December 2003 Dialog der Kulturen (Texte)

Deutschland im Spiegel Indiens

Eine Momentaufnahme aus Wissenschaft, Wirtschaft und Poesie

Während der deutsch-indischen Woche in Berlin zeigten die Inder den Deutschen deutlichen Wissenschaftsoptimismus.


Raumfahrtnation Indien
Wissenschaft in Indien - Vorbild für Deutschland

Kunst provoziert zum Denken

Goethe und Tagore

Sich im Spiegel anderer Nationen zu betrachten, ist häufig sehr heilsam - wir erfahren, was man über uns denkt, und manchmal sagen uns die "anderen" präzise oder poetisch, wer wir sind. In diesem Sinne wirkten einige Begegnungen auf der vierten Asien-Pazifik-Woche in Berlin wie ein großer Parabolspiegel.

Auf einer Konferenz zur deutsch-indischen Raumfahrtkooperation in der indischen Botschaft traf ich einen indischen Wissenschaftler, der für die dortige Raumfahrtforschungsorganisation arbeitet. Im Verlaufe unseres Gespräches faßte er Mut und sagte: "Ich vergleiche die Lage in Deutschland heute mit der Kulturrevolution in China!" Dieser vornehme, freundliche indische Wissenschaftler hatte genau ins Schwarze getroffen. Er hatte einen Tag zuvor erlebt, wie im Rahmen der deutsch-indischen Wissenschaftskooperation viele bereits gemeinsam geplante Projekte gestrichen worden waren, weil "die Deutschen kein Geld mehr haben"! Der Raumfahrtwissenschaftler lächelte mitleidig: In Indien gebe es solche Probleme nicht, dort habe die Wissenschaft Priorität und das Budget dafür steige Jahr für Jahr. Er wußte natürlich, daß der Rückgang wissenschaftlicher Investitionen in Deutschland nicht nur die Folge aktueller Haushaltskrisen ist, sondern tiefere Ursachen hat, z.B. den lange vorbereiteten Ausstieg aus der Kernenergie, durch den eine ganze Generation von Wissenschaftlern im Bereich der Nuklearphysik bald fehlen wird.

Hier wollte er mit dem Vergleich zum China der 60er und 70er Jahre uns Deutschen Mut machen: "Nach zehn Jahren haben die Chinesen gemerkt, welchen fatalen Fehler sie gemacht hatten. Und so begannen sie umzusteuern und konzentrierten sich wieder auf die Förderung der Wissenschaften. Ich bin überzeugt, daß auch in Deutschland bald die Umkehr erfolgen wird." Ich konnte mir die Bemerkung nicht verkneifen, wir hätten noch immer Maoisten in unserer Regierung. Er wollte natürlich höflich bleiben und sich nicht in unsere inneren Angelegenheiten einmischen, und so sagte er abschließend nur: "Wissen Sie, was das Problem ist? Die Deutschen betrachten Weltraumfahrt als Spielerei und Luxus, für uns ist es eine Überlebensfrage!"

Erneut hatte er es Schwarze getroffen - und wir sollten uns schämen! Nein, wir sollten endlich handeln, wir sollten die Verfechter unserer Kulturrevolution, die Apologeten der Spaßgesellschaft, im Grunde die überwiegende Mehrheit der politischen Klasse in diesem Land in die Frührente oder Langzeitarbeitslosigkeit schicken. Das hätte den pädagogisch wertvollen Nebeneffekt, daß die Theoretiker sozialen Kahlschlags die Auswirkungen der Agenda 2010 und ähnlicher Grausamkeiten an der eigenen Person viel anschaulicher studieren könnten als in allen Arbeitspapieren der Welt. Unsere junge Generation muß endlich aufstehen und diesem Irrsinn der Zerschlagung von Wissenschaft und Technik und damit dem dramatischen Verlust und der Verweigerung von Bildung Einhalt gebieten!

