Südafrikas Klage gegen Israel wegen Völkermordes in Gaza
Von Daniel Platt
Aufgrund ihrer herausragenden Bedeutung dokumentieren wir
wesentliche Punkte von Südafrikas Klage gegen Israel vor dem IGH wegen
Völkermords an der palästinensischen Bevölkerung.
Dokumente zum Verfahren im Internet
Am 11. und 12. Januar hörte der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den
Haag die Argumente beider Parteien zu der Klage Südafrikas, die Israel
vorwirft, durch die Angriffe auf die Zivilbevölkerung im Gazastreifen die
Völkermordkonvention von 1948 zu verletzen.
Viele Länder des Globalen Südens – u.a. Kolumbien, Brasilien, Pakistan,
Bolivien, Jordanien, die Türkei, Malaysia, die Malediven, Namibia sowie die
Arabische Liga und die Organisation für Islamische Zusammenarbeit –
unterstützen Südafrika dabei. Südafrika fühlt sich zu seinem Schritt durch die
Worte und Taten seines Gründungsvaters Nelson Mandela verpflichtet. Dieser
große Mann beendete nach langer Zeit auf friedliche Weise ein bösartiges
Apartheidsystem, das gegen die Genfer Konventionen verstieß, aber er schenkte
auch der Gefangenschaft des palästinensischen Volkes in einem vergleichbaren
System große Aufmerksamkeit.
Die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich und Deutschland mit
Außenministerin Annalena Baerbock haben das Verfahren kategorisch abgelehnt.
Die meisten Länder der Europäischen Union äußerten sich nicht zu dem Fall.
Südafrika trägt seinen Fall vor
Die südafrikanische Menschenrechtsanwältin und ehemalige amtierende
Richterin am südafrikanischen Obersten Gerichtshof, Adila Hassim, legte am 11.
Januar vor dem IGH den Fall ihres Landes dar: Israels Krieg gegen den
Gazastreifen beinhalte „Handlungen, die unter die Genfer Konvention gegen
Völkermord fallen können“. Das ist der Maßstab, der zu beurteilen ist: Nicht,
ob Israel einen Völkermord begangen hat (in dem Fall käme die Anrufung des
Weltgerichtshofs zu spät), sondern ob seine Handlungen möglicherweise einen
Völkermord bewirken, wenn sie nicht rechtzeitig gestoppt werden.
© IGH
Am ersten Tag der Anhörungen vor dem Internationalen Gerichtshof erhob
Südafrika den Vorwurf, Israel verstoße mit seinem Krieg in Gaza gegen die
Völkermordkonvention von 1948. Das südafrikanische Anwaltsteam wurde von
Justizminister Ronald Lamola geleitet. Der leitende Jurist war der
hochangesehene John Dugard, ein südafrikanischer Professor für internationales
Recht, der gegen die Apartheid kämpfte und sich dann für das palästinensische
Volk einsetzte (hier sitzend in orangefarbener Robe).
Andere Mitglieder des südafrikanischen Teams stellten weitere Aspekte
des Falles vor, darunter die zu erwartenden völkermörderischen
Auswirkungen (durch die Ausbreitung von Krankheiten und das Abschneiden der
Versorgung mit Nahrung, Wasser und Medikamenten) sowie Äußerungen der
israelischen Staatsführung, die eine Absicht erkennen lassen, die
Zivilbevölkerung zu vernichten und das Land zu zerstören.
Hassim erläuterte zunächst, daß Israel die vollständige Kontrolle über den
Gazastreifen hat, „seine Hoheitsgewässer, Landübergänge, Wasser,
Elektrizität, elektromagnetische Sphäre und zivile Infrastruktur im
Gazastreifen sowie die wichtigsten Regierungsfunktionen“, und daß Israel alle
Zugänge in den und aus dem Gazastreifen streng kontrolliert. Dann beschrieb
sie „die schwersten konventionellen Bombenangriffe in der Geschichte der
modernen Kriegsführung“, bei denen in 13 Wochen mehr als 22.000 Palästinenser
getötet wurden, sowie
„die unmittelbare Gefahr des Todes durch Hunger, Durst und Krankheiten
infolge der andauernden Belagerung durch Israel, der Zerstörung
palästinensischer Städte, der unzureichenden Hilfslieferungen an die
palästinensische Bevölkerung und der Unmöglichkeit, diese begrenzte Hilfe zu
verteilen, während Bomben fallen“.
