Das Neue Paradigma aus der Sicht des Balkan
Von Prof. Ivo Christov
Prof. Dr. Ivo Christov ist Mitglied des bulgarischen
Parlaments. Den folgenden Vortrag hielt er am 1. Juli bei der Bad Sodener
Konferenz des Schiller-Instituts. (Übersetzung aus dem Englischen.)
Vielen Dank! Zunächst einmal möchte ich dem Schiller-Institut dafür danken,
daß man mich hierher eingeladen hat, einige Ideen und Gedanken zum Thema
unserer Konferenz mit Ihnen zu teilen. Ich denke, es wird eine fruchtbare
Konferenz sein, nicht nur hinsichtlich der Ideen, sondern auch für praktische
Aktivitäten.
Das Thema meines Vortrags heute lautet „Das Neue Paradigma aus der Sicht
des Balkan“. Als Akademiker möchte ich an unser Thema, den Balkan und die
neuen chinesischen Initiativen, mit einem strategischen Blick von oben
herangehen, konkret mit dem Gesamtbild der geopolitischen Gegenwart.
Abb. 1: Die wesentlichen industriellen und wirtschaftlichen Machtzentren
der Welt: Europa, die Vereinigten Staaten, Rußland und China.
Machtzentren der Welt
Es gibt einen Ausspruch, der Napoleon zugeschrieben wird und den der
berühmte französische Historiker Fernand Braudel mitgeteilt hat: „Geographie
ist Schicksal“. Wenn wir uns die geographische Landkarte betrachten
(Abbildung 1) und auf die wesentlichen industriellen und
wirtschaftlichen Machtzentren der heutigen Welt schauen, verschafft uns das
eine wichtige Perspektive.
Aus historischer Sicht ist der erste Kreis der Industrie das westliche
Machtzentrum – wirtschaftlich, militärisch usw. Es liegt im Süden Britanniens
in England, und später im Ruhrgebiet im westlichen Teil Deutschlands sowie im
Nordosten Frankreichs. Das ist ein Prozeß, der 200 Jahre währte, die Ära der
sog. Industriellen Revolution.
Das Resultat hiervon ist, daß westliche Länder, insbesondere Großbritannien
und danach natürlich Frankreich und später Deutschland und die Vereinigten
Staaten, sehr viel Macht haben – nicht nur hinsichtlich ihrer Streitkräfte,
sondern auch hinsichtlich ihrer Volkswirtschaften und insbesondere auch ihrer
kulturellen Ansichten. Es ist offensichtlich, daß dies eine Welt mit dem
Westen als Zentrum ist, weil das Machtzentrum, besonders militärisch,
wirtschaftlich und technisch, dort konzentriert ist. Ihre Vorherrschaft beruht
offensichtlich auf ihrer militärischen Stärke, ganz besonders zur See.
Danach, ganz am Ende der Industriellen Revolution, ist das nächste Zentrum
politischer und militärischer Macht Nordamerika, vor allem konzentriert im
östlichen Teil der Vereinigten Staaten, in Neuengland. Und später, nach dem
Amerikanischen Bürgerkrieg, verlagerte sich das Zentrum hin zur Mitte, zu den
Großen Ebenen, nach Chicago, und dann zur Westküste der Vereinigten Staaten.
Sie sind das stärkste Zentrum, denn es ist offensichtlich, daß Kanada und
Mexiko Länder sind, die stark von der US-amerikanischen Macht abhängig sind.
Zwischen dem westeuropäischen Zentrum und dem amerikanischen Zentrum gibt es
sehr intensive Ströme von Waren, Finanzen usw. Nach dem Zweiten Weltkrieg
wurde Amerika der Hauptakteur. Westeuropa und nach 1989 auch Osteuropa wurden
von der amerikanischen Macht abhängig.
Ein weiteres Zentrum wirtschaftlicher und militärischer Macht ist natürlich
Rußland. Rußland stieg nach den Reformen Peters des Großen und mehr noch nach
der Gründung der Sowjetunion zur Großmacht auf. In der Stalin-Ära wurde die
Sowjetunion zur stärksten militärischen Macht der Welt nach den Vereinigten
Staaten.
Das vierte Machtzentrum – wirtschaftlich, militärisch, im Handel usw. – ist
der östliche Teil Eurasiens. Historisch waren das zuerst Japan und danach auch
Korea und China.
Was zeichnet diese Zentren wirtschaftlicher und kultureller Einflüsse aus?
