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Schiller-Institut e. V.
"Zweck der Menschheit ist kein anderer als die
Ausbildung der Kräfte des Menschen, Fortschreitung."
Friedrich Schiller

 

Eine Zukunft für Europa nach dem Euro

Von Marco Zanni

Marco Zanni, unabhängiger italienischer Abgeordneter und Mitglied im Wirtschafts- und Währungsausschuß des Europäischen Parlaments, hielt am 25. November 2017 auf der Konferenz des Schiller-Instituts die folgende Rede.

Vielen Dank nochmals dem Schiller-Institut für diese Einladung, und dafür, daß Sie wieder einmal eine sehr interessante Konferenz veranstalten. Die Reden der Menschen, die vor mir gesprochen haben, bestätigen, daß es eine weltweite Gemeinschaft gibt, nicht nur in Europa, in Afrika und China, die über eine bessere Zukunft für die Menschen auf der Welt nachdenken.

Ich will heute über die Zukunft Europas sprechen, denn es ist klar, daß auf diesem Kontinent etwas nicht gut funktioniert, und es ist klar, daß das nicht nur auf der politischen Ebene so ist. Wir treffen uns hier in Deutschland, und die Debatte über die Zukunft des Landes ist ein Zeichen, daß etwas falsch läuft. Aber wir müssen auch die Situation in Betracht ziehen, daß wir auf einem bestimmten wirtschaftlichen, mikroökonomischen Niveau leben, und die Tatsache, daß die Europäische Union nicht in der Lage ist, die drei wichtigsten Herausforderungen und Probleme, die die europäischen Bürger heute erleben, zu lösen.

Das erste, worüber am meisten debattiert wird, ist sicherlich die Wirtschafts- und Finanzkrise, die immer noch auf unserem Kontinent herrscht. Das zweite ist das Problem der inneren Sicherheit und alle die Probleme, die mit dem Terrorismus zusammenhängen. Und das dritte ist das Problem des Umgangs mit den Flüchtlingsströmen, von denen viele Länder betroffen sind, und ganz besonders – aufgrund seiner geographischen Lage als Brücke zwischen dem europäischen Kontinent und der Mittelmeerregion – mein Land Italien.

Es ist ziemlich offensichtlich, daß wir der Rhetorik widersprechen müssen, zur Europäischen Union gebe es keine Alternative, womit das europäische Establishment seit 20 Jahren dafür wirbt, daß die Europäische Union als politische Infrastruktur auch in Zukunft fortbestehen sollte. Dieser Überstaat, dieser institutionelle Rahmen für Europa, ist unfähig, Probleme zu lösen, ist unfähig, bessere Bedingungen für die Europäer zu schaffen, und ist unfähig, die Versprechungen zu erfüllen, die die europäischen Politiker insbesondere seit dem Ende des Kalten Krieges Ende der 1980er Jahre gemacht haben.

Es ist also an der Zeit, daß eine neue europäische politische Klasse darüber nachdenkt, was ein alternatives Projekt für Europa sein könnte, welches den tatsächlichen Rahmen der Europäischen Union in Frage stellt. Wie ich schon sagte, widersprechen wir – und ich persönlich, als Vertreter der europäischen und der italienischen Bevölkerung im Europäischen Parlament - dieser „TINA-Rhetorik“ („There Is No Alternative“, „Es gibt keine Alternative“). Denn wir brauchen einen alternativen institutionellen Rahmen für die europäischen Völker.

Lassen Sie mich einen wichtigen Punkt klarstellen: Die europäischen Eliten versuchen, den Begriff „Europäische Union“ so zu verwenden, daß er mit „Europa“ fast oder ganz gleichbedeutend wird. Ich möchte betonen, daß die Europäische Union und Europa meiner Meinung nach zwei sehr verschiedene Konzepte sind. Europa ist ein geographisches und historisches Konzept, das viele Länder umfaßt. Die Europäische Union ist eine politische Infrastruktur, ein politischer Rahmen, der 1957 gegründet wurde. Sie besteht also schon seit einiger Zeit, aber im Vergleich zur Geschichte Europas nur eine sehr kurze Zeit. Und sie umfaßt nur 28 Länder, also zwar einen großen Teil der Länder in Europa, aber nicht alle Länder und Völker, die heute in Europa leben.

