"Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen.
Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst."
Friedrich Schiller
  Afrika

Appell an die Bürger des Globalen Nordens

Wir müssen den Bau einer Neuen Gerechten
Weltwirtschaftsordnung unterstützen!

Von Helga Zepp-LaRouche

Der Gipfel der BRICS-Staaten, der vom 22.-24. August in Johannesburg in Südafrika stattfindet, wird ungeachtet aller Störmanöver von westlicher Seite der ganzen Welt demonstrieren, daß eine neue Weltwirtschaftsordnung entstanden ist, die ein neues Kapitel in der Geschichte der Menschheit eröffnet. Nationen des Globalen Südens, die schon jetzt die große Mehrheit der Weltbevölkerung repräsentieren, bringen ihre praktische Entschlossenheit zum Ausdruck, die vergangene Periode von rund 600 Jahren des Kolonialismus für immer zu beenden und ein Wirtschaftssystem zu errichten, das die souveräne, gleichberechtigte Entwicklung aller Staaten auf dieser Erde, die Eliminierung von Armut und die Schaffung eines menschenwürdigen Lebensstandards für alle ermöglicht. Wir, die Bürger des Globalen Nordens, müssen diese Entwicklung aus vollem Herzen beglückwünschen und durch praktische Kooperation unterstützen!

Dabei ist eine korrekte Analyse, wie es zu dieser tektonischen Veränderung der strategischen Lage gekommen ist, essentiell. Diese Ausbildung eines neuen Wirtschaftsmodells ist nicht etwa das Ergebnis der Arbeit von „russischen Trollen“ oder „chinesischer Aggression“, wie es uns die Mainstream-Medien weiszumachen versuchen werden. Sie ist vielmehr das Resultat einer gewaltigen strategischen Fehlkalkulation von Kräften primär in den USA und Großbritannien, die sich nach der Auflösung der Sowjetunion fälschlicherweise als die Sieger des Kalten Krieges betrachteten und daraus das Recht ableiteten, einer unipolaren Welt ihr neoliberales Wirtschaftsmodell aufzuzwingen und alle Regierungen, die sich dieser „regelbasierten Ordnung“ nicht fügen wollten, durch diverse Methoden des „Regime-Wechsels“ zu ersetzen.

Die historische Chance von 1989, die darin bestand, eine damals absolut mögliche Friedensordnung für das 21. Jahrhundert zu errichten, wurde vertan und durch die Wolfowitz-Doktrin der US-Neocons und die Politik Brzezinskis ersetzt, die die von den USA und Großbritannien dominierte unipolare Weltordnung zementieren sollte, die besagte, daß niemals eine Nation oder Gruppe von Nationen die USA wirtschaftlich, militärisch oder politisch überflügeln dürfe.

Zu diesem vermeintlichen „Ende der Geschichte“, das Fukuyama zu sehen glaubte, gehörte auch die vollständige Deregulierung der Märkte und die weitreichende Privatisierung von Wirtschaftssegmenten, die zuvor unter staatlicher Kontrolle gewesen waren. Der Profitmaximierung in einer globalisierten Kasino-Wirtschaft stand nun nicht mehr viel im Wege, was zu einer immer weiteren Öffnung der Schere zwischen Arm und Reich und letztendlich genau an den Punkt führte, den Lyndon LaRouche 1971 prognostiziert hatte, als Präsident Nixon die festen Wechselkurse des Bretton-Woods-Systems aufhob, nämlich in die Systemkrise des neoliberalen Finanzsystems, die sich 2008 bereits manifestierte und die seitdem nicht behoben, sondern durch unbegrenztes Gelddrucken der Zentralbanken, das sogenannte „QE“, nur hinausgeschoben wurde.

