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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Zum 100. Geburtstag von Sylvia Olden Lee

Sylvia Olden wurde am 29. Juni 1917 in Meridian im US-Bundesstaat Mississippi geboren. Sie studierte und lehrte an verschiedenen amerikanischen und ausländischen Konservatorien, u.a. an der Cäcilienakademie in Rom und der Münchner Musikhochschule. Gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Violinisten und Dirigenten Everett Lee, arbeitete sie in den 50er und 60er Jahren auch in Deutschland und Schweden, und unterrichtete und begleitete viele der größten Sänger der Welt, darunter Marian Anderson, Paul Robeson, Elisabeth Schumann, Gerhard Hüsch, William Warfield, Jessye Norman und Kathleen Battle. Sie widmete sich begeistert der Ausbildung junger Sänger – auch solchen, die keine Berufssänger waren oder werden wollten. Der folgende Auszug stammt aus dem Aufsatz „Sie lehrte, mit der Seele zu singen“, der anläßlich ihres Todes 2004 in der Neuen Solidarität erschien.

* * *

Sylvia Olden Lees Vater war Pfarrer. „Daddy wurde 1884 geboren und war das jüngste von vier Kindern. Wie Mama mußte Daddy arbeiten, um das Fisk College, wo er 1906 ankam, besuchen zu können. Er mußte in der Studienzeit als Kellner arbeiten und beim Gottesdienst am Sonntagmorgen den Gesang anstimmen. Oft waren auswärtige Pfarrer zu Gast... Keiner wußte vorher, was sie sagen würden. Wenn der Pfarrer fertig gesprochen hatte und sich setzte, hatte Daddy die Aufgabe, im Chor als erster a cappella anzustimmen, was ihm die Predigt gerade als erstes eingab, zum Beispiel I never been to Heaven, but I been told... (Ich war nie im Himmel, doch man hat mir gesagt...) Dann fiel die ganze Kirche ohne Begleitung ein: I know the Lord's laid His hands on me. Oh the gates are of pearl and the streets are gold... (Ich weiß, der Herr hat seine Hand auf mich gelegt. Die Tore sind aus Perlen und die Straßen sind aus Gold.) Es war eine Art Negro Spiritual, a cappella gesungen. In der Gemeinde gab es nicht mehr als zehn Musiker, aber die ganze Gemeinde sang vierstimmig. He sees all you do (Er sieht alles, was du tust), sang Daddy, und sie antworteten: He hears all you say... (Er hört alles, was du sagst.) Jeden Sonntag etwas anderes.“1

Es ist unmöglich, das Spiritual getrennt von seiner Umgebung in der Kirche zu verstehen, genauso wie man Bachs Matthäuspassion nicht verstehen kann, wenn man sie als „Konzertstück“ auffaßt. Und für „Jauchzet Gott“ braucht man dieselbe Überzeugung und spontane Freude, die Sylvias Vater aus der sonntäglichen Predigt aufnahm und in den Antwortgesang umsetzte.

Ihre Familiengeschichte

Sylvias Großvater väterlicherseits war ein Sklave, der zu Beginn des Bürgerkriegs von der Oldham-Plantage in Kentucky entfloh, um sich der Unionsarmee anzuschließen. Ihr Urgroßvater Nelson Merry gründete 1853 die First Colored Baptist Church (die erste farbige Baptistengemeinde) in Nashville. Auch er war ein Sklave, 1824 geboren, und 1845 freigelassen, nachdem ihm der Pfarrer der weißen First Baptist Church das Lesen beigebracht hatte, obwohl das gesetzlich verboten war. (Die First Colored Baptist Church entstand als Ableger der ursprünglichen Gemeinde, der er von der Witwe seines früheren Besitzers bei ihrem Tode 1840 als Besitz vermacht worden war.)

Nelson Merry kam nach Nashville, weil seine Mutter, Sylvias Ur-Urgroßmutter väterlicherseits, – eine Indianerin – sich weigerte, den mörderischen „Zug der Tränen“ bis zu Ende nach Oklahoma mitzugehen. (Die Präsidenten Andrew Jackson und Martin van Buren ließen die Indianer aus Nord- und Südcarolina, Georgia, Alabama und Mississippi in die Große Amerikanische Wüste zwangsweise umsiedeln. Den „Marsch der tausend Meilen“ oder „Zug der Tränen“ 1838/39 überlebten von 18.000 Cherokee-Indianern wahrscheinlich nur die Hälfte.) Weil sie sich weigerte, weiterzulaufen, wurden ihre Kinder, darunter Sylvias Urgroßvater, an verschiedene Besitzer verkauft. Sylvias Großvater, Vater und Mutter studierten am Fisk College, das Mitglieder der American Missionary Association 1866 gründeten, um ehemaligen Sklaven die Grundlagen einer klassischen Bildung zu vermitteln.

Die Fisk-Universität sollte den befreiten Sklaven keine Bildung zweiter Klasse bieten wie sonst vielerorts, wo man meinte, die Schwarzen sollten nur lernen, was sie später im Berufsleben in einfachen Tätigkeiten bräuchten. So wird im Lehrplan von Fisk für den Musikunterricht betont, für die Grundstufe im Klavierspiel sei die Arbeit an Bachs Zwei- und Dreistimmigen Inventionen von entscheidender Bedeutung. Und es heißt im Englischen nicht 2-3 part inventions, eine Bezeichnung für Instrumentalmusik, sondern 2-3 voiced inventions, womit betont wird, daß diese Klavierstücke auf dem Klavier „gesungen“ werden müssen. Den Studenten wurde Unterricht in Griechisch, Hebräisch und Latein angeboten – oft im Zusammenhang mit religiösen Studien, aber auch als Teil der Allgemeinbildung.