Es ist ein ganz spezielles Modell der Gründung moderner Kultur, besonders im
modernen Zustand der Wirtschaft. Diese Wirtschaft wurde von oben herab vom
Staat, einem sehr starken Staat, geschaffen. Es ist etwas ganz anderes als der
freie Markt, die gesamte Wirtschaft ist eine Frucht aktiver staatlicher
Politik. Das ist typisch für Japan zu Beginn des 20. Jahrhunderts; danach
sieht man es in China während der Reformen ab den 1980er Jahren. Es handelt
sich um eine sehr spezielle Zusammenarbeit zwischen einem starken Staat auf
der einen Seite und der Schaffung neuer wirtschaftlicher Bereiche und Akteure
auf der anderen. Im Falle Chinas schafft der chinesische Staat die neuen
wirtschaftlichen Zugpferde im Marktbereich auf globaler Ebene.
Jagd nach Handel und Ressourcen
Zwischen dem westeuropäischen und dem nordamerikanischen Kern der
westlichen Macht hat sich ein sehr intensiver Handel und andere
Wirtschaftsaktivitäten entwickelt. Sehr interessant ist, daß ihre
wirtschaftliche und politische Macht auf Rohstoffen beruht, ganz besonders Öl-
und Gasressourcen, die sich – mit der Ausnahme Rußlands – außerhalb dieser
Regionen befinden. Für Amerika beispielsweise sind dies die Öl- und
Gasvorkommen im Golf von Mexiko und in Mexiko und natürlich die in Kanada und
Alaska. In Europa hingegen beziehen die Länder ihre Rohstoffe vor allem von
den Golfstaaten im Nahen Osten. Interessant ist, daß für das Wirtschaftsmodell
des Fernen Ostens eine enge Bindung an die Länder des Nahen Ostens und
Nordafrikas für die Energieträger sehr wichtig ist.
Was ist nun an unserer Situation heute grundsätzlich neu? Grundsätzlich ist
die Lage, daß China seine eigenen Aktivitäten und seine politische und
wirtschaftliche Rolle in der Welt entfalten will – nicht, um eine
Nullsummenstrategie zu verfolgen, sondern aus einer Strategie des gemeinsamen
Vorteils heraus (win-win): „Wir gewinnen und ihr gewinnt bei unseren
Kooperationen und dem Handel und den politischen Beziehungen.“ Chinas
Abhängigkeit von Rohstoffen, besonders aus der Region, ist dabei ein Vorteil,
bietet aber auch vor allem den nordamerikanischen Ländern einige
Möglichkeiten, Chinas Entwicklung zu blockieren, und zu verhindern, daß es die
Führung der modernen Welt übernimmt.
Engpässe auf den Meeren
Wie? Indem Amerika bisher beispielsweise den sehr wichtigen Knotenpunkt der
Malakka-Straße kontrolliert. Die Malakka-Straße ist äußerst wichtig, weil
durch sie 40% des Welthandels und Güteraustausches laufen, besonders der
Handel aus China, Japan, Korea und anderen asiatischen „Tigerstaaten“.
Ein anderer Punkt, an dem China blockiert werden kann, ist die Straße von
Hormus zwischen dem Iran und Oman, weil das der Engpaß beim Erreichen der
Ölfelder des Nahen Ostens ist.
Ein anderer Engpaß ist die Straße zwischen der Arabischen Halbinsel, Jemen
– das ist sehr interessant in Bezug auf den Vortrag zu diesem Thema gestern
(vgl. Neue Solidarität 30/2018) – und Dschibuti, Somalia und Äthiopien.
Die Schiffahrt zwischen dem Indischen Ozean und dem Mittelmeer muß den
Bab-El-Mandab und den Suezkanal passieren.
So gesehen ist es interessant, Chinas Strategie zu beobachten, neue Gürtel
des internationalen Handels und der Zusammenarbeit zu entwickeln, nicht nur
über die Weltmeere, sondern über Land in Eurasien, besonders vom Westen Chinas
durch Zentralasien, den Iran und dann die Türkei zur Mitte Europas. Europa,
besonders Deutschland, Frankreich und allgemein der Kern Europas, ist heute
der größte Markt der Welt. Andererseits gibt es eine weitere Option von
Beijing durch den Süden Rußlands oder den Norden Kasachstans direkt zu den
Ostseehäfen und Deutschland. Eine weitere Option ist die südliche Route, von
Südchina durch Thailand, wiederum eine andere von Westchina direkt durch
Pakistan zur pakistanischen Provinz Belutschistan, dies schafft die direkte
Verbindung zu den Ölfeldern des Nahen Ostens und am Persischen Golf.
