Afrika und sein Kampf um Selbstbestimmung
Ein Interview mit Dr. Paolo Raffone
Dies ist die bearbeitete Abschrift eines Interviews mit Dr.
Paolo Raffone vom 22. August, das Claudio Celani, Mitherausgeber des EIR
Strategic Alert Service, für EIR und das Schiller-Institut geführt hat. Dr.
Raffone ist Gründer und Geschäftsführer des Italienischen Zentrums für
Internationale Perspektiven (CIPI) in Brüssel, einer gemeinnützigen
Forschungs- und Beratungsgesellschaft für europäische und globale strategische
und wirtschaftliche Angelegenheiten. Er hat an mehreren Missionen der
Europäischen Union zur Entwicklungszusammenarbeit in den Bereichen
demokratische Übergänge, Menschenrechte und Wahlprozesse in Afrika und
Zentralasien teilgenommen. Das Interview wurde aus dem Italienischen
übersetzt, die Zwischenüberschriften wurden hinzugefügt.
Claudio Celani: Sie sind ein aufmerksamer Beobachter Afrikas.
Wie sehen Sie die aktuelle Situation auf dem Kontinent, angesichts der Dynamik
in Richtung BRICS, der chinesischen Präsenz und der Diskreditierung der
westlichen Länder?
Dr. Paolo Raffone: Afrika ist ein Kontinent mit einer
boomenden Demographie und einem ziemlich nachhaltigen durchschnittlichen
Wirtschaftswachstum, wenn auch ungleichmäßig verteilt auf die 54 Staaten des
Kontinents. Dieser Trend begann vor etwa zwei Jahrzehnten zeitgleich mit der
Zunahme von Interesse, Investitionen und Handel mit China und Indien. Der
Rückgang des westlichen Einflusses in Afrika, vor allem des europäischen und
insbesondere des französischen, begann 1994 mit dem Völkermord in Ruanda,
verschärfte sich mit dem von den USA und ihren Verbündeten 2001 begonnenen
„Krieg gegen den Terror“ und wurde schließlich nach der NATO-Invasion in
Libyen und der Tötung Gaddafis 2011 unumkehrbar.
Heute ist die Glaubwürdigkeit des Westens in Afrika auf einem historischen
Tiefstand. Darüber hinaus hat die von der EU in Zusammenarbeit mit den
Vereinten Nationen, Weltbank, IWF und USAID geförderte
Entwicklungszusammenarbeit nicht nur keine greifbaren und nützlichen
Ergebnisse hervorgebracht, sondern statt dessen durch die Methode der
Konditionalitäten institutionelle, wirtschaftliche und soziale Reformen
aufgezwungen, die mit dem afrikanischen Kontext und der Realität nichts zu tun
haben. Es ist kein Zufall, daß diese Politik in Afrika als neokolonial
empfunden wird.
Während die institutionelle Zusammenarbeit Demokratisierungsprogramme und
Wahlsysteme unterstützte und NGO-Netzwerke zur Förderung von Rechten und
Diversität (insbesondere der Geschlechter) finanzierte, setzten europäische
kapitalistische Unternehmen durch die Aneignung afrikanischer Naturschätze
ihre Geschäfte wie gewohnt fort und fügten dabei der Umwelt und Natur großen
Schaden zu. Kongo (DRK), Angola und Nigeria, aber auch Niger und Tschad sind
krasse Beispiele dafür. Die alten Generationen (korrupter) postkolonialer
Herrscher sind verschwunden. An ihre Stelle sind neue Generationen von
Herrschern getreten, die nicht weniger autokratisch sind als ihre Vorgänger,
aber über eine bessere Ausbildung verfügen und ein Netzwerk afrikanischer
Technokraten verkörpern, die viel besser in der Lage sind, in Systemen zu
denken.
