Eine Zukunft für Europa nach dem Euro
Von Marco Zanni
Marco Zanni, unabhängiger italienischer Abgeordneter und
Mitglied im Wirtschafts- und Währungsausschuß des Europäischen Parlaments,
hielt am 25. November 2017 auf der Konferenz des Schiller-Instituts die
folgende Rede.
Vielen Dank nochmals dem Schiller-Institut für diese Einladung, und dafür,
daß Sie wieder einmal eine sehr interessante Konferenz veranstalten. Die Reden
der Menschen, die vor mir gesprochen haben, bestätigen, daß es eine weltweite
Gemeinschaft gibt, nicht nur in Europa, in Afrika und China, die über eine
bessere Zukunft für die Menschen auf der Welt nachdenken.
Ich will heute über die Zukunft Europas sprechen, denn es ist klar, daß auf
diesem Kontinent etwas nicht gut funktioniert, und es ist klar, daß das nicht
nur auf der politischen Ebene so ist. Wir treffen uns hier in Deutschland, und
die Debatte über die Zukunft des Landes ist ein Zeichen, daß etwas falsch
läuft. Aber wir müssen auch die Situation in Betracht ziehen, daß wir auf
einem bestimmten wirtschaftlichen, mikroökonomischen Niveau leben, und die
Tatsache, daß die Europäische Union nicht in der Lage ist, die drei
wichtigsten Herausforderungen und Probleme, die die europäischen Bürger heute
erleben, zu lösen.
Das erste, worüber am meisten debattiert wird, ist sicherlich die
Wirtschafts- und Finanzkrise, die immer noch auf unserem Kontinent herrscht.
Das zweite ist das Problem der inneren Sicherheit und alle die Probleme, die
mit dem Terrorismus zusammenhängen. Und das dritte ist das Problem des Umgangs
mit den Flüchtlingsströmen, von denen viele Länder betroffen sind, und ganz
besonders – aufgrund seiner geographischen Lage als Brücke zwischen dem
europäischen Kontinent und der Mittelmeerregion – mein Land Italien.
Es ist ziemlich offensichtlich, daß wir der Rhetorik widersprechen müssen,
zur Europäischen Union gebe es keine Alternative, womit das europäische
Establishment seit 20 Jahren dafür wirbt, daß die Europäische Union als
politische Infrastruktur auch in Zukunft fortbestehen sollte. Dieser
Überstaat, dieser institutionelle Rahmen für Europa, ist unfähig, Probleme zu
lösen, ist unfähig, bessere Bedingungen für die Europäer zu schaffen, und ist
unfähig, die Versprechungen zu erfüllen, die die europäischen Politiker
insbesondere seit dem Ende des Kalten Krieges Ende der 1980er Jahre gemacht
haben.
Es ist also an der Zeit, daß eine neue europäische politische Klasse
darüber nachdenkt, was ein alternatives Projekt für Europa sein könnte,
welches den tatsächlichen Rahmen der Europäischen Union in Frage stellt. Wie
ich schon sagte, widersprechen wir – und ich persönlich, als Vertreter der
europäischen und der italienischen Bevölkerung im Europäischen Parlament -
dieser „TINA-Rhetorik“ („There Is No
Alternative“, „Es gibt keine Alternative“). Denn wir brauchen einen
alternativen institutionellen Rahmen für die europäischen Völker.
Lassen Sie mich einen wichtigen Punkt klarstellen: Die europäischen Eliten
versuchen, den Begriff „Europäische Union“ so zu verwenden, daß er mit
„Europa“ fast oder ganz gleichbedeutend wird. Ich möchte betonen, daß die
Europäische Union und Europa meiner Meinung nach zwei sehr verschiedene
Konzepte sind. Europa ist ein geographisches und historisches Konzept, das
viele Länder umfaßt. Die Europäische Union ist eine politische Infrastruktur,
ein politischer Rahmen, der 1957 gegründet wurde. Sie besteht also schon seit
einiger Zeit, aber im Vergleich zur Geschichte Europas nur eine sehr kurze
Zeit. Und sie umfaßt nur 28 Länder, also zwar einen großen Teil der Länder in
Europa, aber nicht alle Länder und Völker, die heute in Europa leben.