Abb. 2: Über den Balkan verlaufen wichtige Verkehrsströme aus dem Nahen
Osten und Nordafrika nach Mitteleuropa.
Viele Routen führen durch den Balkan
Warum ist das so wichtig? Warum spreche ich darüber, wenn mein Thema der
Balkan ist? Es ist interessant in Bezug auf die historische, militärische,
wirtschaftliche und andere Dimensionen, diese Lage zu verstehen. Warum ist der
Balkan so wichtig? Nicht, weil ich aus dieser Region komme – ich stamme aus
Kiew und lebe in Bulgarien. Die Iberische Halbinsel und die Balkanhalbinsel
sind die beiden Eingangstore nach Europa aus Afrika auf der einen Seite und
aus dem Nahen Osten auf der anderen.
Deshalb ist diese spezielle Region sehr wichtig. Warum? Erstens gibt es
zwei Hauptrichtungen des Handels – Verkehr von Waren und Menschen usw. – von
Ost nach West über die Türkei und Istanbul, Bulgarien, Serbien und andere nach
Mitteleuropa, besonders Deutschland. Eine weitere Route führt von Nordafrika,
besonders Ägypten, über Griechenland, Makedonien, Serbien und Kroatien oder
Ungarn ebenfalls direkt nach Deutschland (Abbildung 2). Das ist sehr
wichtig für das Blockieren dieser Handelsströme vom Balkan nach Mitteleuropa.
Ein anderer wichtiger Punkt ist, daß es hier auf dieser kleinen Halbinsel
eine solche Fülle von Geschichte, so viele Widersprüche und eine Geschichte
vieler blutiger Konflikte gibt. Warum? Hier leben drei Zivilisationen
zusammen, insbesondere auch Muslime. Das ist Teil der früheren Geschichte des
Osmanischen Reiches, die Türken bzw. Muslime in Bosnien oder Albanien. Dann
ist da die orthodoxe Zivilisation – Griechen, Bulgaren, Serben und Rumänen
sind Orthodoxe. Und dann natürlich die katholische Zivilisation, konzentriert
im Nordwesten der Halbinsel, besonders in Kroatien, dem kroatischen Teil
Bosniens und Slowenien. Deshalb ist dieser kleine Teil Europas das Kampffeld
von vier Großmächten: die Vereinigten Staaten, Rußland, die Türkei und
China.
Werden die Routen offen sein?
Was ist interessant für China? China möchte Zugang zu diesem sehr wichtigen
Gebiet haben. Beispielsweise hat China in Kooperation mit der Türkei eine
Eisenbahnstrecke von der Türkei über Istanbul gebaut, die vielleicht nach
Bulgarien verlängert wird. Aber nur vielleicht. Ein anderes Eisenbahnprojekt
verläuft vom griechischen Hafen Piräus nach Thessaloniki, Makedonien, Serbien
und von dort bis mitten nach Deutschland.
Abb. 3: Der größte amerikanische Militärstützpunkt in Osteuropa, Camp
Bondsteel, liegt im Kosovo.
Hier sollte man Camp Bondsteel erwähnen. Das ist der größte amerikanische
Militärstützpunkt in Osteuropa, er liegt im Kosovo. Von dort aus haben die USA
alle Bemühungen blockiert, aus irgendeiner Richtung Zugang zur Balkanhalbinsel
zu erhalten.
In der Zukunft wird das Projekt der Neuen Seidenstraße sehr schwierig
praktisch umzusetzen sein. Warum? Es gibt so viele Hindernisse durch die
amerikanische Strategie, zu verhindern, daß China sich hier engagiert, und
jede Initiative Rußlands für den Bau neuer Öl- oder Gaspipelines aus Rußland
z.B. über Bulgarien und Serbien zu stoppen.
Was sollten wir tun? Warum ist es so wichtig, daß Europa die Geopolitik in
dieser Region verändert? Wenn der Balkan immer nur das „schwarze Loch“ Europas
bleibt, wird diese Geopolitik alle Initiativen stören, wenn nicht verhindern,
immer wenn man versucht, die geopolitische Lage nicht nur in Europa, sondern
auf der ganzen Welt zu verändern.
Vielen Dank.
eir
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