EZB läßt „Abwicklung“ des Investmentgeschäfts simulieren
Von Harley Schlanger
Während offiziell noch immer von einem „Aufschwung“ der
Wirtschaft gesprochen wird, fürchten die Transatlantiker den nächsten
Finanzkrach – und die Neue Seidenstraße.
Ein Artikel in der der Süddeutschen Zeitung vom 16. April über eine
Aufforderung von Bankaufsehern der Europäischen Zentralbank (EZB) an die
Deutsche Bank ließ es Finanzexperten „eiskalt den Rücken herunterlaufen“, wie
es ein prominenter europäischer Prognostiker formulierte. Das sei zwar nicht
unerwartet gekommen, meinte er weiter, weil es kein Geheimnis ist, daß die
Bank schon länger in Schwierigkeiten steckt, „aber das gedruckt zu sehen,
löste einen Schock aus“. Die Zeitung berichtete nämlich, daß die
EZB-Bankaufseher die Deutsche Bank ersucht hatten, ein „Krisenszenario“ zu
simulieren, was geschähe, wenn das Kapitalmarkt- und Derivatgeschäft der Bank
durch Zahlungsausfälle erschüttert wird, und was es kosten würde, die
Handelsabteilung (Investmentgeschäft) „abzuwickeln“. Anders gesagt, könnte die
Bank ihre Verluste selbst tragen und überleben, oder bräuchte sie einen
Bail-out (staatliche Rettung), einen Bail-in (Kontenpfändungen) oder beides,
um geschäftsfähig zu bleiben? Es wird erwartet, daß andere Banken bald
ähnliche Anweisungen erhalten werden.
Wie unter Bedingungen einer Kettenreaktion von Zahlungsausfällen überhaupt
eine erfolgreiche „Bankabwicklung“ für amerikanische und europäische
Großbanken möglich sein soll, das bleibt auch ein Jahrzehnt nach dem
Beinahe-Kollaps aller „systemrelevanten“ Großbanken 2008, der nur durch
massive staatliche Stützungsaktionen abgewendet wurde, immer noch unklar.
Seither wurden zwar höhere Kapitalreserven vorgeschrieben und weitere, eher
kosmetische Maßnahmen ergriffen, aber die Finanzspekulation, die den Krach von
2008 verursacht hatte, wird nicht nur weiter fortgesetzt, sondern von den
Zentralbanken durch ihre sog. „Quantitative Erleichterung“ – sprich:
Gelddrucken – sogar noch gefördert. Im Rahmen dieser Politik der Federal
Reserve, der EZB und anderer Zentralbanken wurden Billionen Dollar frische
Liquidität zur Verfügung gestellt, um die Schulden aus dem Derivatehandel und
anderen Spekulationen umzuschulden. So konnten die Banken diese Werte weiter
zum Nennwert in ihren Büchern führen und auf dieser Grundlage weiter damit
handeln, es wurde erst gar nicht versucht, festzustellen, was der tatsächliche
Wert dieser Papiere war, die da gehalten oder gehandelt wurden.
Auf diese Weise konnten die amerikanischen und europäischen Banken höhere
Gewinne schreiben und eine neue Aktienblase aufblähen, obwohl die
Realwirtschaft weiterhin stockt und das Wirtschaftswachstum stagniert. Diese
Aktienblase und die Schuldenblase dahinter machten es möglich, daß Politiker
und Banker behaupten können, die Wirtschaft habe sich vollständig vom Krach
von 2008 erholt und es stehe eine glänzende Zukunft bevor. Dennoch – viele in
den transatlantischen Banken- und Finanzkreisen äußern zunehmend die Sorge,
daß die Wirtschaft in naher Zukunft auf einen noch größeren Krach
zusteuert.
Daß die EZB sich um die Deutsche Bank Sorgen macht, ist keine Überraschung.
Die erlitt 2015 und 2016 massive Verluste und wurde mehrfach mit
beträchtlichen Bußgeldern belegt, darunter eine Strafzahlung von umgerechnet
5,9 Mrd. Euro, die US-Behörden wegen unsauberer Geschäfte mit
Hypothekenpapieren (MBS) verhängten. Als eine der größten Banken der Welt hat
die Deutsche Bank Derivateanlagen im Umfang von 42 Billionen Euro. 2016 nannte
der Weltwährungsfonds (IWF) sie „die riskanteste Bank der Welt“. Am 8. April
wurde Vorstandschef John Cryan nach einer Sondersitzung am Sonntagabend – die
an sich schon sehr ungewöhnlich ist – entlassen, da die Einnahmen der Bank
schwinden und ihr Aktienkurs im laufenden Jahr bereits um 30% gefallen
war.