Diese Politik, die wesentlich der Spekulation nützte, führte zu einer vielschichtigen Gegenreaktion. China war zwar bereit, sich mit seiner Reform- und Öffnungspolitik an der Globalisierung zu beteiligen, aber anstatt sich dem Modell der westliche neoliberalen Demokratie zu unterwerfen, besann sich diese 5000 Jahre alte Zivilisation auf ihre eigene Kultur, verfolgte das Modell des Sozialismus mit chinesischen Kennzeichen und setzte damit ein beispielloses Wirtschaftswunder in Gang. Die Bereitschaft Chinas, die Erfahrung dieses Erfolgsmodells mit anderen Nationen des Globalen Südens in der Form der Seidenstraßen-Initiative zu teilen, führte zu einer Renaissance der Blockfreien Bewegung und der Wiederbelebung des „Geistes von Bandung“. Es ist schmerzlich im Bewußtsein der Länder des Globalen Südens, daß der Kolonialismus sehr wohl in moderner Form – nämlich in den unfairen Handels- und Kreditbedingungen des liberalen Finanzsystems – fortbestand, wovor schon die Präsidenten Sukarno und Nehru seinerzeit vor 68 Jahren in Bandung gewarnt hatten.

Dieser Kolonialismus wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht beendet, wie Präsident Roosevelt beabsichtigt hatte, sondern durch Churchill und Truman perpetuiert. Aber vor allem nach dem 11. September 2001 konzentrierten die USA sich unter dem Banner des „Krieges gegen den Terrorismus“ auf militärische und sicherheitspolitische Operationen weltweit, die Errichtung von bis zu 1000 Militärbasen und die Ausbildung von militärischen Kräften in so gut wie allen Kontinenten. Dazu kamen dann diverse „humanitäre Interventionskriege“, die Kriege in Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien etc. Ganz offensichtlich blieb dabei die Idee des wirtschaftlichen Aufbaus dieser Länder auf der Strecke.

Es sollte niemanden verwundern, daß sich eine große Anzahl der Nationen des Globalen Südens unter diesen Umständen für die Kooperation mit den BRICS-Staaten entscheiden, die ihnen reales Wirtschaftswachstum und die Behandlung als ebenbürtige Partner anbieten. Darin und in der sehr konkreten Erfahrung des Verhaltens der früheren Kolonialmächte und der derzeitigen Hegemonialmacht liegt der Grund, warum die Nationen des Südens sich geweigert haben, Rußlands angeblich „unprovozierten Aggressionskrieg“ auf der Seite des „regelbasierten“ Westens zu verurteilen.

Der BRICS-Gipfel wird diese historische Neuausrichtung in der Welt so dramatisch sichtbar machen, daß selbst die Mainstream-Medien und politischen Kräfte, die bis vor kurzem in altgewohnter eurozentristischer Arroganz die Länder des Globalen Südens bestenfalls als exotische Urlaubsorte wahr genommen haben, nicht umhinkommen werden, die neue Realität zur Kenntnis zu nehmen. Aber die alles entscheidende Frage wird sein, wie sich die Nationen des Globalen Nordens zu dieser neu entstehenden Wirtschaftsordnung verhalten.

Der Versuch, die längst nicht mehr existierende unipolare Welt aufrecht zu erhalten, wird mit fast hundertprozentiger Garantie zum Dritten Weltkrieg führen, dem wir mit der Lage in der Ukraine – wo die konventionelle Dimension des Krieges mit dem Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive erschöpft ist, sodaß nur die Beendigung des Krieges durch diplomatische Verhandlungen oder die Eskalation zum Einsatz von Nuklearwaffen als Optionen verbleiben – schon gefährlich nahe gekommen sind. Die Vorstellung, der Westen müsse sich von China und dem Einflußgebiet der BRI „entkoppeln“ oder „Risikominderung“ betreiben, wie die neue, lächerliche Formulierung heißt, würde nicht nur zu einer wirtschaftlichen Selbstzerstörung z. B. Deutschlands führen, sondern sie führt ebenfalls zum Krieg. Denn die Aufspaltung der Welt in zwei komplett separate Blöcke – einen US-dominierten, globalen NATO-Block, der weiter am Modell der Kasino-Wirtschaft festhält, und einen wirtschaftlich schnell wachsenden Block des Globalen Südens um die BRICS-Staaten – würde ebenfalls nicht friedlich bleiben.