Wie ich schon sagte, scheitert die Europäische Union nicht nur bei der Lösung der Probleme der Menschen auf diesem Kontinent, die Politik und der politische Rahmen der Europäischen Union verschärfen diese Probleme sogar noch. Die Politik und die Regeln, die wir anwenden und die in den letzten 20 Jahren in die Europäische Union eingebaut wurden, schaffen Meinungsdifferenzen und Asymmetrien, nicht nur zwischen Ländern, zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der Eurozone, sondern auch zwischen den Menschen innerhalb der einzelnen Länder. Deutschland ist das beste Beispiel dafür, was auf der Ebene der Länder in diesem Rahmen der Europäischen Union geschieht.

Die ärmeren Menschen – oder sagen wir, die Mehrheit der Menschen – sind negativ betroffen von den Regeln, die auf der Ebene der Europäischen Union vereinbart werden, und die Elite stärkt ihre Macht, die europäische Gesetzgebung zum Schutz ihrer Interessen zu beeinflussen. Diese Lage erzeugt Leid und Not – nicht nur in den sog. „PIGS-Staaaten“ (den südeuropäischen Ländern Portugal, Italien, Griechenland und Spanien), sondern wie ich schon sagte, auch in den Kernländern Europas, wie etwa Deutschland, den Niederlanden und den skandinavischen Ländern. Die politische Lage in diesen Ländern ist der Beweis für diese Situation.

Das Versagen der EU

Bei der letzten Wahl entschieden die deutschen Wähler, nicht mehr die traditionellen Parteien zu unterstützen, die Sozialdemokraten und Frau Merkels Christdemokraten, sondern sie entschieden, populistische, euroskeptische Parteien, rechte und linke Parteien, zu unterstützen. Die große Unterstützung, die die AfD (Alternative für Deutschland) und auch die Liberalen, die FDP (Freie Demokratische Partei), bei der letzten Bundestagswahl erhalten haben, ist auch ein Zeichen dafür, daß die Menschen und die Wähler in dem Land, das den größten Nutzen aus den europäischen Regelungen und dem Rahmen der Eurozone gezogen hat, jetzt die Zukunft dieses Projektes in Frage stellen, weil dieses Projekt, die Eurozone und die Regeln der Europäischen Union, ihr Leben negativ beeinflussen. Die wirtschaftliche Lage der Menschen, die in der früheren DDR leben, ist wirklich schlecht. Die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch, die Menschen leben von Geldtransfers der Bundesregierung und der reicheren Bundesländer, und die Lage ist sehr schlecht. Sie ist vergleichbar mit der Lage in anderen Mitgliedstaaten, wie z.B. der in Italien.

In Italien kämpfen wir immer noch mit einer Menge an Problemen, wie etwa der Jugendarbeitslosigkeit. Die Jugendarbeitslosigkeit in Italien liegt bei 40%, das ist ein inakzeptabler Anteil. Die Arbeitslosigkeit insgesamt hat sich stabilisiert, liegt aber immer noch bei 11-12%. Auch das ist ein inakzeptables Niveau. Ein makroökonomischer Indikator des Arbeitsmarkts, den die EZB verwendet, um die Lage auf dem Arbeitsmarkt in den Ländern der Eurozone zu bewerten, zeigt, daß die Rate in Italien die höchste in der ganzen Europäischen Union ist; sie liegt bei 30%. Das bedeutet, daß 40% der arbeitenden Bevölkerung Not leiden. Und die Politik der Europäischen Union und der Eurozone befaßt sich nicht nur nicht mit diesem Problem, sie verstärkt die Unterschiede und Asymmetrien innerhalb der Länder sogar noch.

Ein weiteres Problem, vor dem wir stehen, hängt mit unserem Finanz- und Bankensystem zusammen. Es gibt innerhalb der Europäischen Union eine große Debatte darüber, wie die Zukunft unserer Finanzinstitute aussehen soll. Nach der großen Finanzkrise 2008 und der Krise der Staatsschulden, die die Eurozone 2010 erfaßte, beschlossen die europäischen Institutionen eine Reihe sehr umfassender neuer Regeln in dem Versuch, die Bankenbranche in der Eurozone zu regulieren. Diese gewaltige Menge von Vorschriften, diesen neuen Rahmen, nannte man die Bankenunion.

