
einüben, die man für sein Leben braucht, aber im Alltag nicht findet.
Ich denke, das ist etwas, wozu wir wirklich wieder zurückfinden müssen. Das
ist der Grund, warum wir auf die Höhepunkte der Kultur zurückgreifen müssen,
wenn wir aus dem gegenwärtigen Niedergang herausfinden wollen.
Deshalb sollten wir uns ernsthaft mit allen diesen Künstlern befassen,
Schiller, Lessing und anderen. Denn die große Frage ist, wie wir in der
Menschheit jetzt die innere Stärke mobilisieren können, uns aus dem Abgrund
herauszuführen. Und wir befinden uns zweifellos in einem Abgrund. Wir stehen
am Rande eines Nuklearkriegs. Wir stehen mitten in einem neuen Finanzkrach,
und die Menschen sind darauf nicht vorbereitet.
Jeder ein König
Da mag es vielleicht wie eine Abweichung oder eine Ablenkung erscheinen,
wenn man dann sagt, wir müssen die große klassische Kunst betrachten. Man muß
beispielsweise Schillers Schauspiel Wilhelm Tell anschauen. Wilhelm
Tell ist sehr wichtig, denn darin ist der berühmte Rütlischwur, der die
Entschlossenheit des schweizerischen Volkes zum Ausdruck bringt, und der mit
dem Text der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung fast identisch ist. Oder
Don Carlos, wo Marquis Posa in der berühmten Szene zwischen König
Philipp und dem Marquis zu König Philipp sagt: „Werden Sie ein König von
Millionen Königen.“ Seien Sie kein König, der nur über Untertanen herrscht,
sondern lassen Sie jeden ein König sein.
Und ich denke, das ist eine wunderschöne Idee. Jeder sollte ein König sein.
Jeder sollte auf der höchsten Ebene der Menschheit stehen. Schaut euch diese
Dramen an, dort findet ihr die Konzepte, die uns aus dem heutigen erbärmlichen
Menschenbild herausführen.
Ich halte es für sehr wichtig, daß wir eine Renaissance-Bewegung haben, in
der die Menschen sich wirklich auf die höchste Ebene zurückbesinnen. Jede
Renaissance, die in der Geschichte der Menschheit jemals stattgefunden hat,
war nur möglich, weil die Menschen sich dem höchsten Ausdruck der Kulturen
früherer Zeiten zuwanden und dann sozusagen darin gebadet haben, es
absorbierten und dann etwas Neues schufen. Genau das müssen wir heute wieder
tun.
Beets: Das bringt mich auf etwas, worauf ich dich ansprechen
wollte, damit du es näher ausführst, nämlich die Rolle des Künstlers.
Ich denke, du hast das schon verschiedentlich berührt, aber Schiller hatte
eine ganz besondere Vorstellung von der Rolle und dem Selbstverständnis des
Künstlers in der Gesellschaft. Und man sieht, daß das bei anderen ein Echo
fand. Percy Shelley schrieb in seinem berühmten Aufsatz Verteidigung der
Poesie, allein die Dichter seien in der Lage, über die Schatten der
Zukunft nachzudenken und sie in die Gegenwart zu holen, und deshalb seien die
Poeten die wahren Gesetzgeber. Man sieht das später auch bei Einstein, der
sagte, Phantasie ist wichtiger als Wissen, weil man nur durch die Phantasie
Dinge erfassen kann, die nicht Teil der jetzigen Welt sind.
Meine Frage ist also: Kannst du die Rolle des Künstlers in einer
Herausforderung, wie du sie gestellt hast, näher beschreiben?
Die Künstler
Zepp-LaRouche: Schiller hat ein wunderschönes Gedicht
geschrieben - ich weiß nicht, ob es davon eine gute englische Übersetzung gibt
-, das heißt Die Künstler. Es ist eine der schönsten Darstellungen, wie
sich Wissenschaft und Kunst gegenseitig befruchten und wie die Kombination der
beiden zu einer harmonischen Persönlichkeit führt.
