BRICS-Gipfel: ein großer Schritt auf dem Weg
zu einer Friedens- und Entwicklungsarchitektur
Von Alexander Hartmann
Es war eine treffende Metapher für die wachsende Macht der globalen
Mehrheit in ihrem unaufhaltsamen Bestreben, 500 Jahre wirtschaftlicher
Ausplünderung, Rückständigkeit und Kriege im Kolonialstil zu beenden: Am 23.
August, inmitten des dreitägigen BRICS-Gipfels im südafrikanischen
Johannesburg, landete die indische Raumsonde Chandrayaan-3 erfolgreich
auf dem Mond in der Nähe seines Südpols. Unmittelbar nach diesem begeisternden
Erfolg wandte sich Ministerpräsident Narendra Modi an die Wissenschaftler des
indischen Weltraumzentrums ISRO und an die Welt: „Indiens erfolgreiche
Mondmission gehört nicht Indien allein. Dieser Erfolg gehört der ganzen
Menschheit... Ich bin zuversichtlich, daß alle Länder der Welt, auch die des
Globalen Südens, solche Leistungen vollbringen können. Wir alle können nach
dem Mond und weiter streben.“ Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa, der
Gastgeber des Gipfels, antwortete darauf: „Das ist für uns als BRICS-Familie
ein bedeutendes Ereignis, und wir freuen uns mit Ihnen“, sagte er unter großem
Beifall.
Die Plenarsitzung des BRICS-Gipfels am Mittwoch, auf der die Staats- und
Regierungschefs aller fünf BRICS-Länder – Brasilien, Rußland, Indien, China
und Südafrika – sprachen, machte deutlich, daß tatsächlich eine weltweite
tektonische Verschiebung im Gange ist. Sie erwächst aus der Einsicht, daß eine
neue Architektur des Friedens und der Entwicklung heute eine Voraussetzung für
das Überleben der Menschheit ist.
„Die Welt verändert sich“, betonte Präsident Ramaphosa in seiner
Eröffnungsrede. Die Welt stehe wirtschaftlich wie auch politisch vor einer
außerordentlich gefährlichen Krise, erklärte der brasilianische Präsident Lula
da Silva, und „wir sind uns durchaus bewußt, wohin dieser Weg führen kann. Die
Welt muß begreifen, daß die damit verbundenen Risiken für die Menschheit nicht
hinnehmbar sind.“ Zudem sei es „inakzeptabel, daß die weltweiten
Militärausgaben in einem einzigen Jahr über zwei Billionen Dollar liegen,
während die FAO uns mitteilt, daß täglich 735 Millionen Menschen auf der Welt
Hunger leiden“. Lula drängte darauf, eine friedliche Verhandlungslösung für
die Ukraine-Krise zu finden, und lobte die Friedensvorschläge der drei
BRICS-Mitglieder China, Südafrika und Brasilien.
Auch der chinesische Präsident Xi Jinping betonte, daß „die Welt in eine
neue Zeit der Turbulenzen und des Wandels eingetreten ist“ und daß Frieden und
Entwicklung Hand in Hand gehen müssen. In seiner Rede vor dem
BRICS-Wirtschaftsforum am 22. August fragte er: „Sollen wir zusammenarbeiten,
um Frieden und Stabilität zu bewahren, oder einfach in den Abgrund eines neuen
Kalten Krieges schlafwandeln?“ Der Gipfel „ist ein Versuch, die Architektur
des Friedens und der Entwicklung zu erweitern“. Diese neue Weltordnung müsse
die Sicherheit aller Nationen gewährleisten, ob groß oder klein, betonten
mehrere der Staatsführer.
Zur Überwindung von Armut und Unterentwicklung erklärte Ramaphosa: „Wir
wissen, daß Armut, Ungleichheit und Unterentwicklung die größten
Herausforderungen für die Menschheit sind.“ Xi sagte: „Entwicklung ist ein
unveräußerliches Recht aller Länder und kein Privileg, das nur einigen wenigen
vorbehalten ist… Wir müssen die Rolle der Neuen Entwicklungsbank [die
BRICS-Bank NDB] voll ausschöpfen.“ Putin rief die BRICS dazu auf, „eine
Partnerschaft in den Bereichen Wissenschaft und Innovation, Gesundheitswesen,
Bildung und humanitäre Beziehungen insgesamt aufzubauen“ sowie „die
Zusammenarbeit zwischen den Banken auszubauen und die Verwendung nationaler
Währungen auszuweiten“.