Diese beruht auf drei Säulen. Die erste ist die gemeinsame Aufsicht für die größten Finanzinstitute der Europäischen Union, die zweite ist der sog. Einheitliche Abwicklungs-Mechanismus, die sog. „Bail-in“-Regel. Das ist ein besonderer Mechanismus auf europäischer Ebene, der intervenieren soll, um Bankenkrisen zu lösen, falls eines dieser großen Institute in Schwierigkeiten geraten sollte. Die dritte Säule, auf die wir uns noch nicht geeinigt haben – wir arbeiten daran –, ist die gemeinsame Einlagenversicherung für alle Länder der Bankenunion.

Es ist offensichtlich, daß dieser neue Rahmen nicht gut funktioniert. Der größte Fehler dieses Rahmens war, daß man versucht hat, Regelungen zu schaffen, um die Folgen einer Finanz- und Bankenkrise bewältigen zu können, ohne jedoch irgendwelche Instrumente und Werkzeuge zur Vermeidung der Ursachen dieser Finanzkrisen zu schaffen.

Dieser neue Regulierungsrahmen sorgte für noch mehr Instabilität im Finanzsektor innerhalb der Eurozone, weil sich jetzt nicht nur, so wie in der Vergangenheit, die Steuerzahler am „Bail-out“ eines großen Finanzinstituts beteiligen müssen, sondern auch die Sparer, die einfachen Menschen, die ihre Ersparnisse in Finanzprodukte angelegt haben – Bankanleihen, Sparkonten oder andere sehr einfache Finanzinstrumente –, müssen sich am Bail-in der Finanzinstitute beteiligen. Als die Bankenunion 2012 vereinbart wurde, wurde versprochen, mit der Bankenunion würde kein Geld der Steuerzahler mehr dazu benutzt, große Finanzinstitute zu retten. Aber was geschah in der Realität? Wir haben jetzt drei Jahre Erfahrung mit mehr als zehn Banken, die im Rahmen der neuen Bankenunion „abgewickelt“ wurden. Was geschah, war, daß sich nicht nur die Steuerzahler an der Rettung der Banken beteiligen mußten, auch die Menschen und Sparer, die mit Finanzprodukten hereingelegt wurden, mußten sich daran beteiligen.

In Italien hatten wir im Jahr 2017 zwei sehr große finanzielle Probleme, die mit unserem Bankensystem zusammenhingen. Das eine war die Abwicklung und Rettung der plötzlich weltberühmten Banca Monte dei Paschi die Siena, eine der ersten Banken der Welt, die Ende des 15. Jahrhunderts gegründet wurde und seit jener Zeit in Italien und Europa tätig ist. Das zweite war die Abwicklung zweier regionaler Banken, die sehr wichtig waren, weil sie in einer der industrialisiertesten und entwickeltsten Regionen Italiens ansässig sind, in Venetien. Ich spreche von der Abwicklung der Banca Populare die Vicenza und der Veneto Banca, zwei venezianischen Banken, die im April 2017 abgewickelt wurden.

Die Kosten der Abwicklung dieser beiden Banken waren sehr hoch. Mehr als 20 Mrd. Euro an Steuergeldern und mehr als 15 Mrd. € an Besitzwerten der Aktionäre und Anleihehalter wurden eingesetzt, um diese beiden Banken zu retten.

Es ist klar, daß dieser Rahmen nicht wirksamer sein kann, unser Finanzsystem widerstandsfähiger zu machen, nicht wirksamer, die Realwirtschaft zu fördern, nicht wirksamer, öffentliche Investitionen in die Infrastruktur zu fördern, nicht wirksamer, die europäischen Bürgern mehr beim Verfolgen ihrer unternehmerischen Aktivitäten zu unterstützen, etc.

