Eine juristische Expertenmeinung:
Warum Südafrikas Klage gerechtfertigt ist
Von Prof. Francis Boyle
Am 19. Januar hielt Prof. Francis Boyle bei einem Treffen der International
Peace Coalition den folgenden Vortrag über seine Geschichte, in der er einen
Fall von Völkermord vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag,
auch bekannt als Weltgerichtshof, verhandelt und gewonnen hat. Boyle ist ein
amerikanischer Menschenrechtsanwalt und Professor für internationales Recht am
College of Law der Universität Illinois. Er vertrat Bosnien und Herzegowina
während des Verfahrens vor dem IGH im Jahr 1993.
Wir veröffentlichen die Ausführungen von Prof. Boyle, damit sein
Rechtsgutachten zum aktuellen Verfahren Südafrikas gegen Israel vor dem IGH
international zu einem größeren Diskussionsthema wird. Wir hoffen, daß dieses
Wissen und seine Verbreitung unter allen Befürwortern eines gerechten Friedens
die Möglichkeiten externer politischer Kräfte, Druck auf die Richter des IGH
auszuüben, damit sie die Rechtsgrundsätze der „Konvention über die Verhütung
und Bestrafung des Völkermordes“, die am 9. Dezember 1948 von der
UN-Generalversammlung angenommen wurde, ignorieren, erheblich verringern
wird.
* * *
Ich danke Ihnen sehr, daß ich heute hier sein darf. Ich möchte Helga
Zepp-LaRouche meinen Dank dafür aussprechen, daß ich zu diesem kritischen
Zeitpunkt in der Geschichte der Menschheit auf dieser Konferenz sprechen
darf.
Ich glaube, daß die Republik Südafrika im Namen der Palästinenser eine
einstweilige Schutzanordnung gegen Israel erwirken wird. Ich spreche hier in
einer rein rechtlichen Angelegenheit. Während wir heute hier sprechen, üben
Israel und die Vereinigten Staaten offensichtlich massiven politischen Druck
auf die Richter des Weltgerichtshofs aus, gegen die Republik Südafrika und die
Palästinenser zu entscheiden.
Die ,Rechtstechnische Angelegenheit‘
Ich werde dies nur als eine technische, rechtliche Angelegenheit behandeln.
Ich war der erste Anwalt, der jemals vor dem Internationalen Gerichtshof auf
der Grundlage der Völkermordkonvention einen Sieg errungen hat. Ich erwirkte
einen massiven, überwältigenden Beschluß für die Republik Bosnien-Herzegowina
gegen das Rumpfjugoslawien, alle Völkermordhandlungen an den Bosniern zu
unterlassen. Das war im April 1993. Am 13. September 1993 erwirkte ich dann
eine zweite, überwältigende Verfügung für die Republik Bosnien-Herzegowina
gegen Jugoslawien, den Völkermord an den Bosniern zu unterlassen und zu
beenden.
Dies war das erste Mal in der Geschichte des Weltgerichtshofs, daß ein
Anwalt zwei derartige Verfügungen in einem Fall erwirkt hat, seit der
Weltgerichtshof 1921 gegründet wurde. Dann erwirkte ich einen dritten
Beschluß, einen so genannten Artikel 74, Absatz 4, der vom Präsidenten des
Gerichtshofs erlassen wurde und für die Parteien bindend war. Also drei
Anordnungen in weniger als sechs Monaten.
Darüber hinaus habe ich im Namen meiner damaligen Mandanten - den Müttern
der Opfer von Srebrenica und Prijedor, die das Massaker von Srebrenica
überlebt haben – den Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs für das
ehemalige Jugoslawien davon überzeugt, meinen Gegner, den jugoslawischen
Präsidenten Slobodan Milošević, wegen fast aller Verbrechen anzuklagen,
die in den Statuten des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige
Jugoslawien (ICTY) vorgesehen sind, darunter auch zwei Fälle von Völkermord.
Zum einen wegen Völkermordes an Bosnien im Allgemeinen und zum anderen wegen
Völkermordes in Srebrenica im Besonderen.
Er wurde in Den Haag vor Gericht gestellt. Nach Abschluß der Beweisführung
der Staatsanwaltschaft beantragte er die Abweisung aller Anklagepunkte. Das
Gericht lehnte dies ab und entschied, daß die Staatsanwaltschaft genügend
Beweise vorgelegt habe, um ihn in allen Anklagepunkten zweifelsfrei zu
verurteilen, einschließlich der beiden Fälle von Völkermord. Daraufhin starb
er auf mysteriöse Weise. Tote reden nicht mehr.