Wie ich schon sagte, scheitert die Europäische Union nicht nur bei der
Lösung der Probleme der Menschen auf diesem Kontinent, die Politik und der
politische Rahmen der Europäischen Union verschärfen diese Probleme sogar
noch. Die Politik und die Regeln, die wir anwenden und die in den letzten 20
Jahren in die Europäische Union eingebaut wurden, schaffen Meinungsdifferenzen
und Asymmetrien, nicht nur zwischen Ländern, zwischen den Mitgliedstaaten der
Europäischen Union und der Eurozone, sondern auch zwischen den Menschen
innerhalb der einzelnen Länder. Deutschland ist das beste Beispiel dafür, was
auf der Ebene der Länder in diesem Rahmen der Europäischen Union
geschieht.
Die ärmeren Menschen – oder sagen wir, die Mehrheit der Menschen – sind
negativ betroffen von den Regeln, die auf der Ebene der Europäischen Union
vereinbart werden, und die Elite stärkt ihre Macht, die europäische
Gesetzgebung zum Schutz ihrer Interessen zu beeinflussen. Diese Lage erzeugt
Leid und Not – nicht nur in den sog. „PIGS-Staaaten“ (den südeuropäischen
Ländern Portugal, Italien, Griechenland und Spanien), sondern wie ich schon
sagte, auch in den Kernländern Europas, wie etwa Deutschland, den Niederlanden
und den skandinavischen Ländern. Die politische Lage in diesen Ländern ist der
Beweis für diese Situation.
Das Versagen der EU
Bei der letzten Wahl entschieden die deutschen Wähler, nicht mehr die
traditionellen Parteien zu unterstützen, die Sozialdemokraten und Frau Merkels
Christdemokraten, sondern sie entschieden, populistische, euroskeptische
Parteien, rechte und linke Parteien, zu unterstützen. Die große Unterstützung,
die die AfD (Alternative für Deutschland) und auch die Liberalen, die FDP
(Freie Demokratische Partei), bei der letzten Bundestagswahl erhalten haben,
ist auch ein Zeichen dafür, daß die Menschen und die Wähler in dem Land, das
den größten Nutzen aus den europäischen Regelungen und dem Rahmen der Eurozone
gezogen hat, jetzt die Zukunft dieses Projektes in Frage stellen, weil dieses
Projekt, die Eurozone und die Regeln der Europäischen Union, ihr Leben negativ
beeinflussen. Die wirtschaftliche Lage der Menschen, die in der früheren DDR
leben, ist wirklich schlecht. Die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch, die Menschen
leben von Geldtransfers der Bundesregierung und der reicheren Bundesländer,
und die Lage ist sehr schlecht. Sie ist vergleichbar mit der Lage in anderen
Mitgliedstaaten, wie z.B. der in Italien.
In Italien kämpfen wir immer noch mit einer Menge an Problemen, wie etwa
der Jugendarbeitslosigkeit. Die Jugendarbeitslosigkeit in Italien liegt bei
40%, das ist ein inakzeptabler Anteil. Die Arbeitslosigkeit insgesamt hat sich
stabilisiert, liegt aber immer noch bei 11-12%. Auch das ist ein inakzeptables
Niveau. Ein makroökonomischer Indikator des Arbeitsmarkts, den die EZB
verwendet, um die Lage auf dem Arbeitsmarkt in den Ländern der Eurozone zu
bewerten, zeigt, daß die Rate in Italien die höchste in der ganzen
Europäischen Union ist; sie liegt bei 30%. Das bedeutet, daß 40% der
arbeitenden Bevölkerung Not leiden. Und die Politik der Europäischen Union und
der Eurozone befaßt sich nicht nur nicht mit diesem Problem, sie
verstärkt die Unterschiede und Asymmetrien innerhalb der Länder sogar
noch.
Ein weiteres Problem, vor dem wir stehen, hängt mit unserem Finanz- und
Bankensystem zusammen. Es gibt innerhalb der Europäischen Union eine große
Debatte darüber, wie die Zukunft unserer Finanzinstitute aussehen soll. Nach
der großen Finanzkrise 2008 und der Krise der Staatsschulden, die die Eurozone
2010 erfaßte, beschlossen die europäischen Institutionen eine Reihe sehr
umfassender neuer Regeln in dem Versuch, die Bankenbranche in der Eurozone zu
regulieren. Diese gewaltige Menge von Vorschriften, diesen neuen Rahmen,
nannte man die Bankenunion.