© ICJ
Südafrika forderte vorläufige Maßnahmen zum Schutz der
Palästinenser, während der Fall weiter geprüft wird, darunter die Einstellung
der Militäraktionen in Gaza. Prof. Vaughan Lowe (King's Council), ein
englischer Anwalt für internationales Recht, stellte die
vorgeschlagenen Maßnahmen dar.
© ICJ
Dr. Adila Hassim (Senior Council), ehemalige amtierende Richterin am
Obersten Gerichtshof Südafrikas, legte dar, daß Israels Krieg gegen Gaza
„Handlungen beinhaltet, die unter die Genfer Konvention gegen Völkermord
fallen können“, um zu zeigen, daß vorläufige Maßnahmen des
Gerichtshofs gerechtfertigt sind.
Hassim beschrieb vier Stufen des Völkermords:
Absichtserklärungen der israelischen Regierung
Der vielleicht schockierendste Teil des 84-seitigen Antrags Südafrikas an
den IGH ist die Dokumentation der Äußerungen von Mitgliedern der israelischen
Staatsführung, in denen sie zur völligen Zerstörung des Gazastreifens aufrufen
und Palästinenser als Untermenschen beschreiben. Der zweite Sprecher des
südafrikanischen Anwaltsteams, Tembeka Ngcukaitobi (Senior Council), hatte die
Aufgabe, wie er es ausdrückte, die offenen Äußerungen völkermörderischer
Absichten israelischer Beamter zusammenzufassen, vom Premierminister und
Staatspräsidenten über die Minister für Verteidigung, nationale Sicherheit und
Energie sowie Knesset-Abgeordnete bis hin zu Frontsoldaten.
© IGH
Tembeka Ngcukaitobi (Senior Council) ging auf die Frage der
völkermörderischen Absicht ein und zitierte aus zahlreichen
expliziten Absichtserklärungen israelischer Offizieller.
„Die Absicht, den Gazastreifen zu zerstören, wurde auf höchster staatlicher
Ebene gehegt und gepflegt“, sagte Ngcukaitobi. Premierminister Netanjahu
bezeichnete den Kampf gegen die Hamas nach dem 7. Oktober als „Kampf zwischen
den Kindern des Lichts und den Kindern der Finsternis, zwischen Menschlichkeit
und dem Gesetz des Dschungels“ und „Krieg zwischen den Söhnen des Lichts und
den Söhnen der Finsternis“.
Ende Oktober und nochmals in einem Brief an israelische Soldaten vom 3.
November bezog sich Netanjahu auf die biblische Geschichte der Vernichtung
Amaleks durch die Israeliten. Der Ministerpräsident sagte: „Ihr müßt euch
daran erinnern, was Amalek euch angetan hat, sagt unsere heilige Schrift. Und
wir erinnern uns.“
Der Hinweis auf Amalek bezieht sich auf 1. Samuel 15,3: „Und nun
geht hin und schlagt Amalek und vernichtet alles, was sie haben, und verschont
sie nicht; sondern tötet Mann und Weib, Kind und Säugling, Ochs und Schaf,
Kamel und Esel.“
Am 12. Oktober sagte Staatspräsident Jitzchak Herzog: „Es ist ein ganzes
Volk da draußen, das verantwortlich ist. Es ist nicht wahr, daß Zivilisten
nichts wissen und nicht beteiligt sind. Es ist absolut nicht wahr... und wir
werden kämpfen, bis wir ihnen das Rückgrat brechen.“
Am 10. November sagte der Minister für nationale Sicherheit, Itamar
Ben-Gvir: „Wenn wir sagen, daß die Hamas vernichtet werden sollte, bedeutet
das auch, daß diejenigen, die feiern, diejenigen, die unterstützen, und
diejenigen, die Süßigkeiten verteilen – daß sie alle Terroristen sind und
ebenfalls vernichtet werden sollten.“
Der südafrikanische Bericht zitiert auch eine Aussage des israelischen
Ministers für Kulturerbe, Amihai Eliyahu, am 1. November auf Facebook:
„Der Norden des Gazastreifens, schöner als je zuvor. Alles ist in die Luft
gesprengt und dem Erdboden gleich gemacht, einfach nur ein
Augenschmaus.“1
Langfristige Auswirkungen
© IGH
Die irische Anwältin Blinne Ní Ghrálaigh (King's Council) beschrieb die
längerfristigen völkermörderischen Folgen von Israels Vorgehen.
© ICJ
Blinne Ní Ghrálaigh zeigte bei der Anhörung am IGH diese weiße Tafel aus
dem Al-Awda-Krankenhaus in Gaza, vor und nach der Bombardierung durch die
israelischen Streitkräfte:
„Wer bis zum Ende bleibt, wird die Geschichte erzählen. Wir haben getan, was wir konnten. *Remember us* 20.10.2023.“
Der Autor, Dr. Mahmoud Abu Nujaila, war einer der Ärzte, die bei der Bombardierung des Krankenhauses am 21. November umkamen.
