"Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen.
Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst."
Friedrich Schiller
  Afrika

Weltgerichtshof hört Klage gegen Völkermord in Gaza

Die südafrikanische Regierung hat Israel beim Internationalen Gerichtshof wegen Völkermord an den Palästinensern verklagt.

Auch wenn das Urteil des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag noch nicht gefällt ist, war die Anhörung vor dem IGH über Südafrikas Klage gegen Israel wegen Völkermordes an den Palästinensern am 11.-12. Januar zweifellos die strategisch bedeutendste Entwicklung der vergangenen Woche. Südafrikas Regierung will mit der Klage vom 29. Dezember eine einstweilige Verfügung gegen Israel erwirken, mit einem Waffenstillstand die Kriegshandlungen einzustellen. Am 11. Januar trugen Südafrikas Vertreter ihre Anklage ausführlich, eloquent und wohldokumentiert vor, am 12. Januar – nach Redaktionsschluß dieser Ausgabe – hatte Israel Gelegenheit, darauf zu antworten.1

Es wird erwartet, daß das Gericht etwa eine Woche braucht, um eine Entscheidung darüber zu fällen. Der IGH, ein Teil der Vereinten Nationen, kann zwar selbst keinen Waffenstillstand durchsetzen, aber die laufende Mobilisierung kann die Voraussetzungen dafür schaffen.

Viele Staaten und Organisationen unterstützen die mutige Initiative Südafrikas, das auf eine lange Geschichte im Kampf gegen Apartheid und Menschenrechtsverletzungen zurückblicken kann und ein wichtiges Mitglied der BRICS-Gruppe ist. Die Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) – 57 Mitgliedsstaaten und fünf Beobachter, darunter Rußland – begrüßte umgehend die Initiative und forderte den IGH auf, „dringend Maßnahmen zu ergreifen, um diesen Massengenozid zu stoppen“. Die jordanische Regierung und die Arabische Liga haben Unterstützungsmaterial vorbereitet. An der Basis ruft eine neue „Internationale Koalition zur Beendigung des Völkermords in Palästina“, die von 600 Organisationen aus der ganzen Welt unterstützt wird, Länder dazu auf, die Initiative mitzutragen. Am 7. Januar hat sich auch Bolivien offiziell der Klage angeschlossen.

Die Vorwürfe in der Klageschrift, die durch seitenlange Zitate israelischer Regierungsvertreter untermauert werden, sind so fundiert, daß kein einziger Völkerrechtsexperte, der den 84-seitigen Schriftsatz gelesen hat, einen Fehler in Südafrikas ausführlicher Begründung finden konnte. Experten aus aller Welt bestätigen, daß die dargelegten Fakten sowie die zehn Seiten mit Zitaten israelischer Beamter eindeutig eine Völkermord-Absicht belegen.

Die israelische Regierung behauptet, sie werde alle Vorwürfe vor dem Gericht entkräften, aber selbst innerhalb des Kabinetts ist ein offener Streit über die Pläne für Gaza nach dem Ende der Kämpfe ausgebrochen.

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sucht verzweifelt Unterstützung im In- und Ausland. Am 4. Januar sandte sein Außenministerium ein Eiltelegramm an seine Botschaften in aller Welt und wies sie an, Druck auf ihre Gastländer auszuüben, „öffentlich und deutlich zu erklären, daß ihr Land diese ungeheuerlichsten [sic], absurden und unbegründeten Anschuldigungen gegen Israel zurückweist“.

Drei israelische Beamte übermittelten dem Nachrichtenportal Axios eine Kopie des Telegramms. Axios zufolge besagt es, daß Israels dreiteiliges „strategisches Ziel“ darin besteht, den IGH dazu zu bringen, a) die einstweilige Verfügung abzulehnen, b) das Völkermord-Urteil zurückzuweisen und c) anzuerkennen, daß die israelischen Streitkräfte im Einklang mit dem Völkerrecht handeln. In dem Kabel heißt es u.a.: „Eine Entscheidung des Gerichts könnte erhebliche potentielle Auswirkungen haben, die nicht nur im juristischen Bereich liegen, sondern auch praktische bilaterale, multilaterale, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Konsequenzen haben...“ Die Botschaften werden zur Eile gemahnt, da die Erklärungen vor der Anhörung vor dem IGH benötigt wurden. Hinzugefügt wird, daß Ministerpräsident Netanjahu Briefe mit demselben Inhalt an die wichtigsten Regierungen schickt.