Diese beruht auf drei Säulen. Die erste ist die gemeinsame Aufsicht für die
größten Finanzinstitute der Europäischen Union, die zweite ist der sog.
Einheitliche Abwicklungs-Mechanismus, die sog. „Bail-in“-Regel. Das ist ein
besonderer Mechanismus auf europäischer Ebene, der intervenieren soll, um
Bankenkrisen zu lösen, falls eines dieser großen Institute in Schwierigkeiten
geraten sollte. Die dritte Säule, auf die wir uns noch nicht geeinigt haben –
wir arbeiten daran –, ist die gemeinsame Einlagenversicherung für alle Länder
der Bankenunion.
Es ist offensichtlich, daß dieser neue Rahmen nicht gut funktioniert. Der
größte Fehler dieses Rahmens war, daß man versucht hat, Regelungen zu
schaffen, um die Folgen einer Finanz- und Bankenkrise bewältigen zu können,
ohne jedoch irgendwelche Instrumente und Werkzeuge zur Vermeidung der
Ursachen dieser Finanzkrisen zu schaffen.
Dieser neue Regulierungsrahmen sorgte für noch mehr Instabilität im
Finanzsektor innerhalb der Eurozone, weil sich jetzt nicht nur, so wie in der
Vergangenheit, die Steuerzahler am „Bail-out“ eines großen Finanzinstituts
beteiligen müssen, sondern auch die Sparer, die einfachen Menschen, die ihre
Ersparnisse in Finanzprodukte angelegt haben – Bankanleihen, Sparkonten oder
andere sehr einfache Finanzinstrumente –, müssen sich am Bail-in der
Finanzinstitute beteiligen. Als die Bankenunion 2012 vereinbart wurde, wurde
versprochen, mit der Bankenunion würde kein Geld der Steuerzahler mehr dazu
benutzt, große Finanzinstitute zu retten. Aber was geschah in der Realität?
Wir haben jetzt drei Jahre Erfahrung mit mehr als zehn Banken, die im Rahmen
der neuen Bankenunion „abgewickelt“ wurden. Was geschah, war, daß sich nicht
nur die Steuerzahler an der Rettung der Banken beteiligen mußten, auch die
Menschen und Sparer, die mit Finanzprodukten hereingelegt wurden, mußten sich
daran beteiligen.
In Italien hatten wir im Jahr 2017 zwei sehr große finanzielle Probleme,
die mit unserem Bankensystem zusammenhingen. Das eine war die Abwicklung und
Rettung der plötzlich weltberühmten Banca Monte dei Paschi die Siena, eine der
ersten Banken der Welt, die Ende des 15. Jahrhunderts gegründet wurde und seit
jener Zeit in Italien und Europa tätig ist. Das zweite war die Abwicklung
zweier regionaler Banken, die sehr wichtig waren, weil sie in einer der
industrialisiertesten und entwickeltsten Regionen Italiens ansässig sind, in
Venetien. Ich spreche von der Abwicklung der Banca Populare die Vicenza und
der Veneto Banca, zwei venezianischen Banken, die im April 2017 abgewickelt
wurden.
Die Kosten der Abwicklung dieser beiden Banken waren sehr hoch. Mehr als 20
Mrd. Euro an Steuergeldern und mehr als 15 Mrd. € an Besitzwerten der
Aktionäre und Anleihehalter wurden eingesetzt, um diese beiden Banken zu
retten.
Es ist klar, daß dieser Rahmen nicht wirksamer sein kann, unser
Finanzsystem widerstandsfähiger zu machen, nicht wirksamer, die Realwirtschaft
zu fördern, nicht wirksamer, öffentliche Investitionen in die Infrastruktur zu
fördern, nicht wirksamer, die europäischen Bürgern mehr beim Verfolgen ihrer
unternehmerischen Aktivitäten zu unterstützen, etc.