Aber die Sorgen der EZB sind nicht auf die Deutsche Bank beschränkt. Neben
den bekannten Problemen im italienischen Bankensektor richtet sich die
Aufmerksamkeit nun auch auf die Lage der Clearingstellen, die theoretisch
beide Parteien in einem Derivategeschäft schützen und gegen die Folgen eines
Zahlungsausfalls absichern sollen. Die EZB verlangt zusätzliche Befugnisse
gegenüber den Clearingstellen in den USA und Großbritannien und besteht
darauf, daß sie mehr Sicherheiten von den Kunden einfordern, um ein größeres
Liquiditätspolster zu schaffen. Die Sorgen über Liquiditätsprobleme der
Clearingstellen kamen nach der Brexit-Abstimmung auf, weil man fürchtet, daß
die in London ansässigen Häuser dann nicht mehr der Brüsseler Aufsicht
unterstehen werden und deshalb in Euro ausgewiesene Derivategeschäfte von
Händlern aus der EU außerhalb der Eurozone riskanter werden. Die Geschäfte der
Londoner Clearingstellen können an einem einzigen Tag einen Nennwert von 900
Mrd. $ und mehr umfassen.
Aber nicht nur die Vertreter der EZB sind in Sorge über die gegenwärtige
Finanzlage. Die Vertreter der Federal Reserve (Fed) geben sich zwar alle Mühe,
ruhig zu erscheinen, aber da die Zinsen zum erstenmal seit Jahren auf fast 3%
angehoben wurden, wächst die Angst vor Zahlungsausfällen bei
Unternehmensschulden und damit auch einer Zunahme der Insolvenzen – die schon
passiert. Aber Lael Brainard, eine Gouverneurin der Federal Reserve, äußerte
auch ihre Sorge über die Blase an den Aktienmärkten, wenn auch in milder Form.
Sie sagte am 2. April: „Die Bewertungen in einer weiten Reihe von Märkten
erscheinen im Verhältnis zu den historischen Maßstäben überhöht, auch dann
noch, wenn man die jüngsten Bewegungen berücksichtigt.“
„Unbeabsichtigte Folgen“ des billigen Geldes
Eine Kommentatorin, die das Problem der Anleihenschulden und Aktienblasen
nicht wie Brainard mit den Understatements der „Zentralbanksprache“
beschreiben muß, ist die Buchautorin und frühere Investmentbankerin Nomi
Prins. Sie warnt in ihrem „Finanz-Leitfaden für 2018“, die Aktienbörse „wird
wegen der Bereitstellung des billigen Geldes so lange weiter vorauseilen, bis
die Schuldenprobleme die Aktienmärkte hinabziehen und sie zum Absturz
bringen“. Das Finanz- und Kapitalmarktsystem stütze sich auf „wechselseitige
Abhängigkeiten und die Zentralbankpolitik des billigen Geldes“. Die
Aktienpreise profitierten von den mehr als 14 Bio. $ Liquidität, die durch die
„Quantitative Erleichterung“ (QE) in die Banken gepumpt wurden. Auf der
anderen Seite säßen die Fed und andere Zentralbanken jetzt auf mehr als 22
Bio. $ an Anleihen und anderen Schuldenpapieren, wovon ein Großteil von
zweifelhaftem Wert sei. Die Zentralbanker wüßten trotz ihrer beruhigenden
Worte über den Abbau dieses Bergs von Finanzpapieren und das „Auslaufenlassen“
der billigen Geldströme, daß das ein Problem ist, schreibt Prins – aber sie
wüßten keinen Ausweg.
Das Wachstum der Schulden aller Art ist die Achillesferse des Systems.
Öffentliche Schulden, Unternehmensschulden, Wertpapierschulden,
Kreditkartenschulden und Studienschulden schießen immer weiter in die Höhe,
während die Mittel zu ihrer Rückzahlung schrumpfen. In den USA stagnieren
Löhne und Produktivität, die Beschäftigung wächst langsamer, und der Anteil
der arbeitsfähigen Bevölkerung, der tatsächlich arbeitet, ist auf dem tiefsten
Stand seit vier Jahrzehnten. Die Schulden von US-Unternehmen außerhalb der
Finanzbranche betrugen laut Statistiken der Federal Reserve Ende 2017 mehr als
14 Bio. $, während die Unternehmensgewinne stagnieren oder schrumpfen. Der IWF
äußerte die Einschätzung, daß bei einem Anstieg der Zinsen auf 3% mehr als 20%
aller US-Unternehmen bankrott wären, weil sie ohne neue Kredite ihre Zinsen
nicht bedienen können.
