"Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen.
Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst."
Friedrich Schiller
  Afrika

„Eine gigantische strategische Neuausrichtung,
von der die meisten Menschen nichts ahnen“

Von Alexander Hartmann

„Wir erleben eine gigantische geostrategische Neuausrichtung in einer Dimension, von der die meisten Menschen, glaube ich, noch keine Ahnung haben.“ Mit dieser Einschätzung eröffnete die Vorsitzende des Schiller-Instituts, Helga Zepp-LaRouche, am 2. August ihr internationales Internetforum, in dem sie die epochalen Veränderungen erläutert, die sich derzeit auf der Welt abspielen.

„Als die Sowjetunion 1991 zerfiel“, fuhr sie fort, „gab es Leute in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien und wohl auch in Europa, die dachten, dies sei das ,Ende der Geschichte‘ und die liberale Demokratie würde die ganze Welt übernehmen. Also führten sie das Konzept einer unipolaren Welt ein, was viele Dinge mit sich brachte, die nicht sehr schön waren – wie die ,humanitären‘ Interventionskriege in Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien, die enormen Schaden angerichtet haben. Millionen von Menschen starben. Es gab die Farbrevolutionen, die Regimewechsel. Ich möchte hier nicht die gesamte Geschichte der letzten 30 Jahre aufzählen, aber sie hat zu einer enormen Gegenreaktion geführt, einer Bumerang-Reaktion… Das wichtigste ist, daß die Länder, die diesem neoliberalen globalen Regime unterworfen werden sollten, begonnen haben, zu revoltieren.“

Ein Beispiel für diese Neuausrichtung sei die politische Orientierung Rußlands: „Rußland wollte nach dem Zerfall der Sowjetunion sofort in den Westen integriert werden, wollte sogar Teil der NATO sein, aber offensichtlich hat es sich anders entwickelt. So kam es zu den Sanktionen, und jetzt haben wir den Krieg in der Ukraine. Das Endergebnis von alledem ist, daß die Beziehungen zwischen dem Westen und Rußland völlig zusammengebrochen sind. Sie sind für lange Zeit ruiniert, bis es zu einem echten Kurswechsel kommt, der zwar möglich ist, aber eine völlig andere Herangehensweise erfordert. Rußland orientiert sich jetzt nicht nur an China, an Asien und der gesamten eurasischen Entwicklung, sondern auch besonders am Globalen Süden und dort vor allem an Afrika.“

Beispiel Niger

Ein weiteres Beispiel seien die Ereignisse in Niger, wo die bisherige, profranzösische Regierung durch einen Putsch des Militärs gestürzt wurde, woraufhin die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS das nigrische Militär zur Wiedereinsetzung des Präsidenten aufforderte und mit einer militärischen Intervention drohte, und sich auch Frankreich, Deutschland und die EU auf die Seite des abgesetzten Präsidenten stellten. „Aber jetzt ist das Ultimatum an die Militärs in Niger vom Tisch, weil Mali und Burkina Faso inzwischen erklärt haben, daß sie es als einen militärischen Angriff auf sie betrachten würden, wenn es ein militärisches Vorgehen gegen Niger gäbe. Dadurch droht nun ein Flächenbrand in der Sahelzone, der viele Länder der Region treffen könnte. Offensichtlich gibt es dabei einen russischen Faktor, denn viele dieser Länder haben ein besseres Verhältnis zu Rußland als zu ihren früheren Kolonialherren, in diesem Fall speziell Frankreich. So bröckelt France-Afrique, die französische Vorherrschaft über den westlichen Teil Afrikas, vor unseren Augen.“

Das eigentliche Problem sei, „daß viele der Firmen, die Niger und anderen Ländern beim Abbau ihrer Rohstoffe ,geholfen‘ haben – und Niger hat einen sehr hohen Prozentsatz des Urans, das in der französischen Nuklearindustrie verwendet wird –, diese zu Vorzugspreisen kauften, die nur eine sehr kleine Gewinnspanne für Niger übrigließen. Den größten Profit machten die internationalen Konzerne, französische und andere.

Offensichtlich wollen die Afrikaner das jetzt beenden, denn Afrika sieht es als sein Recht an, nicht nur seine Rohstoffe selbst zu besitzen, sondern auch die Wertschöpfungskette zu erweitern, Halbfertigprodukte zu produzieren und sich sogar zu industrialisieren, um Länder mit mittlerem Einkommen zu werden, die normalerweise entwickelt sind. Und das ist ihr gutes Recht!“

Doch die westlichen Länder merkten nicht einmal, daß sie immer noch auf dem hohen Roß sitzen. Als Beispiel dafür verwies Zepp-LaRouche auf die unsägliche Äußerung des EU-Chefdiplomaten Josep Borrell, Europa sei ein „Garten“ und die übrige Welt ein „Dschungel“, und diesen Garten müsse man „vor dem Dschungel schützen, der in ihn hineinwächst“. Diese Art von Eurozentrismus stehe hinter einem großen Teil der Politik der Europäer, der Vereinigten Staaten und der Briten, die „die Entwicklungsländer nicht als gleichberechtigte Partner betrachten“.