Bei der US-Regierung ist ein solcher Druck offenbar nicht nötig. Der Sprecher des Außenministeriums, Matt Miller, erklärte am 3. Januar, seinem Ministerium seien keine Beweise für einen Völkermord bekannt und die Vorwürfe seien „unproduktiv“. Der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby, erklärte am nächsten Tag sogar, die Eingabe sei „unverdient, kontraproduktiv und entbehrt jeglicher Grundlage“.

Ein endgültiges Urteil des IGH wird zwar einige Zeit benötigen. Aber das Gericht kann nach der ersten Anhörung zunächst feststellen, daß ein „plausibles Risiko“ besteht, daß Israel völkermörderische Handlungen begeht, und es auffordern, diese Handlungen einzustellen. Arab News vom 4. Januar zitiert dazu die Völkerrechtsexpertin Michelle Kelsall von der Fakultät für Orient- und Afrikastudien der Universität London, die auch Co-Direktorin des Centre for Human Rights Law ist:

    „Wenn das Gericht feststellt, daß ein plausibles Risiko für völkermörderische Handlungen besteht, kann es vorläufige Maßnahmen anordnen, die dem Antrag Südafrikas entsprechen, was im Einklang mit der jüngsten Rechtsprechung des Gerichts stünde. Es muß nicht feststellen, daß Israel völkermörderische Handlungen begeht, damit die ,Verpflichtung zur Verhinderung’ geltend gemacht oder vorläufige Maßnahmen angeordnet werden können. Es reicht aus, daß auf der Grundlage der vorgelegten Beweise ein plausibles Risiko eines Völkermordes nachgewiesen wurde.“

Zu diesen Beweisen gehören nicht nur die vielen zivilen Opfer, sondern auch die schwere Beschädigung der Gesundheitsversorgung, die massenhafte Zerstörung von Wohnungen, die Blockaden, die die Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser und medizinischer Hilfe verhindern, sowie die massenhafte Vertreibung und Umsiedlung von Menschen aus dem Gazastreifen. Diese Beweise sind in dem 84-seitigen südafrikanischen Dossier enthalten. Darüber hinaus sollen die darin zitierten Äußerungen offizieller israelischer Vertreter, darunter Netanjahus Bezugnahme auf die Amalekiter aus der Bibel, die völkermörderische Absicht belegen.

Auch der Regierung Biden drohen Konsequenzen

Kelsall zufolge könnte ein Urteil auch Auswirkungen auf andere Staaten als Südafrika und Israel haben. In früheren Urteilen habe der IGH außenpolitischen Einfluß stets als einen Faktor betrachtet. „Während Südafrika möglicherweise nur begrenzte Möglichkeiten hat, mehr zu tun, als es bereits getan hat, könnten mehrere andere Staaten, darunter die USA und Großbritannien, auf eine viel bedeutendere Verpflichtung zur Verhinderung von Völkermord hingewiesen werden.”

Auch der Direktor des Washingtoner Quincy Institute, Sarang Shidore, erklärte laut Arab News, ein Urteil gegen Israel „hätte Auswirkungen auf das Ansehen der USA... Die Regierung Biden ist zunehmend anfällig für Gegner des Krieges im Inland und für internationale Vorwürfe der Doppelmoral...“

Der bekannte Völkerrechtsexperte Francis Boyle – der selbst vor dem IGH zwei Urteile gegen Jugoslawien wegen Verstoßes gegen die Völkermordkonvention in Bosnien erwirkt hat – erklärte am 2. Januar in einem Interview mit Democracy Now!, nach einer sorgfältigen Prüfung aller bisher eingereichten Dokumente glaube er, daß Südafrika ein Unterlassungsurteil gegen Israel erwirken wird. Nach seiner Erfahrung mit dem IGH dürfte das Urteil innerhalb von etwa einer Woche nach der Anhörung ergehen. Danach seien alle 153 Unterzeichnerstaaten der Völkermordkonvention verpflichtet, Israels Völkermord zu verhindern. Und die Regierung Biden werde nach Artikel 3, Absatz (e) der Konvention, der die Komplizenschaft bei Völkermord unter Strafe stellt, als Mittäter dastehen.

Boyle verwies auf „meine Freunde“ vom Center for Constitutional Rights (CCR), die auf dieser Grundlage eine Klage gegen Präsident Biden, Außenminister Blinken und Verteidigungsminister Austin anstrengen, weil die USA „ihren Einfluß auf Israel nicht genutzt haben, um den Völkermord zu verhindern“, und dieses Versäumnis „Komplizenschaft beim Völkermord“ darstelle. Die Klage wurde bereits am 13. November in Kalifornien im Namen von Defense for Children International-Palestine, der Menschenrechtsgruppe Al-Haq und von Palästinensern aus Gaza eingereicht.