Es gibt nur einen sicheren Weg, wie wir aus den vielen existentiellen Krisen, die an vielen Orten der Welt bestehen, herauskommen können: Anstatt das neue Wirtschaftsmodell der BRICS-Staaten als Gegner zu betrachten und zu bekämpfen, liegt es im ureigenen Interesse der Nationen des Globalen Nordens, mit dieser entstehenden Neuen Weltwirtschaftsordnung zu kooperieren und gemeinsam die gewaltigen Aufgaben der Überwindung von Armut und Unterentwicklung in Angriff zu nehmen.

Es gibt zwar derzeit nur wenig Anzeichen, daß die Vertreter des transatlantischen Establishments bereit wären, sich ihre Fehleinschätzungen und Politikfehler der letzten fast 35 Jahre einzugestehen, von wenigen Ausnahmen wie dem ehemaligen französische Präsidenten Sarkozy abgesehen. Aber die normalen Bürger Europas und der USA sollten jetzt ganz dringend die Axiome ihres eigenen Denkens überprüfen, ob sie nicht vielleicht doch von einer eurozentristischen Sichtweise und dem damit verbundenen latenten Rassismus beeinflußt sind. Die einfache diesbezügliche Gretchen-Frage lautet: Haben wir es wirklich hingenommen, daß es für immer so bleiben soll, daß fast eine Milliarde Menschen permanent am Rande des Hungertodes steht, zwei Milliarden kein sauberes Trinkwasser haben, 940 Millionen über keinen Zugang zu Elektrizität verfügen und der allergrößte Teil der Menschheit aufgrund von Armut nicht die Fähigkeit besitzt, die in ihnen angelegten Potentiale zu entwickeln, und damit dessen beraubt werden, was zum kostbarsten Gut des Menschen gehört?

Wir müssen die Entstehung dieser neuen Wirtschaftsordnung nicht nur als für Afrika, Asien und Lateinamerika längst überfällig ansehen, sondern auch verstehen, daß auch wir selbst nur durch die Kooperation mit ihnen unsere eigene marode Wirtschaft wieder in Gang bringen können. Präsident Xi Jinping hat von Anfang klar gemacht, daß die Belt- and Road-Iinitiative für die Kooperation mit allen Staaten dieser Erde offen ist, und es ist so gut wie sicher, daß die BRICS-Staaten auf Kooperationsangebote der westlichen Nationen offen reagieren werden.

Dies erfordert allerdings, daß wir im Westen unmißverständlich demonstrieren, daß wir zu einer ehrlichen Kooperation bereit sind. Dazu gehört vor allem, das Konzept der Ausdehnung der NATO zu einer Globalen NATO aufzugeben und konkret an einer neuen internationalen Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur mitzuarbeiten, die die Interessen aller Nationen, die von Rußland, der Ukraine, China und aller anderen Staaten eingeschlossen, berücksichtigt. Welche Aspekte eine solche neue Architektur berücksichtigen muß, habe ich in den zehn Prinzipien zu diesem Thema formuliert.1

Unsere ganze Zukunft, die der Nationen des Globalen Südens und nicht zuletzt der Weltfrieden, wird davon abhängen, ob wir genügend Kräfte in den europäischen Nationen und den USA dafür gewinnen können, die außergewöhnliche Chance zu ergreifen, die in der Kooperation mit den BRICS-Plus-Staaten liegt. Wir erleben derzeit einen Epochenwandel, wie er vielleicht einmal in tausend Jahren vorkommt, und das Großartige ist, daß wir alle diese neue Ära durch unseren Beitrag mitgestalten können. Wir können dazu beitragen, daß die beschämende Phase des Kolonialismus beendet wird, und ein menschliches Kapitel der Universalgeschichte beginnt.2

zepp-larouche@eir.de


Anmerkungen

1. vgl. https://schillerinstitute.com/de/blog/2022/11/30/zehn-prinzipien-fuer-eine-neue-internationale-sicherheits-und-entwicklungsarchitektur/

2. Lesen Sie hierzu bitte auch die Einladung zur nächsten Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 9.9. in dieser Ausgabe.