Er schrieb auch mehrere theoretische Schriften hierüber, u. a. mit einer
Kritik an den Gedichten Gottfried Bürgers. Bürger war ein Zeitgenosse
Schillers, er schrieb in einer völlig aristotelischen Art und Weise - wo man
seine Schmerzen herausschreit -, und er hatte eine schreckliche Vorstellung
davon, was Gedichte sein sollten. Schiller nahm das zum Anlaß, noch einmal
darzustellen, was die Geisteshaltung des Künstlers sein muß. So muß ein Poet
es beispielsweise wagen, sein Publikum zu rühren, sagt Schiller, weil gerade
der Künstler eine einzigartige Fähigkeit hat, das Herz zu rühren und in die
innersten Bewegungen der Seele hineinzureichen. Und weil er diese Kraft hat,
muß er auch an sich selbst den höchsten Maßstab anlegen. Schiller fordert, daß
sich der Künstler selbst veredelt, damit er in dem Moment, wo er seine Kunst
ausübt, ein idealischer Mensch ist.
Wenn man an bestimmte Dirigenten oder Sänger denkt, die wirklich gezeigt
haben, daß sie die Herzen der Menschen bewegen können, dann weiß man, daß sie
wenigstens im Moment der Aufführung die ganze Menschheit verkörpern. Sie
bringen die Idee der Menschheit zum Ausdruck...
Ich kenne viele Menschen, die exzellente Musiker sind. Ich habe im Lauf der
Jahre viele kennengelernt. Aber bei einigen wünschte ich, sie würden sich nur
mit Musik befassen, weil ihre schönste Menschlichkeit sich in dem Moment
zeigt, wenn sie das tun. Und ich habe mehreren von ihnen gesagt: Warum macht
ihr nicht die Zeiträume, in denen ihr nicht so seid, immer kürzer? Es ist
offensichtlich ein Prozeß der Vervollkommnung.
Schiller verlangt aber, daß der Künstler eine absolut sichere Kenntnis
davon hat, was seine Wirkung bzw. die Wirkung seiner Kunst auf sein Publikum
ist. Beim Publikum muß das ein freier [unwillkürlicher] Ausdruck sein, aber
der Künstler selbst muß sich darüber sehr genau bewußt sein.
Wie löst man dieses Paradox? Schiller sagt, die Auswahl dessen, was man
vorträgt, muß eine universelle Wahrheit ausdrücken. Es können nicht bloß
willkürliche Arabesken sein. Das steht in völligen Widerspruch zu Kant, der
sagt, eine Arabeske sei schöner als etwas, worin man den Plan des Autors
erkennt. Aber das Kunstwerk muß die Freiheit des Publikums hervorrufen, es muß
also universell wahr sein, und man muß diese innere Qualität des Publikums
fördern, die den Menschen wahrhaft frei macht.
Schiller war es mit dieser Frage sehr ernst. So schreibt er beispielsweise
im Vorwort zu seinem Schauspiel Braut von Messina, die Aufgabe der
Kunst sei es, „den Menschen nicht bloß in einen augenblicklichen Traum von
Freiheit zu versetzen, sondern ihn wirklich und in der Tat frei zu
machen“. Wenn der Mensch, der ein Konzert oder ein Schauspiel
besucht und von der Macht dieser Aufführung berührt ist und wieder hinausgeht,
dann bleibe diese Kraft.
Und ich habe festgestellt, daß das sehr wahr ist. Und wenn man etwas
Schreckliches anschaut, wie beim „Regietheater“ - diesen modernistischen
Interpretationen der großen klassischen Kunst - oder auch bei einem schlechten
Stück, dann geschieht dasselbe, nur in der umgekehrten Richtung. Ich habe
festgestellt, daß es mich noch tagelang verfolgt, wenn ich etwas Häßliches
anschaue, selbst wenn ich es nur zu klinischen Zwecken tue. Ich habe dann
diese schrecklichen Gefühle und Bilder in meinem Geist, und es ist schwer, sie
wieder loszuwerden.