Ein irisches Mitglied des südafrikanischen Anwaltsteams, Frau Blinne Ní
Ghrálaigh (King's Council), befaßte sich mit den längerfristigen
völkermörderischen Folgen, die in Gang gesetzt wurden. Sie betonte, man müsse
davon ausgehen, daß es mehr Tote durch Krankheiten und Hunger geben wird als
durch Beschuß und Bombardierungen. Besonders bemerkenswert war jedoch ihr
moralischer Appell an den Gerichtshof.
Sie zeigte ein Foto einer Wandtafel in einem Krankenhaus in Gaza, die der
Planung von Operationen diente. Die Tafel war leer, weil keine chirurgischen
Eingriffe mehr möglich waren, dort stand nur noch eine handschriftliche
Nachricht eines Arztes von Ärzte ohne Grenzen: „Wer bis zum Ende bleibt, wird
die Geschichte erzählen. Wir haben getan, was wir konnten. Vergeßt uns
nicht.“
Wie Ní Ghrálaigh erklärte, starb der Autor dieser Zeilen, Dr. Mahmoud Abu
Nujaila, bei der israelischen Bombardierung des Krankenhauses am 21. November.
Anschließend zitierte sie aus der Weihnachtspredigt von Pfarrer Dr. Munther
Isaac, Pastor der evangelisch-lutherischen Weihnachtskirche in Bethlehem:
„Gaza, wie wir es kennen, existiert nicht mehr. Das ist eine Vernichtung. Es
ist ein Völkermord... Nach diesem Völkermord gibt es keine Entschuldigung
mehr. Was geschehen ist, ist geschehen.“ Und an die ganze Welt und besonders
die Christen gerichtet: „Ich möchte, daß Sie in den Spiegel schauen und sich
fragen: Wo war ich, als in Gaza ein Völkermord stattfand?“
Sie schloß: „Südafrika steht hier vor diesem Gericht... Es hat getan, was
es konnte. Es tut, was es kann, indem es dieses Verfahren einleitet. Wir
fordern dieses ehrenwerte Gericht auf, zu tun, was in seiner Macht steht. Die
Hoffnungen [des Gazastreifens] – einschließlich der Hoffnung auf das nackte
Überleben – ruhen nun auf diesem Gericht.“
Die israelische Antwort vor dem IGH
Dr. Tal Becker, Rechtsberater des israelischen Außenministeriums,
versuchte, Israels Großangriff auf Gaza als rein defensiv darzustellen. Er
bestand darauf, daß nicht Israel, sondern die Hamas des Völkermordes angeklagt
werden sollte. Wenn es Akte des Völkermordes gab, „dann wurden sie gegen
Israel verübt“. Die Hamas führe ihre militärischen Operationen im Gazastreifen
„systematisch und rechtswidrig“ in und unter zivilen Wohngebieten durch.
Ein großer Teil der israelischen Argumentation bestand aus einer
detaillierten Beschreibung mit Foto- und Videopräsentationen der Greueltaten,
die angeblich von der Hamas während der Angriffe am 7. Oktober begangen
wurden. Dies sollte nahelegen, daß die Grausamkeit der Angriffe an diesem Tag
die Grausamkeit der monatelangen Reaktion der militärisch unendlich
mächtigeren israelischen Verteidigungskräfte (IDF) rechtfertige und daß die
Massentötungen eine leider notwendige Abschreckung gegen zukünftige Angriffe
dieser Art wären.
© IGH
Am 12. Januar antwortete Israel auf die Anklage Südafrikas wegen
Völkermordes. Dr. Tal Becker, Rechtsberater des israelischen
Außenministeriums, versuchte, Israels massiven Angriff auf Gaza als rein
defensiv darzustellen.
Doch das Völkerrecht kennt keine rechtliche Rechtfertigung für
Völkermord, auch nicht als präventive Selbstverteidigung. (Führende Nazis
hatten vor dem Nürnberger Tribunal erfolglos versucht, dieses Argument zu
verwenden.)
Becker behauptete weiter, Südafrikas Klage sei ein Mißbrauch der
Völkermordkonvention: „Die Völkermordkonvention ist nicht dafür
gedacht, die brutalen Auswirkungen intensiver Feindseligkeiten auf die
Zivilbevölkerung zu bekämpfen, selbst wenn die Anwendung von Gewalt ,sehr
ernste Fragen des Völkerrechts aufwirft und enormes Leid und anhaltende
Verluste an Menschenleben mit sich bringt‘.