Ein Ziel ist dabei eine einstweilige Verfügung, um die militärische und diplomatische Unterstützung der USA für Israels Angriffe zu stoppen. Eine Anhörung ist für den 26. Januar angesetzt. Am 3. Januar wurde eine juristische Stellungnahme (Amicus Curiae) zugunsten der Klage von „77 juristischen und basisorientierten Nichtregierungsorganisationen aus der ganzen Welt – von Buffalo bis Bahrain, von Irland bis Indonesien“ eingereicht, wie das CCR berichtet. Hinzu kommen vier weitere Amici-Schriftsätze: einer von Medizinern, einer von palästinensischen Journalisten, einer von vier Organisationen von Muslimen und arabischen Amerikanern und einer von der jüdischen Friedensgruppe Jewish Voice for Peace.

„Basisdiplomaten“ mobilisieren zur Unterstützung Südafrikas

Das internationale Schiller-Institut hat zur Unterstützung Südafrikas in diesem „entscheidenden Kampf um die Zivilisation“ aufgerufen, der mehr denn je die Dringlichkeit einer neuen Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur für die Welt belegt. Die LaRouche-Organisation hat einen internationalen Aufruf verbreitet, um die Welt zur Vernunft zu bringen. Eine „Internationale Koalition zur Beendigung des Völkermordes in Palästina”, die erst kürzlich gegründet wurde und schon von über 600 Gruppen in aller Welt unterstützt wird, rief dazu auf, Südafrikas Klage zu unterstützen. Sie schreibt: „Interventions-Erklärungen zur Unterstützung von Südafrikas Berufung auf die Völkermordkonvention gegen Israel werden die Wahrscheinlichkeit erhöhen, daß eine Bestätigung des Verbrechens des Völkermordes von den Vereinten Nationen durchgesetzt wird, damit Maßnahmen ergriffen werden, um alle Völkermordhandlungen zu beenden und die für diese Handlungen Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.“

In den USA hat eine Koalition von Amerikanern, die sich als „Basisdiplomaten“ verstehen, Dutzende von Konsulaten, Botschaften und UN-Delegationen besucht und aufgefordert, dem mutigen Beispiel Südafrikas zu folgen und „Interventionserklärungen“ gegen den Völkermord abzugeben. Melissa Garriga von der Friedensorganisation CODEPINK berichtete in LA Progressive über diese umfangreiche Mobilisierung in den Vereinigten Staaten. Sie beschrieb Aktivitäten des Bündnisses von Friedensgruppen, darunter CODEPINK, World Beyond War und RootsAction, die mit Delegationen in Großstädten „UN-Vertretungen, Botschaften und Konsulate aus aller Welt kontaktieren und die Länder dringend auffordern, die Völkermordkonvention beim gerichtlichen Arm der Vereinten Nationen, dem IGH, geltend zu machen“. Bislang haben die Türkei, Malaysia, die Slowakei und Bolivien ihre öffentliche Unterstützung für die Klage Südafrikas angekündigt, und Jordanien will eine Interventionserklärung zur Unterstützung der Klage abgeben.

Das Bündnis konnte in kurzer Zeit über 30.000 Unterschriften für seine Petition sammeln, und es wurden weit über 100.000 Schreiben (118.290 bei der letzten Zählung) an offizielle Vertreter verschiedener Länder geschickt. Die Aktivisten bezeichnen sich selbst als „Basisdiplomaten“, weil sie dem Schaden entgegenwirken wollen, den die offizielle US-Diplomatie anrichtet. Garriga merkt an: „Die Vereinigten Staaten haben die Ukraine letztes Jahr dabei unterstützt, sich vor dem Internationalen Gerichtshof auf die Völkermordkonvention zu berufen, und das mit weit weniger Beweisen.“ Garriga konnte einige Erfolge in verschiedenen US-Großstädten vorstellen, und sie rief zu weiterer Unterstützung auf: „Es ist an der Zeit, sich auf die Völkermordkonvention zu berufen.“

alh


Anmerkung

1. Den Mitschnitt der Verhandlung (Englisch) finden Sie im Videoarchiv der Vereinten Nationen unter https://webtv.un.org/en/asset/k11/k11gf661b3