Lula erläuterte die Rolle der NDB als Quelle für Nicht-Dollar-Kredite, die
in Entwicklungsprojekte zur Steigerung der realwirtschaftlichen Produktivität
fließen sollen – ein entscheidendes Thema, das auch im Bericht der
NDB-Präsidentin Dilma Rousseff an die Staats- und Regierungschefs aufgegriffen
wurde. „Durch die Neue Entwicklungsbank“, so Lula, „können wir unsere eigenen
Finanzierungsalternativen anbieten, die auf die Bedürfnisse des Globalen
Südens zugeschnitten sind. Ich bin sicher, daß die Bank unter der Führung
meiner Kollegin Dilma Rousseff diese Herausforderungen meistern wird. Die
Schaffung einer Währung für Handels- und Investitionstransaktionen zwischen
den BRICS-Mitgliedern erhöht unsere Zahlungsmöglichkeiten und verringert die
Anfälligkeit.“
Einigkeit herrschte unter den fünf Spitzenvertretern auch darüber, daß eine
Erweiterung der BRICS wünschenswert ist. Modi erklärte unzweideutig: „Indien
unterstützt die Erweiterung der BRICS-Mitgliedschaft voll und ganz.“ Xi sagte:
„Ich freue mich über den wachsenden Enthusiasmus der Entwicklungsländer für
die BRICS-Zusammenarbeit, und eine ganze Reihe von ihnen hat sich um den
Beitritt zum BRICS-Kooperationsmechanismus beworben. Wir brauchen ... eine
Win-Win-Kooperation, um mehr Länder in die BRICS-Familie zu bringen, damit wir
unsere Erfahrungen und Stärken bündeln können.“
Am 24. August gab Ramaphosa als Gastgeber des Treffens bekannt, daß die
BRICS zunächst sechs Staaten einladen, der Gruppe zum 1. Januar 2023
beizutreten: den Iran, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate,
Ägypten, Äthiopien und Argentinien. Weitere 17 Länder haben den Beitritt
offiziell beantragt.
Gemeinsame philosophische Wurzeln
Besonders charakteristisch für den Wandel und das sich abzeichnende neue
Paradigma der Zusammenarbeit und des Dialogs der Zivilisationen, das auf dem
BRICS-Gipfel spürbar wurde, sind die vielfältigen Äußerungen der Staats- und
Regierungschefs über die gemeinsamen philosophischen Wurzeln und die
Verpflichtung ihrer jeweiligen Kulturen gegenüber dem Wohl der ganzen
Menschheit. Modi begann seine Ausführungen vor dem Plenum mit der Bemerkung:
„Nicht weit von hier liegt die Tolstoi-Farm, die Mahatma Gandhi vor 110 Jahren
gebaut hat. Indem er die großen Ideen Indiens, Eurasiens und Afrikas
miteinander verband, legte Mahatma Gandhi ein starkes Fundament für unsere
Einheit und gegenseitige Harmonie.“
Ähnlich äußerte sich Xi in einem Artikel, der am 21. August in mehreren
südafrikanischen Zeitungen erschien: „Die südafrikanische Ubuntu-Philosophie
steht für Mitgefühl und Teilen. Sie stimmt gut mit den Werten des
Konfuzianismus überein: ,Liebe die Menschen und alle Wesen und strebe nach
Harmonie zwischen allen Nationen‘.“
Er schloß seine Ausführungen in der Plenarsitzung mit dem folgenden
Aufruf:
„Ein afrikanisches Sprichwort sagt: ,Wenn du schnell gehen willst, geh
allein – wenn du weit gehen willst, geh gemeinsam.‘ Die Ubuntu-Philosophie,
die davon ausgeht, daß ‘ich bin, weil wir sind‘, betont die gegenseitige
Abhängigkeit und Verbundenheit aller Völker. Auch das chinesische Volk strebt
seit Jahrtausenden ein harmonisches Zusammenleben an. China ist bereit, mit