Die Konvention wurde geschaffen, um ein bösartiges Verbrechen von
außerordentlicher Schwere zu bekämpfen. Der Versuch, den Begriff ,Völkermord‘
als Waffe gegen Israel einzusetzen, bedeutet mehr, als dem Gericht eine grob
verzerrte Geschichte zu erzählen. Er untergräbt Ziel und Zweck der Konvention
selbst, mit Folgen für alle Staaten, die versuchen, sich gegen diejenigen zu
verteidigen, die völlige Verachtung für das Leben und das Gesetz an den Tag
legen.“
Becker vertrat die Ansicht, der Begriff „Völkermord“ sei nicht auf das
Vorgehen der IDF in Gaza, sondern eher auf die „Sprache der Vernichtung“ der
Hamas anzuwenden.
Malcolm Shaw (King's Council), ein britischer Professor für internationales
Recht, bemühte sich, die von Südafrika vorgelegten Beweise für eine
völkermörderische Absicht zurückzuweisen: „Was die Taten in diesem Fall
betrifft, gibt es wenig, was über zufällige Behauptungen hinausgeht, um zu
beweisen, daß Israel die konkrete Absicht hat oder hatte, das palästinensische
Volk ganz oder teilweise zu vernichten.“
Er argumentierte weiter, Netanjahus Bezug auf Amalek sei aus dem
Zusammenhang gerissen, und Netanjahu habe nur zur Zerstörung der Hamas, aber
nicht der Palästinenser im allgemeinen aufgerufen.
Gilad Noam, Israels stellvertretender Generalstaatsanwalt für
internationales Recht, behauptete, die israelischen Streitkräfte seien
sorgfältig bemüht, den Schaden für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen so
gering wie möglich zu halten. „Sollte es der Fall sein – was wir bestreiten –,
daß die israelischen Streitkräfte gegen einige der Konfliktregeln verstoßen
haben, dann würde diese Angelegenheit zu gegebener Zeit von Israels fähigem
und unabhängigem Rechtssystem behandelt werden.“
Ein wichtiges Element der israelischen Verteidigungsstrategie bestand
darin, Südafrika anzugreifen und seine Motive für die Klage in Zweifel zu
ziehen. Becker behauptete, die südafrikanische Regierung hätte „lange stolze
Verbindungen zu Hamas-Figuren“ gehabt. Lior Haiat, Sprecher des israelischen
Außenministeriums, nannte Südafrika den „juristischen Arm der Hamas“.
© X/PalMissionUK
Palästinenser versammelten sich am 11. Januar auf dem Mandela-Platz in
Ramallah, um Südafrika dafür zu danken, daß es Palästina vor dem
Internationalen Gerichtshof verteidigt. Ein Ad-hoc-Orchester spielte die
südafrikanische Nationalhymne und der Bürgermeister hielt eine Rede. Die
Südafrikaner hatten unter Nelson Mandelas Führung die Apartheid beendet,
erkannten aber die gleiche Form der Unterdrückung in Palästina und kämpften
gegen sie.
Beobachtern in aller Welt ist allerdings klar, daß Südafrika als das Land,
das die Apartheid überwunden hat, eine gewisse moralische Autorität genießt.
In vielen Teilen der Welt wird Israel vorgeworfen, Apartheid gegen die
Palästinenser zu praktizieren, wie Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa
kürzlich betonte. Apartheid ist zwar in dem Gerichtsverfahren
kein Thema, sie gilt aber als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das nach
dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs strafbar ist.
Associated Press merkte in einem Artikel über den Fall vor dem IGH
an:
„Nelson Mandela sprach regelmäßig über die Not der Palästinenser. Drei
Jahre nach dem Ende der Apartheid und der weißen
Minderheitenherrschaft in Südafrika und der Wahl Mandelas zum
Präsidenten in den historischen Wahlen für alle Rassen im Jahr 1994 dankte er
der internationalen Gemeinschaft für ihre Hilfe. Er fügte hinzu:
,Aber wir wissen nur zu gut, daß unsere Freiheit ohne die Freiheit der
Palästinenser unvollständig ist.‘“
David Shavin, Carl Osgood, Dennis Small und Jason Ross haben zu diesem
Artikel beigetragen.
Anmerkung
1. Das sind nur einige der Zitate, die im Antrag Südafrikas zu finden sind.
Eine umfangreiche Datenbank mit ähnlichen Zitaten findet sich auf der Webseite
israelquotes.com.