Wir brauchen eine Alternative

Es ist offensichtlich, daß wir einen anderen Rahmen brauchen. Die große Frage, an der wir arbeiten und die sehr wichtig ist für die Zukunft Europas, ist folgende: Ist die Europäische Union der beste institutionelle Rahmen, den wir in Europa schaffen oder haben können, um diese sehr großen Probleme, vor denen die europäischen Bürger heute stehen, zu bewältigen? Schauen wir uns an, was in den letzten 20 Jahren geschehen ist. Nach meiner Erfahrung in den europäischen Institutionen in den letzten vier Jahren wäre meine Antwort: „Nein, ganz klar nein.“

Warum? Weil die heutige Europäische Union und die Regeln, die wir auf der Ebene der Europäischen Union vereinbart haben, die Mitgliedstaaten und Regierungen daran hindern, die Probleme, denen die Menschen in Europa ausgesetzt sind, angemessen anzupacken.

Was können wir tun, um der „Es gibt keine Alternative“-Rhetorik der Europäischen Union zu widersprechen, die die europäischen Institutionen und die europäische Führung heute verwenden, um ihr Scheitern zu rechtfertigen und das gescheiterte Projekt fortzusetzen?

Wir müssen einen neuen institutionellen Rahmen schaffen, der vom Kern der europäischen Demokratie ausgeht, d.h., von den Mitgliedstaaten. Wir müssen den Mitgliedstaaten die Macht zurückgeben, die richtige Mischung von Maßnahmen zur Bewältigung der heutigen Krise zu schaffen. Das bedeutet, den Mitgliedstaaten die Befugnis zurückzugeben, ihre eigene Geldpolitik festzulegen und die richtige Mischung in der Steuerpolitik, die sie wollen. Es ist offensichtlich, daß der Ansatz der „Einheitsgröße für alle“ nicht funktioniert und nicht funktionieren kann! Eine einzige Währungspolitik für 19 verschiedene Länder, die es mit 19 verschiedenen wirtschaftlichen Zyklen zu tun haben, kann nicht funktionieren!

Deutschland braucht heute wahrscheinlich eine weniger akkommodierende Währungspolitik, Deutschland bräuchte steigende Zinsen, Deutschland bräuchte ein Ende der „quantitativen Erleichterung“. Dagegen ist offensichtlich, daß Italien und andere Länder die Fortsetzung und Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und eine stärker akkommodierende Währungspolitik brauchen.

Die Tatsache – und damit komme ich zu meinem letzten Punkt –, daß wir uns auf die Regel eines ausgeglichenen Haushalts geeinigt haben, hindert die europäischen Länder und Regierungen daran, angemessene Mittel für Infrastrukturinvestitionen einzusetzen. Und das gilt nicht nur für Italien, sondern auch für Deutschland. Die öffentlichen Investitionen in die Infrastruktur in Deutschland sind ziemlich niedrig! Sie haben sich nach der Finanzkrise nicht erholt.

Es ist also klar, daß wir einen neuen Rahmen von Regelungen in Europa schaffen müssen, um den Rahmen der Europäischen Union herauszufordern, der bei der Bewältigung der Probleme der europäischen Länder gescheitert ist. Wir müssen ein anderes Europa schaffen, das eine Brücke darstellt zwischen den asiatischen Ländern, den Entwicklungsländern, den neuen Weltmächten, die zur Elite aufschließen, und den Vereinigten Staaten. Das ist eine Rolle, die Europa übernehmen kann, aber mit der gegenwärtigen Politik der EU, mit den Provokationen der Europäischen Union gegenüber Rußland, mit diesem neuen Projekt der Gemeinsamen Verteidigung, bei der wir provozierend viele Soldaten an die Grenzen von Rußland stellen, wird die Zukunft Europas und der europäischen Länder wirklich hart werden.

Wir müssen unsere Souveränität zurückgewinnen, und wir müssen alle souveränen europäischen Länder koordinieren, um positivere politische Szenarien für Europa zu schaffen, sowie für unsere historischen Partner außerhalb Europas – Rußland, Türkei, Iran, China, die afrikanischen Länder, Ägypten und viele Entwicklungsländer. Es wird sehr wichtig sein, einen kooperativen „Win-Win-Ansatz“ zu schaffen und einzurichten, der nicht nur den Italienern nützen würde, sondern den Menschen in aller Welt, um die Bedingungen zu erleichtern und um Entwicklung und Chancen für die Menschen auf dem afrikanischen Kontinent zu schaffen und die Flüchtlingsströme zu stoppen, unter denen die Europäische Union leidet.

Vielen Dank für Ihre Zeit.