BRICS: Eine neue Plattform für die Entwicklung Afrikas
Dies erklärt das Wiederaufleben entideologisierten panafrikanischen
Gedankenguts und die Anziehungskraft der Handelsbeziehungen mit China und
Indien für die meisten afrikanischen Länder. Die BRICS bieten eine Plattform,
auf der sich die afrikanischen Länder – zumindest im Prinzip – auf Augenhöhe
mit den Gründern bewegen können, ohne Konditionalitäten und ausgehend von den
Bedürfnissen des Kontinents.
Der Erfolg der BRICS wird daran gemessen werden, wie umsichtig und sensibel
insbesondere China und Indien gegenüber ihren afrikanischen Partnern vorgehen.
In Erwartung der Schlußfolgerungen der gegenwärtigen BRICS-Verhandlungen läßt
sich bereits erkennen, daß der Westen außen vor ist, während China, Indien und
Rußland im Spiel sind und auf lange Sicht bleiben werden. Entscheidend wird
sein, inwieweit die BRICS in der Lage sind, mit den internen Bedrohungen auf
dem afrikanischen Kontinent fertigzuwerden, insbesondere mit den verschiedenen
Formen des „Terrorismus“, den Verbindungen zur transnationalen organisierten
Kriminalität und der Einmischung westlicher Staaten und kapitalistischer
Unternehmen.
Celani: Sprechen wir über die jüngsten Entwicklungen im
Zusammenhang mit dem „Putsch“ in Niger. Kann man von einem Versuch sprechen,
die Souveränität wiederzuerlangen, und von einer allgemeinen Tendenz
afrikanischer Länder, sich von einer niemals ausgerotteten Kolonisation zu
befreien?
Dr. Raffone: Im speziellen Fall von Niger haben die in der
regierenden Junta vereinten Streitkräfte überwiegend eine amerikanische
Ausbildung erhalten. Anders verhält es sich in den anderen Sahelländern, wo
Militärjuntas die regierende Junta abgelöst haben. Mit Ausnahme des Tschad, wo
ein Übergang unter der Führung von eindeutig französisch ausgebildeten
Militärs stattgefunden hat, haben alle von Militärjuntas geführten Sahelländer
eines gemeinsam: die Präsenz und Ausbeutung durch Frankreich ist vorbei. Auf
unterschiedliche Weise unterhalten diese Länder offene Beziehungen zu den
Vereinigten Staaten.
Der offensichtlichste Fall ist Niger, das die Ankunft der neuen
US-Botschafterin akzeptierte, allerdings ohne ein Beglaubigungsschreiben
auszutauschen. Gleichzeitig mußte der französische Botschafter im Tschad
Zuflucht suchen, und die französischen Streitkräfte müssen das Gebiet in den
kommenden Wochen verlassen. Ein weiteres Beispiel ist Mali, das eine lange
Grenze zu [dem pro-russischen und antifranzösischen] Algerien hat und in dem
russische PMC-Wagner-Kräfte stationiert sind. Ob mit oder ohne Militärjuntas
an der Macht, in den meisten afrikanischen Ländern besteht der Wunsch, alleine
weiterzumachen, ohne die lästige Präsenz der ehemaligen europäischen
Kolonialherren.
Frankreichs Einflußsphäre in Afrika ist weg
Celani: Wie sehen Sie die amerikanische Reaktion auf die
Entwicklungen in Niger? Wie sieht es mit Frankreichs Zukunft in Afrika
aus?
Dr. Raffone: Die Vereinigten Staaten handeln pragmatisch, um
ihre strategischen Interessen gegenüber China und Rußland auf dem
afrikanischen Kontinent zu wahren. In der Tat ist die Präsenz der USA, auch
wenn sie im Vergleich zu früher reduziert ist, für die Afrikaner nützlich,
sowohl gegenüber China und Rußland als auch gegenüber den ehemaligen
europäischen Kolonialherren, vor allem Frankreich. „Françafrique, c'est
fini“ [Frankreichs Einflußsphäre in Afrika ist weg] titelte die angesehene
Zeitschrift Hérodote. Es ist kein Geheimnis, daß große Teile der
französischen Streitkräfte seit einigen Jahren sehr verärgert über die zivile
Führung der République sind. Die französischen Militärs schlagen seit langem
vor, sich nach dem Vorbild De Gaulles aus Afrika zurückzuziehen, wie in
Algerien.