Deshalb hat Platon beispielsweise dazu geraten, daß Kinder die Schauspiele
der großen griechischen Tragöden nicht anschauen sollten, weil dort Morde in
der Familie, Rache und blutige Gewalt dargestellt sind. Er sagte, solche
Häßlichkeiten dürften den Geist der Kinder nicht beeinflussen. Ich denke, wenn
Platon oder Schiller unsere modernen Fernseh-Unterhaltungssendungen sehen
würden, die alle voller Blut und Gewalt und Pornographie sind - vor allem aber
voller Gewalt -, dann würden sie sagen: Wie sollen Kinder eine Chance haben,
wahre Menschen zu werden, wenn man sie vom frühesten Alter an mit dieser
schrecklichen „Unterhaltung“ quält?
Daher denke ich, daß die Kunst die Ebene erreichen muß, die Schiller
fordert. Und ich bin überzeugt, daß das möglich ist.
Ich bin ziemlich sicher, daß auch Schiller dem zugestimmt hätte, auch wenn
ich keine Hinweise darauf habe, daß er die Werke des Nikolaus von Kues kannte,
aber der gleiche Geist zeigt sich auch in allen seinen Schriften. Kues sagt:
Wer einmal die Süßigkeit der Wahrheit - der Schönheit und der Wahrheit -
gekostet hat, der will keine andere Süßigkeit mehr. Deshalb, bin ich
überzeugt, daß die Menschen, wenn sie einmal Zugang zur großen klassischen
Kunst haben und ihre mächtige Wirkung erlebt haben, davon völlig begeistert
sein werden.
Beets: Du sagtest etwas über den Prozeß der Vervollkommnung,
und ich denke, daß du da nur vom Individuum gesprochen hast, dem individuellen
Künstler. Aber als wir gestern darüber sprachen, haben wir darüber auch vom
Standpunkt der Gesellschaft als ganzer diskutiert: Schiller vertritt das
Konzept des Ideals, aber nicht als ein feststehendes Ziel, sondern es ist
etwas, was die Gesellschaft immer weiter entwickeln kann. Und ich frage mich,
ob du das noch etwas weiter ausführen kannst.
Zepp-LaRouche: Schiller sagt beispielsweise in seinen
Ästhetischen Briefen - ich habe vergessen, wo genau, ich glaube im 11.
Brief - daß das Ziel die Richtung ist, und daß man es bereits erreicht hat,
sobald man sich in dieser Richtung bewegt.1 Das scheint paradox,
aber es ist wahr, denn Schiller hat das in seinen Werken - seinen Gedichten,
seinen Dramen - immer wieder gezeigt. Sie sind erfüllt von dieser Idee, daß es
zwischen dem kreativen menschlichen Geist und der Gesetzmäßigkeit des
Universums eine innere Übereinstimmung gibt.
Er schrieb sogar Gedichte darüber. Er hat zum Beispiel dieses wunderschöne
Gedicht über Kolumbus geschrieben, wie Kolumbus den Ozean überquerte und
Amerika entdeckte. Und er hat da diese Formulierung: „Mit dem Genius steht die
Natur in ewigem Bunde, / Was der eine verspricht, leistet die andre gewiß.“
Das ist diese Idee, daß es im menschlichen Geist etwas gibt, was ganz mit den
Gesetzen des Universums übereinstimmt, was auch gestern in der Diskussion des
Policy Committee gesagt wurde.2 Und dieser menschliche Geist ist
die treibende Kraft im Universum: Dein Geist ist Teil des Universums, und
nicht etwas, was nur beobachtet oder außerhalb steht.
Ich denke, das ist es, was die Menschheit immer weiter vorantreiben wird.
Schiller war überzeugt, daß es eine unbegrenzte Vervollkommnungsfähigkeit der
Menschheit gibt, und ich halte das für absolut wahr. Wenn man sich die
Geschichte anschaut, dann kennen wir nur vielleicht 10.000 Jahre oder nur 5000
Jahre der Geschichte, die durch Schriften oder in anderer nachvollziehbarer
Form überliefert wurden. Das ist ja fast nichts. Du sagtest, daß die heutige
Menschheit erst ein Teenager ist. Ich denke sogar, daß wir uns noch im
Embryonalzustand der Menschheit befinden, gemessen am Entwicklungspotential
der Menschheit.
Schiller in Amerika
Beets: Das ist eine wunderschöne Idee, ich hoffe, daß das so
ist.