Ich habe hier nicht die Zeit, den gesamten Antrag der Republik Südafrika,
das Ersuchen um vorläufige Schutzmaßnahmen und die sechsstündige mündliche
Verhandlung vor dem Weltgerichtshof mit zwei Anwaltsteams auf beiden Seiten
durchzugehen. Übrigens, falls Sie diese Anhörungen verfolgt haben, ich habe
all diese Argumente für Bosnien-Herzegowina selbst vorgetragen.
Der tatsächliche Präzedenzfall
Was ich hier jedoch hervorheben möchte, ist aus meiner Sicht der wichtigste
Faktor, den Sie feststellen werden, wenn Sie die Anhörungen verfolgen. Das war
die Argumentation über meine ursprüngliche Anordnung für die Bosnier, die hin
und her ging. Der britische Anwalt, der Israel vertritt, [Christopher] Staker,
hat nach Strich und Faden über die Bedeutung meiner ersten Anordnung gelogen.
Er hat gelogen.1 Lassen Sie mich Ihnen aus meiner ersten Anordnung
vorlesen, die ich gewonnen habe. Er hat diesbezüglich gelogen; er sagte, sie
bedeute nicht das, was sie tatsächlich gesagt hat, [nämlich]:
„Einstimmig soll die Regierung Jugoslawiens gemäß ihrer in der
Völkermordkonvention eingegangenen Verpflichtung unverzüglich alle in ihrer
Macht stehenden Maßnahmen ergreifen, um die Begehung des Verbrechens des
Völkermordes zu verhindern.“
Das war eine Lüge, und ich habe in meinen Interviews immer wieder gesagt,
daß zumindest die Republik Südafrika eine solche vorläufige Maßnahme im Namen
der Palästinenser als Präzedenzfall durchsetzen wird.
Zweitens versuchte der britische Anwalt Staker, eine andere Maßnahme
wegzuerklären und herunterzuspielen – die dann übrigens in der zweiten
Anordnung, die ich vor dem Weltgerichtshof gewonnen habe, mit 13 zu 2 Stimmen
bestätigt wurde, was Staker nicht erwähnte. [Die zweite Anordnung] „bestätigt
die in Paragraph 52A1 der Anordnung des Gerichts vom April 1993 angegebene
vorläufige Maßnahme, die sofort und effektiv umgesetzt werden sollte.“ Nur der
russische Richter und der serbische Ad-hoc-Richter entschieden gegen mich. Und
natürlich steckten Rußland und Serbien miteinander unter einer Decke.
Nun, Staker hat in Bezug auf diese Bestimmung nicht gelogen, aber er hat
versucht, ihre Bedeutung wegzuerklären und herunterzuspielen. Lassen Sie es
mich wiederholen:
„Einstimmig sollten die Regierung Jugoslawiens und die Regierung von
Bosnien-Herzegowina keine Maßnahmen ergreifen und sicherstellen, daß keine
Maßnahmen ergriffen werden, die den bestehenden Streit über die Verhinderung
oder Bestrafung des Verbrechens des Völkermords verschärfen oder ausweiten
oder seine Lösung erschweren könnten.“
Ich glaube, ich habe diese Maßnahme ergriffen, weil ich davon ausging, daß
wir der Anordnung folgen würden und Jugoslawien unter Milosevic sie grob
mißachten würde. Und ich wollte Jugoslawien in massive Verstöße gegen alle
Bereiche des Völkerrechts verwickeln, nicht nur gegen die
Völkermordkonvention. Diese Maßnahme wurde in dem zweiten Beschluß, den ich
erwirkte, bekräftigt: „Mit 14 gegen 1 Stimme wird die in Paragraph 52b des
Beschlusses des Gerichts vom 8. April 1993 genannte vorläufige Maßnahme
bekräftigt, die unverzüglich und wirksam umgesetzt werden sollte.“
Wohlgemerkt, 14 zu 1; sogar der russische Richter stimmte dem zu, nur der
serbische Ad-hoc-Richter stimmte gegen mich.
Was nun die dritte Maßnahme des vorläufigen Schutzes betrifft, die ich für
die Bosnier erwirkt habe, so hat die Republik Südafrika um eine modifizierte
Version dieser Maßnahme gebeten. Sie wurde an die Umstände des Falles der
Palästinenser angepaßt:
„Mit 13 zu 1 Stimmen sollte die Regierung Jugoslawiens insbesondere
versichern, ... keine Akte des Völkermordes, der Verschwörung zum Völkermord,
der direkten und öffentlichen Aufforderung zum Völkermord oder der
Mittäterschaft am Völkermord zu begehen, unabhängig davon, ob sie sich gegen
die muslimische Bevölkerung von Bosnien-Herzegowina oder gegen eine andere
nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe richten.“
Zu dieser Zeit gab es in Bosnien – und gibt es immer noch – etwa zehn
verschiedene rassische, ethnische und nationale Gruppen. Ich habe sie alle
geschützt. In erster Linie Muslime, aber auch Kroaten, Juden, Türken, Roma und
andere; ich habe sie alle geschützt.