Die Fisk Jubilee Singers

Sylvias Großvater, der Bürgerkriegsveteran, hatte eine Schwester, Elizabeth Merry, die auch in Fisk studierte und die dort Mitglied der berühmten Fisk Jubilee Singers war. Dieser Chor trug mehr als jeder andere dazu bei, das afroamerikanische Spiritual in der ganzen Welt bekannt zu machen. Auf zwei außergewöhnlichen Mammuttourneen stellten sie dem europäischen Publikum, insbesondere in Deutschland, Böhmen und England, diese Lieder vor – aber nicht als „Spezialität der Schwarzen“, sondern als Bestandteil des klassischen Programms, das der Chor vortrefflich beherrschte.

Keine 20 Jahre später wurden die Spirituals die Grundlage für das große Unternehmen von Johannes Brahms und dessen Schützling Antonin Dvorak, über Jeanette Thurbers New Yorker Nationalkonservatorium eine amerikanische Schule der Komposition klassischer Musik zu begründen. Vermittelt durch den Sänger, Musiker und Komponisten Harry Burleigh beschäftigte sich Dvorak eingehend mit dem Negro Spiritual – was ihm die lebenslange Feindschaft all derer in Europa und Amerika eintrug, die behaupteten, die Schwarzen seien grundsätzlich kulturell unterlegen. Obwohl das Vorhaben längst nicht so weit kam wie geplant, wurden diese Bemühungen von Dvorak und Brahms noch viele Jahrzehnte lang fortgesetzt, bis der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Frankfurter Schule dem ab den späten 40er Jahren ein Ende bereiteten.

Sylvias Mutter, eine hervorragende Pianistin und Sängerin, erhielt 1912 das Angebot, an der New Yorker Metropolitan-Oper zu singen, aber sie lehnte ab, als sie erfuhr, daß sie – sie war blond und blauäugig – sich dort als „Weiße“ ausgeben und ihre afroamerikanische Herkunft verleugnen sollte. Ihr Vater war Mitglied des legendären Fisk-Quartetts, dem auch der hervorragende Sänger Roland Hayes (1887-1977) angehörte, und später Pfarrer und Bürgerrechtskämpfer; in den 20er Jahren wurde er vom Ku-Klux-Klan aus Alabama vertrieben, als Sylvia ein kleines Mädchen war. Später setzte er durch, daß 1953 zum ersten Mal in den Südstaaten ein klassisches Orchester unter einem afroamerikanischen Dirigenten auftreten konnte. Der Dirigent, auch ein hervorragender Geiger, hieß Everett Lee und war Sylvias Ehemann.

Sylvia setzte es durch, daß die Metropolitan Opera afroamerikanische Musiker, die es verdienten, engagierte, indem sie erst selbst an der Met Gesangslehrerin wurde und dann im Jahr 1955 dem Met-Direktor Rudolf Bing vorschlug, einer Amerikanerin mit afrikanischen Vorfahren die Rolle der Ulrica in Verdis Troubadur anzuvertrauen. Es war Marian Anderson; sie sang tatsächlich in dem Jahr die Rolle, und damit stand die klassische Bühne in Amerika für all jene offen, die von ihr verbannt waren, seit man Dvorak 1895 praktisch aus den Vereinigten Staaten vertrieben hatte. Noch im selben Jahr sang der große Robert McFerrin an der Met. Sylvia wurde über die Jahre zur engsten Ratgeberin für buchstäblich Hunderte von Sängern, und spätestens ab 1993 kannte man sie allgemein als „Kathleen Battles Lehrerin“.

Im Schiller-Institut

Sylvia Lee arbeitete die letzten zehn Jahre ihres Lebens eng mit dem Schiller-Institut zusammen. Es war gleich klar, daß ihre Erziehungsmethode mit jener der besten humanistischen Denker und Lehrer aller Zeiten identisch war. Ihr Unterricht war vernichtend ehrlich, oft geradezu ausgelassen humorvoll und immer auf das Wesentliche konzentriert. In den letzten Jahren liebte sie besonders die Arbeit mit der LaRouche-Jugendbewegung, zu der sie an der Westküste und in Philadelphia Gelegenheit hatte. Sie stimmte nicht nur hinsichtlich der Kultur mit Lyndon LaRouche überein, sie spendete auch für seinen Wahlkampf und unterstützte ihn, wo sie konnte. Die LaRouche-Jugend wird Sylvias größten Wunsch erfüllen: daß sich nichtprofessionelle Sänger regelmäßig jede Woche versammeln und Spirituals, Hymnen, Folksongs neben klassischen Liedern, Motetten usw. singen.

Dennis Speed


Anmerkung

1. Aus: Sylvia Olden Lee und Elizabeth Nash, The Memoirs of Sylvia Olden, Premier African-American Classical Vocal Coach, The Edwin Mellen Press, Lampeter, Wales (Großbritannien), 2001.