Der frühere Chefökonom der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich
(BIZ), William White, erkannte in dem massiven Liquiditätspumpen einen neuen
destabilisierenden Faktor für den Finanzsektor, der sämtliche herkömmlichen
Modelle des Schuldenabbaus unbrauchbar macht. In einem Beitrag für einen neuen
Sammelband über „Das wechselnde Glück der Zentralbanken“ (The Changing
Fortunes of Central Banking) betont er, das Problem habe „unbeabsichtigte
Folgen“, weil die Rettungsmaßnahmen von heute sich zu Schulden von morgen
addieren, ohne Mittel zu schaffen, um diese Schulden zu bedienen. Da die
verrückte Spekulation, die den Crash und die Bankenrettung 2008 zur Folge
hatte, nicht beendet wurde, sind viele Firmenchefs und Investoren überzeugt,
daß ihre einzige Chance zur Deckung des immer höheren Schuldendienstes in
immer riskanteren Spekulationsgeschäften liegt. White beharrt schon seit 2008
darauf, daß sich das System nur durch eine umfassende Schuldenabschreibung
retten läßt.
Neue Seidenstraße contra London
In den optimistisch klingenden öffentlichen Erklärungen von Bankern und
Aufsehern ist meistens von einem stabilen Aufschwung die Rede, und die
Mehrheit der Medien übernimmt dies unkritisch, doch in Wirklichkeit fürchtet
die Finanzoligarchie nicht nur einen unkontrollierten Finanzkollaps in der
transatlantischen Region. Sie ist auch getrieben von der Furcht, daß in
Eurasien unaufhaltsam ein alternatives System entsteht, mit Chinas
eindrucksvollem weltweitem Infrastrukturplan der Neuen Seidenstraße – der
Gürtel- und Straßen-Initiative (BRI) – im Zentrum. Da sich immer mehr Länder
in Europa, Afrika, Süd- und Mittelamerika aktiv an BRI-Projekten beteiligen,
fürchten die Vertreter der klassischen britischen Geopolitik, daß ihr größter
Alptraum wahr wird: daß die weltweit privilegierte Stellung der Londoner und
verbündeten Bankenwelt ihren Höhepunkt überschritten hat und durch Allianzen
eurasischer Staaten mit Europa und den USA beendet wird!
Wir sind Zeugen einer großen wirtschaftlich-diplomatischen Revolution, mit
neuen Finanzinstitutionen wie der Asiatischen Infrastruktur-Investititionsbank
(AIIB) und der BRICS-Bank, sowie großen öffentlichen und privaten chinesischen
Banken, die enorme Kreditsummen für Aufbauprojekte zur Verfügung stellen.
Länder, die bisher gezwungen waren, sich der Ausbeutung durch Londoner und
andere Banken zu unterwerfen, keine Kredite erhielten und barbarische
Austerität betreiben mußten, wenden sich diesem neuen Paradigma zu, das Chinas
Präsident Xi Jinping als „Win-Win“-Perspektive bezeichnet. Als Präsident Trump
Interesse an einer Beteiligung der USA an der BRI signalisierte, sahen die
neokonservativen und neoliberalen Netzwerke in der transatlantischen
Gemeinschaft darin eine existentielle Bedrohung, die um jeden Preis gestoppt
werden muß – und sei es das Risiko eines neuen Weltkriegs.
Das ist der Grund, warum die britisch-imperialen Interessen und ihre
Verbündeten ständige „Regimewechsel“-Operationen gegen Trump unternehmen,
bewußt Provokationen gegen Rußland und Präsident Putin organisieren, wie die
Chemiewaffenlügen um die Skripal-Affäre und die gefälschten Videos aus dem
syrischen Duma, und China hysterisch vorwerfen, die Neue Seidenstraße sei nur
ein Deckmantel für Beijings imperiale Absichten.
Die Präsidentin des Schiller-Instituts, Helga Zepp-LaRouche, sagte in ihrem
jüngsten internationalen Internetforum zur Neuen Seidenstraße, die Menschen in
Amerika und Europa sollten dieses Neue Paradigma begrüßen, statt Kriege gegen
es zu führen. „Die Zukunft der Zivilisation liegt in Asien, und alle Länder
des Westens, die Teil dieser Zukunft sein wollen, sollten ein gutes Verhältnis
zu dieser neuen Dynamik entwickeln, denn diese ist die vorausblickende, anders
als das alte Paradigma, das einige dieser europäischen Mächte verkörpern, die
nur in Begriffen der Vergangenheit denken.“
Diese neue Dynamik in Asien werde „die Zukunft zum bessern verändern“. Das
wird den imperialen Geopolitikern nicht gefallen, aber ihr Niedergang ist
längst überfällig.
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