Auf dem Gipfel des Berges
Diane Sare berichtet über eine Gedenkveranstaltung für Martin
Luther King in Manhattan.
Am 9. April, dem 50. Jahrestag der Beerdigung von Dr. Martin Luther King,
beteiligte sich der Öffentliche Chor des Schiller-Instituts in New York an
einer Gedenkveranstaltung, die von der Stiftung für die Wiederbelebung der
Klassischen Kultur in Manhattan veranstaltet wurde. Etwa 700 Menschen nahmen
an der Veranstaltung in der vollbesetzten St. Bartholomew Episcopal Church
teil. Im Publikum waren Schüler und Lehrer verschiedener Schulen, Menschen aus
verschiedenen Kirchengemeinden der Stadt, Angehörige und Freunde der
Chormitglieder, Passanten, die durch Flugblätter oder Plakate von der
Veranstaltung erfahren hatten, und nicht zuletzt Freunde der Musiker, darunter
die mehr als 90 Jahre alten Lehrer des Baßbaritons Simon Estes und der
Mezzosopranistin Elvira Green, die beide mitwirkten.
Die Veranstaltung begann mit einem Grußwort des Harlem Opera Theater,
gefolgt von einer Vertreterin der Kirchengemeinde, einer Schülerin von Kings
Weggefährten Bernard Lafayette – bekannt für seine Grundsätze der „kreativen
Gewaltlosigkeit“ –, die eine Grußbotschaft Lafayettes an die Veranstaltung
verlas. Weitere Grußworte sprachen die Leiterin der Stiftung für die
Wiederbelebung der Klassischen Kultur, Lynn Yen, sowie Dennis Speed vom
Schiller-Institut, der auch eine Grußbotschaft von Helga Zepp-LaRouche, der
Präsidentin des Schiller-Instituts, verlas. Sie lautet:
„In diesem Moment, wo dank Chinas Initiative der Neuen Seidenstraße, an der
sich bereits mehr als 140 Nationen beteiligen, insbesondere die
Entwicklungsländer die Hoffnung haben, Armut und Unterentwicklung zu
überwinden – wofür Martin Luther King am Ende seines Lebens kämpfte –, haben
die Vertreter des oligarchischen Systems eine Serie von Provokationen in Gang
gesetzt, die unvorhersehbare Konsequenzen haben könnten.
Während Sie hier versammelt sind, hat in den letzten Stunden die Gefahr
eines Krieges oder sogar thermonuklearen Krieges zugenommen. Die Vereinten
Nationen trafen sich, um über Syrien zu diskutieren. Die Existenz der
weltweiten Zivilisation hängt nun davon ab, daß die Staatsführer der Welt, vor
allem in China, Rußland und den Vereinigten Staaten, gemeinsam einen Ausweg
aus dem alten Paradigma der Kriege und der Geopolitik finden.
Die Vertreter dieses alten Paradigmas versuchen derzeit, ein Klima zu
schaffen, in dem es den Vereinigten Staaten unmöglich erscheint, mit Rußland
und China zusammenzuarbeiten, um die existentiellen Probleme der Menschheit zu
überwinden.
Aber in den dunkelsten Stunden des Kalten Krieges, 1963, fand Präsident
John F. Kennedy, nachdem er in der Kubakrise gerade noch einen Atomkrieg
vermeiden konnte, einen Ausweg: Die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten
sollten gemeinsam den Weltraum erforschen. Er sagte: ,Die Menschheit muß dem
Krieg ein Ende setzen, oder der Krieg wird der Menschheit ein Ende
setzen.’
Vor 50 Jahren sagte ein großer Mann, Papst Paul VI., wirtschaftliche
Entwicklung sei der neue Name des Friedens. Wir können den 50. Jahrestag der
Ermordung von Dr. Martin Luther King nur angemessen begehen, indem wir diesen
Kampf zwischen dem alten Paradigma, dessen Vertreter Dr. King ermordeten, und
dem neuen Paradigma erkennen und dann alles in unserer Macht stehende tun,
damit dieser kostbare Moment, in dem alle seine Träume erfüllt werden können,
nicht versäumt wird.“
Speed verlas auch einen Brief von Martin Luther King an den Chirurgen Dr.
Emil Naclerio, der King rettete, indem er die Klinge eines Brieföffners
entfernte, die ihm eine verrückte Frau 1958 bei einer Buchsignierung in die
Brust gestoßen hatte; Dr. Naclerios Sohn war bei der Gedenkveranstaltung
anwesend.
Die Veranstaltung war weniger ein Konzert als vielmehr eine musikalische
Erzählung, an der neben Elvira Green und Simon Estes – die sowohl sangen als
auch sprachen – auch der bekannte Schauspieler Ed Asner mitwirkte. Ein
teilnehmender Musiker bemerkte nach der Veranstaltung, es sei eigentlich „eine
Passion für Martin Luther King“ gewesen.
Der Chor konnte mit dem Dirigenten und Komponisten Roland Carter
zusammenarbeiten, was eine begeisternde Wirkung auf die Sänger hatte. Carter
stammt direkt aus der Schule des afro-amerikanischen Komponisten Nathaniel
Dett, den er zwar nicht mehr persönlich kennenlernen konnte, dessen Schüler
aber Carters Mentoren wurden. Er führt Detts Mission weiter, auf der Grundlage
der Spirituals eine amerikanische Schule der klassischen Musik zu schaffen, so
wie es der Brahms-Freund Antonin Dvorak amerikanischen Musikern wie Harry
Burleigh vorgeschlagen hatte. Dr. Carter ist einer der wenigen heute lebenden
Musiker, die sich unermüdlich dafür einsetzen, die Spirituals richtig
aufzuführen. Und er führte den Chor streng, aber mit Humor – beispielsweise
sagte er: „Ich bin ziemlich gut, ich denke also, ihr solltet auch mal aus den
Noten herausschauen und sehen, was ich hier mache!“ Oder: „Ärgert euch nicht,
wenn ich unterbreche, weil ihr einen Fehler gemacht habt. Ihr habt ja den
Fehler gemacht!“ Aber er zeigte es auch, wenn etwas gut gelang, und warf den
Musikern mitten während der Aufführung Kußhände zu! Es gelang ihm, aus dem
Chor eine musikalische Qualität herauszuholen, wie sie die Sänger selbst nicht
geahnt hätten.
Auch die Aufführung des Agnus Dei aus Beethovens C-Dur-Messe
mit dem Chor unter der Leitung von John Sigerson gelang sehr gut, wobei
die Soli von Chormitgliedern gesungen wurden. Sie war der Wendepunkt des
zweiteiligen Programms und bildete den Übergang von einem historischen
Überblick über Kings Mission zu der ganz persönlichen Zeit der Finsternis, die
King im letzten Jahr vor seinem Tod am 4. April 1968 durchlebte. So wurde
dieses Stück von Beethoven zum Angelpunkt der dramatischen Entwicklung der
gesamten Aufführung.
Diane Sare
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