Raumfahrtnation Indien

Der oben zitierte Dialog mit dem indischen Raumfahrtwissenschaftler fand am Rande der Konferenz in der indischen Botschaft statt. Auch im offiziellen Teil dieser Konferenz wurde die deutsche Misere mehrfach artikuliert. Prof. Briess von der TU Berlin berichtete von der konkreten deutsch-indischen Zusammenarbeit auf dem Gebiete der Raumfahrt. Beim letzten großen gemeinsamen Satellitenprojekt konnten die in Berlin gefertigten Teile nur deshalb rechtzeitig zum indischen Raumfahrtzentrum geliefert werden, weil indische Wissenschaftler zweimal als Feuerwehr nach Berlin eingeflogen wurden und hier in einem Crash-Programm das ganze Projekt retteten.

Der indische Botschafter Rangachari ist ein hochsensibler Diplomat, dessen feingliedrig eingeflochtene Kritik an der deutschen Seite eigentlich ein vernichtendes Urteil beinhalteten: Zunächst erinnerte er zwar an die Geschichte äußerst enger geistig-politischer Kontakte zwischen beiden Ländern, wobei er als Beispiel die Zusammenarbeit der großen Naturwissenschaftler Bose und Einstein sowie die tiefe Freundschaft zwischen Jawaharlal Nehru und Konrad Adenauer nannte.

Seit 30 Jahren gebe es nun eine deutsch-indische Kooperation im Bereich der Raumfahrt. Aber: "Ich bin immer wieder überrascht, daß so viele Deutsche überrascht sind, wenn sie hören, daß Indien zu den sechs Nationen auf der Welt gehört, die Satelliten oder Raketen in den Weltraum befördern können." Der Botschafter wandte sich deutlich gegen eine Politik der Technologieverweigerung gegenüber Indien, an der sich leider auch Deutschland öfters beteiligt habe.

Ebenso zeigte der indische Staatssekretär Ramamurthy auf die Schwachstelle der Deutschen, die häufig immer noch glauben, sie seien die Größten und scheinbar gar nicht mitbekomnmen haben, daß die Welt da draußen sie schon gar nicht mehr ernst nimmt - man könnte dies auch das "Amerika-Syndrom" nennen. Prof. Ramamurthy machte selbstbewußt deutlich, daß sich seit dem Beginn der technischen Zusammenarbeit mit Deutschland das Verhältnis zwischen Gebern und Empfängern deutlich verschoben habe.

Er war Diplomat genug, nicht zu sagen, daß es sich umgekehrt hat. Aber wahrscheinlich hatte er auch schon einige der deutschen Windräder gesehen - jedenfalls traf seine folgende Bemerkung den Kern der deutschen ideologischen Verirrung: "Die einzige erneuerbare Ressource in der Welt ist der menschliche Geist ...", und sehr weise fügte er hinzu, wie das Wissen sich rapide vermehren könne: "Sie können zwei Wissenschaftler in einen Raum sperren, und sie werden sicher ein gutes Ergebnis ihres wissenschaftlichen Dialogs hervorbringen - aber wir werden ein ungleich besseres Resultat erhalten, wenn wir einen Wissenschaftler und einen Studenten zusammenbringen. Denn der Student weiß noch nicht, was nicht geht - und so stellt er unbefangen die fruchtbarsten Fragen, die dann zu neuen Problemlösungen führen!" Dies ist ein weiser Gedanke, der all denen ins Stammbuch geschrieben sei, die jung und alt zu beider Seiten Schaden in der wissenschaftlichen oder politischen Arbeit voneinander zu isolieren versuchen.

Wissenschaft in Indien - Vorbild für Deutschland

Warum ist für Indien die Weltraumfahrt eine Überlebensfrage? Wofür braucht Indien Weltraumfahrt, haben sie nicht genug zu tun mit der Bekämpfung der Armut? So fragen viele Deutsche. Nun, Weltraumfahrt ist ein wesentlicher Beitrag zur Armutsbekämpfung! Zum einen direkt dadurch, daß z.B. durch Satelliten in Trockengebieten Indiens viele unterirdische Wasserressourcen entdeckt wurden, wodurch die Erschließung großer Areale zur landwirtschaftlichen Nutzung möglich wurde. Und während vor 30 Jahren noch akuter Hunger in Indien herrschte, kann das Land heute für 6 Mrd. Dollar Nahrungsmittel exportieren! Zum anderen indirekt dadurch, daß eine allgemeine Wissenschaftsorientierung langfristig die Produktivität der Wirtschaft anheben wird. So will Indien im Jahre 2006 eine Mission zur kompletten Umrundung des Mondes starten und damit zum ersten Mal den Mond kartographisch vollständig erfassen.