Wir brauchen eine Alternative
Es ist offensichtlich, daß wir einen anderen Rahmen brauchen. Die große
Frage, an der wir arbeiten und die sehr wichtig ist für die Zukunft Europas,
ist folgende: Ist die Europäische Union der beste institutionelle Rahmen, den
wir in Europa schaffen oder haben können, um diese sehr großen Probleme, vor
denen die europäischen Bürger heute stehen, zu bewältigen? Schauen wir uns an,
was in den letzten 20 Jahren geschehen ist. Nach meiner Erfahrung in den
europäischen Institutionen in den letzten vier Jahren wäre meine Antwort:
„Nein, ganz klar nein.“
Warum? Weil die heutige Europäische Union und die Regeln, die wir auf der
Ebene der Europäischen Union vereinbart haben, die Mitgliedstaaten und
Regierungen daran hindern, die Probleme, denen die Menschen in Europa
ausgesetzt sind, angemessen anzupacken.
Was können wir tun, um der „Es gibt keine Alternative“-Rhetorik der
Europäischen Union zu widersprechen, die die europäischen Institutionen und
die europäische Führung heute verwenden, um ihr Scheitern zu rechtfertigen und
das gescheiterte Projekt fortzusetzen?
Wir müssen einen neuen institutionellen Rahmen schaffen, der vom Kern der
europäischen Demokratie ausgeht, d.h., von den Mitgliedstaaten. Wir müssen den
Mitgliedstaaten die Macht zurückgeben, die richtige Mischung von Maßnahmen zur
Bewältigung der heutigen Krise zu schaffen. Das bedeutet, den Mitgliedstaaten
die Befugnis zurückzugeben, ihre eigene Geldpolitik festzulegen und die
richtige Mischung in der Steuerpolitik, die sie wollen. Es ist offensichtlich,
daß der Ansatz der „Einheitsgröße für alle“ nicht funktioniert und nicht
funktionieren kann! Eine einzige Währungspolitik für 19 verschiedene Länder,
die es mit 19 verschiedenen wirtschaftlichen Zyklen zu tun haben, kann nicht
funktionieren!
Deutschland braucht heute wahrscheinlich eine weniger akkommodierende
Währungspolitik, Deutschland bräuchte steigende Zinsen, Deutschland bräuchte
ein Ende der „quantitativen Erleichterung“. Dagegen ist offensichtlich, daß
Italien und andere Länder die Fortsetzung und Steigerung der
Wettbewerbsfähigkeit und eine stärker akkommodierende Währungspolitik
brauchen.
Die Tatsache – und damit komme ich zu meinem letzten Punkt –, daß wir uns
auf die Regel eines ausgeglichenen Haushalts geeinigt haben, hindert die
europäischen Länder und Regierungen daran, angemessene Mittel für
Infrastrukturinvestitionen einzusetzen. Und das gilt nicht nur für Italien,
sondern auch für Deutschland. Die öffentlichen Investitionen in die
Infrastruktur in Deutschland sind ziemlich niedrig! Sie haben sich nach der
Finanzkrise nicht erholt.
Es ist also klar, daß wir einen neuen Rahmen von Regelungen in Europa
schaffen müssen, um den Rahmen der Europäischen Union herauszufordern, der bei
der Bewältigung der Probleme der europäischen Länder gescheitert ist. Wir
müssen ein anderes Europa schaffen, das eine Brücke darstellt zwischen den
asiatischen Ländern, den Entwicklungsländern, den neuen Weltmächten, die zur
Elite aufschließen, und den Vereinigten Staaten. Das ist eine Rolle, die
Europa übernehmen kann, aber mit der gegenwärtigen Politik der EU, mit den
Provokationen der Europäischen Union gegenüber Rußland, mit diesem neuen
Projekt der Gemeinsamen Verteidigung, bei der wir provozierend viele Soldaten
an die Grenzen von Rußland stellen, wird die Zukunft Europas und der
europäischen Länder wirklich hart werden.
Wir müssen unsere Souveränität zurückgewinnen, und wir müssen alle
souveränen europäischen Länder koordinieren, um positivere politische
Szenarien für Europa zu schaffen, sowie für unsere historischen Partner
außerhalb Europas – Rußland, Türkei, Iran, China, die afrikanischen Länder,
Ägypten und viele Entwicklungsländer. Es wird sehr wichtig sein, einen
kooperativen „Win-Win-Ansatz“ zu schaffen und einzurichten, der nicht nur den
Italienern nützen würde, sondern den Menschen in aller Welt, um die
Bedingungen zu erleichtern und um Entwicklung und Chancen für die Menschen auf
dem afrikanischen Kontinent zu schaffen und die Flüchtlingsströme zu stoppen,
unter denen die Europäische Union leidet.
Vielen Dank für Ihre Zeit.
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