Druck durch Mitschuldige
In diesem Fall geht es natürlich nur um die Palästinenser, und deshalb
wurde diese Maßnahme von der Republik Südafrika geändert. Und wieder, in
meiner zweiten Anordnung, 13 Stimmen zu 2; nur der russische Richter und der
serbische Ad-hoc-Richter stimmten gegen mich. „Bekräftigt die in Paragraph
50A2 des Beschlusses angegebene vorläufige Maßnahme, die sofort und effektiv
umgesetzt werden sollte.“
Aus diesem Grund bin ich der Meinung, daß die Republik Südafrika diese drei
einstweiligen Schutzmaßnahmen erhalten sollte, und zwar aus rein rechtlicher
Sicht. Aber auch in politischer Hinsicht wird massiver Druck ausgeübt. Ich bin
sicher, daß die Richter des Weltgerichtshofs heute von den Vereinigten Staaten
und Israel und ihren Unterstützern erpreßt, bedroht, genötigt und
eingeschüchtert werden, gegen die Republik Südafrika zu entscheiden.
Lassen Sie mich abschließend noch auf die Komplizenschaft der Regierung
Biden und der Briten eingehen. Dies ist eine Komplizenschaft bei der Begehung
von Völkermord, die gegen Artikel 3, Absatz E der Völkermordkonvention
verstößt, der die Komplizenschaft bei Völkermord unter Strafe stellt. Ich
befand mich in einer ähnlichen Situation für Bosnien-Herzegowina. Auf meinen
Rat hin ermächtigte mich der bosnische Präsident Alija Izetbegović am 15.
November 1993, Großbritannien vor dem Internationalen Gerichtshof wegen
Beihilfe zum Völkermord an den Bosniern zu verklagen, wozu ich auch bereit
war, als die Briten drohten, die Bosnier auszuhungern, falls ich die Klage
tatsächlich einreichen würde. Allerdings verhandelte ich zu diesem Zeitpunkt
bereits mit dem Gericht über die Anhörung in meiner Klage gegen
Großbritannien.
Ich habe Ihnen meine Einschätzung der aktuellen Situation dargelegt. Das
ist der Stand der Dinge, und ich bin sehr froh, heute hier zu sein.
Anmerkung
1. Was Staker während seiner Aussage am 12. Januar behauptete, war: „Im
Bosnien-Fall haben Sie [das Gericht – Anm. d. Red.] es abgelehnt, eine von
Bosnien und Herzegowina beantragte vorläufige Maßnahme zu gewähren, wonach
Jugoslawien ,alle völkermörderischen Handlungen einzustellen und zu
unterlassen‘ hat. Sie sollten auch diesen Antrag [Südafrikas – d. Ü.]
ablehnen“.
Tatsächlich erließ das Gericht am 13. September 1993 eine Anordnung zu
diesem Fall, in der es hieß: „In einer Anordnung in der Rechtssache betreffend
die Anwendung der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des
Völkermordes (Bosnien und Herzegowina gegen Jugoslawien (Serbien und
Montenegro)) erließ das Gericht eine einstweilige Anordnung über vorläufige
Maßnahmen, in der es die Maßnahmen bekräftigte, die es am 8. April 1993
angeordnet hatte, als Bosnien-Herzegowina zum ersten Mal den Gerichtshof gegen
Jugoslawien (Serbien-Montenegro) anrief. Es stellte fest, daß ,die
gegenwärtige gefährliche Situation nicht die Angabe von vorläufigen Maßnahmen
zusätzlich zu den in der Anordnung des Gerichtshofs vom 8. April 1993
genannten Maßnahmen, sondern die sofortige und wirksame Durchführung dieser
Maßnahmen erfordert‘“.
Staker fügte am 12. Januar auch das Folgende hinzu, das sich auf den Fall
der von Südafrika empfohlenen vorläufigen Maßnahmen gegen Israel bezieht:
„Während vorläufige Maßnahmen der Sache nicht vorgreifen, wird eine solche
stillschweigende Feststellung den Ruf des beklagten Staates schädigen, was
nicht nur prinzipienlos ist, sondern auch nicht notwendig im Sinne von Artikel
41 des Statuts, um die eingeklagten Rechte auf einer vorläufigen Basis zu
schützen.“