Aus Prof. Streffer, dem Koordinator für Wissenschaft und Technologie zwischen Deutschland und Indien, sprach denn auch leichter Neid auf seine indischen Kollegen: "Sie können problemlos ihrer Forschungsarbeit nachgehen, denn die finanzielle und politische Unterstützung ist ihnen sicher! Tatsächlich ist das Budget für Raumfahrt in Indien in den letzten fünf Jahren verdoppelt worden." Und er klagte, daß die Projekte im Rahmen des indisch-deutschen Komitees für Wissenschaft und Technologie wegen der deutschen Krise in diesem Jahr zum ersten Mal stark rückläufig sind.

Alles in allem ergibt also sich ein düsteres Bild für die Deutschen. Deswegen wiederholen wir eindringlich den Appell an die junge Generation: Steht auf, nehmt die Zukunft selbst in die Hand - das bedeutet aber den selbstlosen Einsatz für den Aufbau einer Zivilisation, in der Wissenschaft, technologische Weiterentwicklung und das höchste Humanitätsideal zusammengehen. Anderenfalls müßten die heute 18-20 Jährigen ihr Leben wohl tatsächlich als moderne Tagelöhner oder Saisonarbeiter fristen - der Vergleich zur chinesischen Kulturrevolution wird dann sehr plastisch.

Kunst provoziert zum Denken

Was aber hindert junge Leute daran, die Welt neu aufzubauen und sich zu Visionen zu bekennen und für Ideale einzustehen? Es mag vielleicht Ohnmacht, Angst oder Gleichgültigkeit sein, oder es hat ihnen nur noch niemand gesagt, wie reich der Mensch an Empfindungen, Freude und schöpferischer Energie werden kann, wenn er sich aus der Abhängigkeit reiner Sinnenfreuden ins Reich der Ideen erhebt. "Aber flüchtet aus der Sinne Schranken in die Freiheit der Gedanken, und die Furchterscheinung ist entflohen ..." - so hieß es schon bei Friedrich Schiller vor 200 Jahren in seinem Gedicht Das Ideal und das Leben.

Auch Goethe half, den Menschen aus Bedrückung und Verzagtheit aufzurichten. In seiner Paria-Trilogie dichtete er: "Wer sich mit gelähmten Gliedern, sich mit wild zerstörtem Geiste, düster ohne Hülf und Rettung ... mit dem Blick nach oben kehrt, wird's empfinden, wird's erfahren: dort erglühen tausend Augen, ruhend lauschen tausend Ohren, denen nichts verborgen bleibt." Goethe war zu diesem Gedicht durch die klassische Dichtung des indischen Altertums inspiriert worden.

Lassen wir uns doch auch wie Goethe inspirieren. Schauen wir also in den indischen Spiegel, und wir entdecken uns selbst in faszinierender Weise im Widerschein der vielfachen Begegnungen deutscher und indischer Kunst. Viele öffentliche Veranstaltungen während der Asien-Pazifik-Wochen gaben zu dieser Entdeckung Gelegenheit. Zum einen wollen wir hier die Eröffnung der bemerkenswerten Ausstellung im Museum für indische Kunst unter dem Thema "Anmut und Askese" nennen. Aus drei der größten indischen Museen sind 39 Skulpturen für vier Monate in Berlin zu sehen, die aus dem nordindischen Matura der frühen Gupta-Periode stammen.

Die Bedeutung dieser "anmutig-asketischen" Figuren wurde in ergreifenden Worten von der Museumsdirektorin Frau Prof. Marianne Yaldiz dem Publikum erläutert. Matura war die Stadt der Götter, in der sich nicht nur die Handelsstraßen in den ersten Jahrhunderten nach Christi kreuzten, sondern im Gefolge der Händler auch die Pilger zusammenströmten.