Dies werde von den Ländern des Globalen Südens sehr klar wahrgenommen, und das sei ein sehr wichtiger Grund, „warum sie sich mit China und der Gürtel- und Straßen-Initiative verbünden, warum sie mit den BRICS zusammenarbeiten, warum es 40 Länder gibt, die eine Mitgliedschaft in den BRICS beantragt haben. Es handelt sich also um eine Neuausrichtung, bei der diese Länder ihr eigenes Wirtschaftssystem haben wollen, das gerechter ist und ihrer tatsächlichen Entwicklung besser entspricht. Sie streben eine internationale Währung an, vielleicht sogar eine Reservewährung. Das aber ist der eigentliche Konflikt.“

Ende des Kolonialismus

In einer öffentlichen Internetdiskussion mit Aktivisten der Internationalen Friedenskoalition „Humanity for Peace“ am 3. August führte Zepp-LaRouche diesen Gedanken weiter aus:

    „Die wahre Zeitenwende, die sich vollzieht, ist nicht die, von der Bundeskanzler Scholz gesprochen hat. Ich würde sagen, es ist eine Zeitenwende nach etwa 500-600 Jahren. Wir erleben gerade, daß die Ära des Kolonialismus zu Ende geht.“

Sie beschrieb dann die besondere Rolle Chinas in diesem Prozeß. Als die Sowjetunion zusammenbrach, dachte man im Westen, die ganze Welt würde das neoliberale Wirtschaftsmodell übernehmen. „China wurde in die Welthandelsorganisation (WTO) aufgenommen, mit der Vorstellung, China würde zu einer westlichen Demokratie, die denselben Gesetzen folgt. Das ist aber nicht geschehen. Vielmehr hat China etwas ganz anderes getan. Das Land besann sich auf seine 5000 Jahre alte Geschichte und wurde durch die Wiederbelebung seiner kulturellen Traditionen chinesischer als je zuvor.“

Dann habe China die Gürtel- und Straßen-Initiative (BRI) beschlossen. „Das Schiller-Institut hatte viel damit zu tun, denn die Eurasische Landbrücke war unsere Antwort auf den Zusammenbruch der Sowjetunion gewesen, mein verstorbener Mann Lyndon LaRouche und ich entwickelten das als Strategie für eine Friedensordnung des 21. Jahrhunderts, indem man Europa und Asien durch wirtschaftliche Entwicklungskorridore miteinander verbindet. Das ist genau der gleiche Gedanke wie der, den Xi Jinping 2013 in Kasachstan verkündete, als er die Neue Seidenstraße ankündigte.“

Aus dieser Initiative wurde dann das größte Infrastrukturprogramm der Weltgeschichte. „Die Entwicklungsländer hatten zum ersten Mal die Chance, Armut und Unterentwicklung zu überwinden.“

Als die Vereinigten Staaten begannen, in China einen Rivalen zu sehen – das begann etwa 2017 in den Sicherheitspapieren des Pentagons –, änderte sich der Ton gegenüber China und Rußland drastisch. „Plötzlich wurden sie als Systemrivalen und Feinde bezeichnet. Ich habe das selbst beobachtet, weil wir mit unserem Projekt sehr stark daran beteiligt sind: Alle Denkfabriken, alle Mainstream-Medien änderten den Ton und fingen an, Rußland und China als Diktaturen und autokratische Regime darzustellen. Als dann die Sanktionen einsetzten – lange vor dem Ukraine-Krieg –, haben viele Entwicklungsländer das genau beobachtet. Später hat man von Rußland 300 Milliarden Dollar beschlagnahmt; 9 Milliarden von Afghanistan wurden beschlagnahmt. Venezuela und andere Länder wurden mit ungeheuerlichen Sanktionen belegt.“ Daraufhin sagte sich der Globale Süden, „daß es vielleicht keine so gute Idee ist, mit dem Dollar zu arbeiten, und der Prozeß der Entdollarisierung begann. Die Bewegung der Blockfreien Staaten hat jetzt eine völlig andere Haltung. Sie wollen ihre eigene Währung schaffen, sie wollen ihr eigenes Wirtschaftssystem haben.“

China habe ein Wirtschaftswunder vollbracht, das in der gesamten Geschichte beispiellos ist. „Es hat 850 Millionen Menschen aus der Armut befreit und schwere Armut Ende 2020 ganz beseitigt. Das wurde von Afrika, Lateinamerika und anderen asiatischen Ländern beobachtet; dann bot China eine Zusammenarbeit an, von der alle profitieren… Diese Länder des Globalen Südens haben in China und Rußland wohlmeinende Partner gefunden.“

Zepp-LaRouche schloß: „Deshalb ist das eigentliche Problem aus meiner Sicht, daß es uns gelingen muß, nicht nur gegen den Krieg zu sein, sondern einen Weg zur Zusammenarbeit zu finden. Wir müssen die Bevölkerung Europas und der Vereinigten Staaten weg von der Konfrontation hin zur Kooperation bewegen. Wenn es uns nicht gelingt, die öffentliche Meinung in Deutschland, in Großbritannien, in Amerika so zu beeinflussen, daß sie sagt, ,Gut, wir sollten mit dieser sich abzeichnenden neuen Weltwirtschaftsordnung kooperieren‘ – wenn uns das nicht gelingt, dann wird es zum Dritten Weltkrieg kommen. Eine dritte Möglichkeit sehe ich nicht…

Die Industrie in Deutschland wird nur überleben, wenn wir mit dem Globalen Süden zusammenarbeiten. Das ist eine Frage von Leben und Tod für Deutschland, aber ich denke auch für alle anderen Länder des Westens.

Deshalb habe ich schon seit längerem – vor fast einem Jahr – eine neue Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur vorgeschlagen, die die Interessen jedes einzelnen Landes auf dem Planeten berücksichtigt. Dies steht ganz in der Tradition des Westfälischen Friedens, denn wenn Sie sich erinnern, beendete dieser Frieden 150 Jahre Religionskrieg in Europa. Der Grund, warum sich damals die Kriegsparteien an einen Tisch setzten, war der, daß sie erkannten, daß, wenn sie das nicht täten, absolut niemand mehr übrig wäre, der sich über einen Sieg freuen könnte, weil sie alle tot wären.“