Noch eine abschließende Frage, zumindest für heute. Unser letztes Thema,
das wir ansprechen sollten: Die Amerikaner kennen heute Schiller nicht mehr -
jedenfalls kaum einer. Aber das war nicht immer so. Wenn man ins 19.
Jahrhundert zurückschaut, da war Schiller sehr bekannt. In vielen
amerikanischen Großstädten stehen irgendwo in den Innenstädten und Parks
Schillerstatuen. Seine Schauspiele wurden aufgeführt. Was ist da geschehen?
Warum haben die Amerikaner diesen großen Denker verloren?
Zepp-LaRouche: Ich denke, du hast recht. Als 1859 sein 100.
Geburtstag gefeiert wurde, oder auch noch zum 100. Todestag 1905, da sahen
sich Tausende von Menschen seine Schauspiele auf Deutsch an - in Chicago, in
Philadelphia und vielen anderen Orten. Und die Menschen haben Schiller
wirklich geliebt, er war der beliebteste deutsche Dichter aller Zeiten. Und
soweit ich weiß, hat nach dem Zensus von 2012 ein Drittel der Amerikaner
deutsche Vorfahren. Das ist nicht wenig. Ein Drittel, das ist ein beachtlicher
Teil der amerikanischen Identität.
Das wurde aber leider durch Teddy Roosevelt völlig beseitigt, denn es gab
in Amerika eine anglophile Tradition; das waren im Grunde die Agenten des
Britischen Empire, die versuchten, die Amerikanische Revolution rückgängig zu
machen. Erst kam der Krieg von 1812, dann verbündeten sich die Konföderierten
[im Bürgerkrieg] mit dem Britischen Empire, und als dann schließlich Teddy
Roosevelt und später Woodrow Wilson Amerika auf der Seite Großbritanniens
gegen Deutschland in den Ersten Weltkrieg führten, da hat sich das radikal
verändert. Denn im 19. Jahrhundert gab es keinen Professor, der nicht entweder
in Deutschland, im Humboldtschen Bildungssystem studiert hatte oder Schüler
von jemandem war, der in Deutschland studiert hatte.
Der Einfluß der deutschen klassischen Kultur im 19. Jahrhundert war daher
gewaltig. Aber dann gab es diese Intervention, die wirklich Amerikas Identität
veränderte, indem Amerika in den Ersten Weltkrieg auf der Seite der Briten
eintrat, gegen die es die Amerikanische Revolution gemacht hatte. Dann war
alles Deutsche auf einmal verpönt. Die Menschen änderten ihre Namen, damit
deutsche Namen eher russisch oder polnisch klingen. Und dann folgte mit dem
Zweiten Weltkrieg und den Schrecken der Nazis die nächste Welle.
So wurde Amerika meiner Ansicht nach von den schönsten Teilen seiner
Tradition abgeschnitten, und Amerika wird sich wahrscheinlich nicht davon
erholen, wenn es diese Tradition nicht wiederentdeckt.
Beets: Okay, ich denke, das ist ein guter Abschluß. Möchtest
du unseren Zuschauern noch etwas sagen?
Zepp-LaRouche: Nein. Ich möchte nur, daß sie wissen: Es gibt
vier Bände mit exzellenten englischen Übersetzungen von Schiller. Wir mußten
unsere eigenen Übersetzungen anfertigen, weil es an guten Übersetzungen fehlt.
Um eine gute Übersetzung zu schaffen, muß man ein Dichter in beiden Sprachen
sein. Das ist nicht leicht, aber Will Wertz hat sehr gute Arbeit geleistet.
Wir haben vier Bände herausgegeben. Wer also anfangen will, sich damit zu
befassen, der muß uns nur schreiben und sich diese Bände besorgen, und ich
kann Ihnen versprechen, Sie werden sich nicht langweilen.
Beets: Gut! Vielen Dank.
Anmerkungen
1. „Vor einer Vernunft ohne Schranken ist die Richtung zugleich die
Vollendung, und der Weg ist zurückgelegt, sobald er eingeschlagen ist“, 9.
Brief.
2. https://larouchepac.com/20160111/lpac-policy-committee-show-january-11-2016
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