den BRICS-Partnern zusammenzuarbeiten, um die Vision einer
Zukunftsgemeinschaft für die Menschheit zu verfolgen, die strategische
Partnerschaft auszubauen und die Zusammenarbeit in allen Bereichen zu
vertiefen. Als BRICS-Mitglieder sollten wir unsere gemeinsamen
Herausforderungen mit einem gemeinsamen Sendungsbewußtsein angehen, eine
bessere Zukunft mit einem gemeinsamen Ziel gestalten und uns gemeinsam auf den
Weg der Modernisierung begeben.“
Der Globale Norden muß sich anschließen
Helga Zepp-LaRouche, die vor dem BRICS-Gipfel einen Appell an die Bürger
des Globalen Nordens verfaßt hatte, den Bau einer neuen gerechten
Weltwirtschaftsordnung zu unterstützen (siehe Neue Solidarität
34/2023), kommentierte den Gipfel am 23. August in ihrem Internetforum:
„Was für ein Tag! Lassen Sie mich zunächst meiner größten Freude über
das, was heute geschehen ist, Ausdruck verleihen: Ich habe den BRICS-Gipfel
und die Reden verfolgt, ich habe die Nachrichten über den Erfolg der indischen
Mondmission Chandrayaan-3 gehört und gelesen, die sehr erfolgreich war.
Und dann kündigte Ministerpräsident Modi in seiner Rede an, daß Indien nicht
nur eine baldige Zusammenarbeit in der Raumfahrt zwischen den BRICS- und
BRICS-Plus-Ländern vorschlagen wird, sondern auch die Gründung eines
BRICS-Konsortiums für die Zusammenarbeit im Weltraum.
Zusammen mit all den vielen konstruktiven Vorschlägen, die von den
verschiedenen Staats- und Regierungschefs kamen, ist das der Beginn eines
neuen Zeitalters der Menschheit. Denn wenn die Mehrheit der Länder beginnt,
bei der Erforschung des Weltraums, der Wissenschaft und der Raumfahrt
zusammenzuarbeiten, wird das die Identität der Menschheit grundlegend
verändern… Ich kann nur sagen, es gibt keinen besseren Beweis für die
wundervolle Absicht der BRICS-Länder, die Menschheit in ein neues Paradigma,
eine völlig neue Art des Zusammenlebens zu führen, als diese
Entscheidung.“
Sie betonte weiter: „Ich denke daher, daß das ein unglaublich wichtiger
Moment ist. Und ich habe den Appell an die Bürger des Globalen Nordens
verfaßt, um unbedingt zu fordern, daß die Regierungen des Globalen Nordens
sich dieser Entwicklung anschließen und eine neue Weltwirtschaftsordnung zum
Wohl der gesamten Menschheit schaffen. Das ist die Forderung der Stunde, und
wir dürfen diesen Moment auf keinen Fall ungenutzt verstreichen lassen, denn
es ist eine dieser Sternstunden der Menschheitsgeschichte, in denen man
tatsächlich die ganze Richtung ändern kann, in die sich die Dinge
entwickeln.
Es gibt viele Bedenken, ob die westlichen Regierungen uns überhaupt zuhören
werden. Sie werden zuhören müssen… Denn man muß immer bedenken, daß die große
Mehrheit der Menschen in den Entwicklungsländern des Südens, die jetzt die
globale Mehrheit bilden, alles ebenfalls beobachten und durchaus in der Lage
sind, zu vergleichen, was sie vom ,Westen‘ bekommen und was ihnen die BRICS
anbieten. Und ich denke, die Entscheidung ist eindeutig.
Die einzig vernünftige Antwort lautet also: Verurteilt sie nicht, versucht
nicht, sie aus der Bahn zu werfen: Schließt euch ihnen an, denn das ist der
Weg in die Zukunft!“