Celani: Offenbar kooperieren mehrere afrikanische Länder, um
Öl und Gas für ihre wirtschaftliche Entwicklung zu nutzen. Es ist die Rede von
einem Öl-Gas-Pipelinenetz für Zentralafrika. Wie sehen Sie diese
Entwicklung?
Dr. Raffone: Diese Entwicklungen, die unter anderem von China
begleitet und unterstützt werden, können sich nur positiv auf die
afrikanischen Volkswirtschaften auswirken. Einigen [westlichen Öl- und
Gasunternehmen] passen diese Entwicklungen offensichtlich überhaupt nicht. Es
würde mich nicht überraschen, wenn die Interessen dieser Unternehmen die
Bedingungen für eine ernsthafte Destabilisierung und Gewalt schaffen...
Die Ermordung Muammar Gaddafis
Celani: Die Frage der Infrastruktur steht bei jeder
Diskussion über die Entwicklung des Kontinents auf der Tagesordnung. In diesem
Zusammenhang haben Sie in einem kürzlich erschienenen Artikel daran erinnert,
daß Gaddafi Pläne zum Aufbau einer kontinentalen Infrastruktur hatte, um die
Unabhängigkeit Afrikas zu fördern. Welche Lehren sind aus seiner Ermordung zu
ziehen?
Dr. Raffone: Die Ermordung Gaddafis war vorsätzlich und
illegal und diente den finsteren wirtschaftlichen Interessen bestimmter
europäischer Unternehmen – eine kurzsichtige und katastrophale Operation an
allen Fronten, die denjenigen, die sie unterstützten, nicht zum Vorteil
gereichte. Die Verhältnisse in Algerien, Libyen, Tunesien, Ägypten und der
Sahelzone sind nicht günstig für die Interessen derjenigen, die den
Angriffskrieg gegen Libyen und die barbarische Ermordung seines Staatschefs
anführten. In mancher Hinsicht war die britisch-französisch geführte
NATO-Operation in Libyen 2011 in ihren mittel- und langfristigen Auswirkungen
noch weitaus verheerender als die schrecklich fehlgeleitete Operation der USA
im Irak 2003.
Celani: Die APPO [African Petroleum Producers‘ Organization],
die Vereinigung von 18 Öl- und Gasproduzenten, betrachtet laut ihres
Generalsekretärs Omar Farouk Ibrahim die sogenannte „Energiewende“ des Westens
als eine direkte Bedrohung für die Sicherheit und Entwicklung Afrikas – sie
sehen die Bedrohung nicht in China, sondern in der malthusianischen Politik
des Westens. Haben sie recht?
Dr. Raffone: Ich kann nicht sagen, ob sie recht haben. Eine
solche Aussage sollte kontextualisiert und anhand von Primärquellen analysiert
werden. Aus der Perspektive afrikanischer Öl- und Gasproduzenten, die seit
Jahrzehnten von westlichen Unternehmen „bevormundet“ werden, ist es
verständlich, so gegen die drakonischen und extrem beschleunigten Pläne der EU
zur Reduzierung fossiler Energien zu reagieren. Mir scheint, daß vielen klar
ist, daß sich die sogenannte Wende und der Green Deal der EU erheblich
verzögern werden. Zweifellos wird das diesen Plänen zugrundeliegende
Finanzabkommen Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von Investitionen in den
fossilen Energiesektor haben, auch in Afrika. Große Länder [und Märkte] wie
China und Indien werden die Europäer in den nächsten zwei bis drei Jahrzehnten
in den Beziehungen zu den APPO-Produzenten ablösen.
Celani: Wie sehen Sie die Politik Chinas in Afrika und ihre
künftige Entwicklung – sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht (Gürtel und Straße)
als auch in politischer Hinsicht (Mediation in Konflikten)?