Und so entstand an diesem Ort eine Bildhauerwerkstatt, die für alle drei damals friedlich zusammenlebenden Religionen göttliche Statuen "produzierte" - für Buddhisten, Hinduisten und Jinisten. Es heißt, Krishna sei in Matura geboren und Buddha habe hier Tempel und Klöster erbaut.

"Die Idee dieser Bildhauer war es, daß Kunst zwischen dem Menschlichen und Göttlichen vermitteln sollte", so Prof. Yaldiz. Und weiter: "Ziel der Kunst war es, zum Denken zu provozieren und den Betrachter so zu transformieren, daß er eins werde mit dem Künstler und die künstlerische Erfahrung mit ihm teilen könne. Es ging also darum, die Augen des Betrachters zu erziehen - er sollte den philosophischen Standpunkt des selbstlosen Aktes künstlerischen Schaffens nacherleben." Diese Worte reflektierten die Ideen der klassischen Ästhetik. Und so, wie die Kunstwerke der indischen klassischen Renaissance aus der Gupta-Periode in einem Umfeld der friedlichen religiösen Ökumene gewachsen waren, so zeigen die hier zitierten Ausführungen das Vermögen der Kunst, das Gemeinsame, universell Verbindende in verschiedenen Kulturen neu zu entdecken.

Goethe und Tagore

Derselben Intention war ein Abend im Berliner Literaturhaus gewidmet, der sich mit der Beziehung des indischen Dichters Tagore zu Goethe beschäftigte. Einst war es Goethe, der die indische Poesie zu bewundern begann. Er stimmte mit Schiller überein, daß eines der schönsten Werke indischer klassischer Poesie Shakuntala von Kalidasa "Dichtung in höchster Vollendung ... eine Darstellung feinster Lebensweise und der würdigsten Möglichkeit ernstester Gottesverehrung" war. Goethe schrieb die oben erwähnte Paria-Trilogie nicht zuletzt, um die motivische Nähe dieser indischen Sage zur christlichen Überlieferung der Leiden Marias mitzuteilen.

Tagore rief 100 Jahre später aus: "So wie Goethe eines Schillers bedurfte, bedürfen wir heute eines Goethe!" Dieser berühmteste indische Dichter des 19. Jahrhunderts vertiefte sich in psychologische Vergleiche zwischen Goethe, Petrarca und Dante! Er war zutiefst bewegt von Goethes Sehnsucht nach Indien, welches dieser als "Prophet der Menschheitskultur" ansah; die geistige Aneignung indischen Denkens und Dichtens würde uns nach Goethes Ansicht die Zusammengehörigkeit der Menschheit erleben lassen. Der Gedanke ist bewegend, wie unsere klassischen Dichter Indien als poetische Offenbarung entdeckten, und wie dies 100 Jahre später die indische Poesie mit der Erschließung deutscher und europäischer Klassiker dankte.

Kommen wir hier zu den drängenden Aufgaben, die vor uns liegen: Es wäre alles ganz einfach, wenn wir alle dächten und fühlten wie Dichter. Auch dies hat die heutige Jugend in ihren Händen, daß zumindest in einigen Generationen ein solcher Gedanke nicht mehr weltfremd erscheint, sondern Wirklichkeit wird. Die Wissenschaft und die Poesie sind es, die den Menschen unterschiedlicher Kulturen beweisen, daß wir eine Menschheitskultur besitzen, auch wenn wir in tausend Sprachen reden. Die richtigen volkswirtschaftlichen Entscheidungen sollten wir daher vielleicht Poeten und Wissenschaftlern übertragen, denn eine Wirtschaft aufzubauen, die dem Allgemeinwohl dient, ist ein ebensolches Kunstwerk wie der Bau der politischen Freiheit.

Eines sollten wir nüchtern zur Kenntnis nehmen: Deutschland wird diesen klassischen Weg, auf dem Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst aus den gleichen humanistischen Prinzipien entwickelt wird, erst wieder durch den ehrlichen Dialog mit anderen Völkern finden. Indien wird dabei unter den ersten Freunden seinen Platz haben.

Frank Hahn


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