Dr. Raffone: Diese Frage würde eine ausführliche Diskussion
erfordern, die in diesem Rahmen nicht möglich ist. Ich möchte lediglich darauf
hinweisen, daß China seine Pläne gegenüber Afrika umstellt, indem es die
staatlichen Direktinvestitionen reduziert, die bilateralen Handelsbeziehungen
ausbaut und chinesische Privatunternehmen auffordert, mehr in Afrika zu
investieren. Aus innenpolitischen Gründen sieht China Afrika nicht nur als
Rohstoff- und Agrarlieferant, sondern auch als möglichen Standort für die
chinesische Industrie. Die zahlreichen Abkommen zur Schaffung von „Zonen für
wirtschaftliche und handelspolitische Zusammenarbeit“ zeugen von diesem Wandel
in den chinesisch-afrikanischen Beziehungen. Dabei handelt es sich jedoch um
mittel- und langfristige Prozesse.
Wird die EU der schizophrenen Politik der USA folgen?
Celani: Wie sehen Sie die EU-Politik in Afrika? Abgesehen von
der Energiewende, die wir bereits erwähnt haben, sieht Brüssel China als
Bedrohung und hat „Global Gateway“ ins Leben gerufen – jedoch bisher nur mit
vielen Worten und wenig Taten.
Dr. Raffone: Die EU hat auf Druck der Vereinigten Staaten
vorschnell erklärt, daß China eine Bedrohung sei, ein „systemischer
Konkurrent“. In den letzten Wochen haben die Regierungen der europäischen
Staaten diese Aussagen, die vor allem von [EU-Kommissionspräsidentin] Ursula
von der Leyen gemacht wurden, jedoch korrigieren lassen. So verkündete der
Chef der europäischen Diplomatie, Josep Borrell, in Absprache mit dem
Europäischen Rat, daß das „EU Global Gateway“ und die BRI [Belt- &
Road-Initiative] komplementär und nicht alternativ seien.
Außerdem kündigte er an, in naher Zukunft China zu besuchen.
Andererseits versuchen auch die Vereinigten Staaten, nach dem weisen Rat
von Henry Kissinger, einen Handelsdialog mit China wieder aufzunehmen. Während
das Weiße Haus in diese Richtung geht, beharren neokonservative Teile der
Regierung, insbesondere das Außenministerium, auf der Eindämmung Chinas, der
Verteidigung der „Freiheit“ Taiwans und dem Vorantreiben Förderung
militärischer Kooperationsabkommen im Indopazifik. Ich persönlich hoffe, daß
die Europäer nach dem dramatischen und gescheiterten Abenteuer in der Ukraine
den Vereinigten Staaten nicht in eine schizophrene und gefährliche Politik
gegenüber China folgen werden.
Celani: Hier kommt der sogenannte Mattei-Plan ins Spiel, den
die italienische Regierung ins Leben gerufen hat. Wir warten noch auf seinen
Inhalt, aber allen Anzeichen nach sieht er nicht nach einem Wendepunkt aus.
Oder doch?
Dr. Raffone: Bis jetzt ist nur der Titel bekannt. Für die
Regierung Meloni, die bereits mit verschiedenen Schwierigkeiten zu kämpfen
hat, ihre Mehrheit zu halten, könnte ein Scheitern des „Mattei-Plans“ das Ende
der Regierungserfahrung bedeuten.
Celani: Kennen Sie das Transaqua-Projekt zur Umleitung von
Wasser aus dem Kongobecken in das Tschadseebecken, zu dem sich die
italienische Regierung bereits verpflichtet hatte, das aber durch die
Veränderungen im Palazzo Chigi [dem Regierungssitz] ins Stocken geraten ist?
Die Tatsache, daß die maßgeblichen Länder des Vorschlags, Nigeria und der
Tschad, aber auch die Tschadseebecken-Kommission selbst, der alle
Anrainerstaaten angehören, nicht einmal zu der Konferenz [dem sog.
„Migrationsgipfel“] im Juli nach Rom eingeladen wurden, läßt nichts Gutes
ahnen.
Dr. Raffone: Die erratische Diskontinuität der italienischen
Außenpolitik überrascht mich nicht mehr.